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V
Der
c
Pitaval der Gegenwart.
Almanaek
interessanter Straffälle.
Herausgegeben von
l>r. K. Frank l)r. G. Boscher
Professor in Tübingen. Polizeidirektor in Hamborg.
Dr. H. Schmidt
Reichsgerichtsrat in Leipzig.
IT. Band.
Tübingen
Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck)
1908.
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Alle Rechte Vorbehalten.
slp x 6 idia
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Inhaltsverzeichnis.
Seite
Das Haberfeldtreiben. Von Reichsgerichts rat Grimm in Leipzig
1
DerGatte als Totschläger. Von ev. Zuchthausgeistlichen A.Bertsch,
Pfarrer in Ludwigsburg
61
Brandstiftungen einer Hysterischen. Von Staatsanwalt Oskar Held
in München .
7f>
Müller Thomas lind seine Familie. Von Staatsanwalt Dr. Schneider
in Mainz ... . .
1 15
Der Lustmiirder Dittrich. Von Staatsanwalt Breudler in Dresden
166
Fall Ziegler. Ein Diebstahl aus Aberglauben. Von Dr. Albert
Hellwig in Berlin-Hermsdorf
Anonyme Briefe. Von Amtsrichter Dr. Weidlich, Stuttgart-
Cannstatt,
??7
Erregung von Aberglauben und Furcht als Mittel zur Verbrechens-
verübung. Von Staatsanwalt Dr. Adolf Bechmann in München 266
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Das Haberfeldtreiben.
Von
Reichsgerichtsrat Grimm in Leipzig.
1896 und 1897 haben an dem Schwurgerichte München,
den Landgerichten München II und Traunstein eine Reihe
von Strafverhandlungen stattgefunden, die unter dem Namen
„Habererprozesse“ bekannt wurden und größeres Aufsehen
erregten.
Nicht nur die Tagespresse berichtete eingehend über
dieselben, sie waren auch Gegenstand einer zweitägigen
Verhandlung in der Bayerischen Abgeordnetenkammer —
vergl. Stenographische Berichte der Landtagssession 1897/8
Band 9 Seite 825 ff. Damals hat ein Regierungskom-
missar im wesentlichen die Ergebnisse der Prozesse auf
Grund der Strafakten vorgetragen. In den Verhand-
lungen kam allgemein die Ansicht zum Ausdruck, daß
die Haberfeldtreiben, so wie sie in den Prozessen zu
Tage getreten waren, nicht zu verteidigen seien, und
daß die Verurteilungen zu Recht erfolgten, wenn auch
mehrfach die Meinung geäußert wurde, die Strafen seien
zu hoch gewesen. Namentlich waren die Abgeordneten,
die entweder im Bayerischen Oberlande wohnten oder sich
längere Zeit dort aufgehalten hatten, darüber einig, daß
die bestehende Unsitte zu unterdrücken sei. Eine Ausnahme
machte nur der Abgeordnete und Redakteur des r Bayerischen
Vaterlandes“ Dr. Sigl.
Mit Bekämpfung der alten Unsitte war schon lange
begonnen worden.
Der Pitaval der Gegenwart IV. 1
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2
Grimm.
Von Seiten der staatlichen und kirchlichen Behörden
hatte man jahrzehntelang vorher gemahnt und gestraft,
leider vergebens. Im Herbste jeden Jahres um die Zeit
der Treiben erließen die zuständigen Verwaltungsbehörden
Mahnschreiben an die Gemeinden, die in den Gemeinde-
versammlungen verlesen wurden, die Gendarmerieposten
im Oberlande wurden vermehrt und verstärkt, und in
einzelne Gemeinden, in deren Bezirk trotzdem getrieben
wurde, Strafeinquartierung gelegt und zwar nicht nur in
den letzten Jahrzehnten, sondern schon vor 1832, wie die
angezogenen Verordnungen beweisen. Die katholische
Kirche hatte nicht minder gegen die Haberfeldtreiben
Stellung genommen; der Erzbischof von München-Freising
hat nach vielen vorhergegangenen Mahnungen und Ver-
warnungen unterm 8. November 1863 — es war dies die
unmittelbare Folge eines Haberfeldtreibens bei Tegernsee,
bei dem Gendarmen erschossen wurden, — einen in allen
Kirchen der Erzdiözese öfters verlesenen Hirtenbrief erlassen
und im Ordinariatserlasse vom 16. Februar 1866 den
größeren Kirchenbann allen Anstiftern und Teilnehmern
am Haberfeldtreiben angedroht und diesen größeren
Kirchenbann im Hirtenbriefe vom 30. Oktober 1866 ver-
hängt. In diesem Hirtenbriefe ist das Haberfeldtreiben ein
Verbrechen genannt, »das, indem es nicht nur Zucht- und
Ehrbarkeit verletze und Eigentum und Leben bedrohe,
sondern auch im hartnäckigen Trotze gegen die von Gott
gesetzte Obrigkeit sich auflehne und insbesondere der fort-
während erneuten Mahnungen und Bitten des Oberhirten
beharrlichen Ungehorsam entgegensetze, die Grundpfeiler
der christlichen Gesellschaft anzugreifen sich erdreiste*.
Ein weiterer erzbischöflicher Hirtenbrief vom 17.
Oktober 1893 — anschließend an das Treiben bei Miesbach
am 7./8. Oktober 1893 — nennt das Haberfeldtreiben eine
Schmach des Bayerischen Oberlandes, die unter anderem
Verleumdung, Jugendverführung und Meineid im Gefolge
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Das Haberfeldtreiben.
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habe, und wiederholt die Verhängung des größeren
Kirchenbannes.
Die gegebene Charakteristik ist berechtigt
Der sog. Habererbezirk ist begrenzt südlich durch die
Bayerische I^andesgrenze, östlich und westlich durch den
Inn und die Isar, nördlich durch die Bahnlinie München —
Grafing — Ebersberg — Wasserburg. Er soll sich früher weiter
erstreckt haben, nördlich bis Erding, westlich bis Weilheim-
Murnau, östlich bis an den Chiemsee. In den vierziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts soll bei Schwaben — Amtsgericht
Erding — getrieben und durch das energische Vorgehen der
Gendarmeriemannschaft sollen 2 „Haberer“ festgenommen
worden sein, die zu Gefängnisstrafen von je 4 Jahren ver-
urteilt wurden.
Der Habererbezirk gehört fast ausschließlich zum
jetzigen Landgerichtsbezirke München II. Alljährlich liefen
dort eine Reihe von Anzeigen über Haberfeldtreiben, Ein-
schießen in menschliche Wohnungen zur Nachtzeit, Er-
schießen von Tieren im Stalle, nächtliche Mißhandlungen
von Personen usw. ein, deren Täter unverkennbar unter
den Haberern zu suchen waren, die aber trotz der eifrigsten
Nachforschungen unentdeekt blieben. Man hatte in den
meisten Fällen begründeten Verdacht, wer die Täter waren,
es fehlte aber die Möglichkeit, dieselben zu überführen, da
sich keine Belastungs-, wohl aber Entlastungszeugen in
reichlicher Menge fanden. So verliefen alle Untersuchungen
und Strafverfahren bis 1894 resultatlos.
Als im Frühjahre 1896 die Überführung einer großen
Anzahl Teilnehmer am Haberfeldtreiben gelang, war die
Folge, daß auch eine große Reihe grober Gewalttätigkeiten
und Meineide nachgewiesen werden konnte.
Die Abhandlung soll enthalten:
1. zur Geschichte und Organisation des Habererbundes,
2. Haberermeister und Vertrauensmänner,
3. Schilderung zweier Haberfeldtreiben,
i*
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4
Grimm.
4. Begleitumstände der Treiben,
5. Strafen.
1. Zur Geschickte u. Organisation des Habererbundes.
Über die Entstehung und Geschichte des Habererbundes
und der Treiben haben die Strafverhandlungen kein richtiges
Ergebnis gehabt Das war ja auch nicht deren Zweck.
Gelegentliche Befragungen der hervorragenderen Teilnehmer
ergaben aber, daß unter ihnen auch keine Klarheit besteht.
Die einen führen das Haberfeldtreiben auf Karl den Großen,
die anderen auf die Femgerichte zurück. Namentlich
Haberer aus dem Tegemseer Gebiete, von denen sich die
Zuverlässigsten und Versessensten die „Totengarde des
Femgerichtes der Haberer“ nannten, erachten das Habern
als Fortsetzung der Femgerichte.
Für die Jahre nach 1876 sind die Schilderungen, die
beispielsweise in dem 1860 erschienenen Werke »Bavaria,
Landes- und Volkskunde des Königreichs Bayern, Ober-
und Niederbayem« (Band 1, Abt. I S. 420) enthalten sind
und die die Haberer als „Sittenrichter“ preisen, unzutreffend.
Zu den ersten Verhandlungen gegen Haberer 1894/5
wurden als Sachverständige von Seite der Verteidigung
Schriftsteller beigezogen, die über das Habbrfeldtreiben
geschrieben hatten. Sie beriefen sich im wesentlichen auf
das erwähnte Werk „Bavaria“ und »Schmeller, Volksbuch«.
Alle kannten die Verordnung vom 17. April 1833, die das
Halberfeldtreiben unter gewissen Voraussetzungen gestattete,
die diese Verordnung widerrufende Kgl. Verordnung vom
31. Juli 1834 war ihnen unbekannt Die gleiche Er-
scheinung trat in den Landtagsverhandlungen 1897 zu Tage.
Denselben Irrtum enthält eine Arbeit von Georg Queri
»Das Ende des oberbayerischen Habererbundes«, erschienen
anfangs 1907 in Velhagen und Klasing’s Monatsheften, in
der leider noch viele weitere tatsächliche Unrichtigkeiten
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Das Haberfeldtreiben.
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enthalten sind. Nach den Landtagsverhandlungen von 1897
sollte ein solcher Irrtum ausgeschlossen sein. Doch ist
mit der Querischen Veröffentlichung anzunehmen, daß der
Habererbund in der Miesbacher Gegend und zwar in der
früheren Grafschaft Hohen waldeck entstanden ist. Wann,
ist nicht festzustellen. Man hat auch die Ansicht vertreten,
daß das Habern erst nach der Reformation, die in der
Gegend von Miesbach unter dem Schutze der Grafen von
Hohenwaldeck Anhänger hatte, entstanden sei. Es ist als
sicher anzunehmen, daß ein Teil der Vaterlandsverteidiger
in der Mordnacht von Sendling 1705 Haberer waren.
Ihre Organisation machte das Aufgebot leicht ausführbar.
Da aber auch die Niederbayern sich erhoben, ist jedenfalls
die Annahme zurückzuweisen, daß die damals versuchte Be-
freiung Bayerns vom Österreichischen Joche dem Haberer-
bunde vorzugsweise zu gut zu rechnen sei. In früheren
Zeiten sollen Geistliche Haberfeldmeister gewesen sein, so
noch 1830. Daß zu jener Zeit die Haberer hohe Für-
sprecher hatten, ergibt die kgl. Verordnung vom 17. April
1833 (Döllinger, Bayerische Verordnungensammlungen,
Band 13, S. 1424/5), daß aber der Schutz nicht anhielt,
die Verordnung vom 31. Juli 1834. Des später erfolgten
Einschreitens der Kirchenbehörden ist bereits gedacht Es
hatte Wirkung, denn von 1866 — 1876 ist nicht getrieben
worden, wenigstens ist keine Abschrift eines Haberfeld-
treibens aus dieser Zeit den Gerichten bekannt geworden.
Für die Unterbrechung spricht auch der Umstand, daß das
Haberfeldtreiben vom 17. Dezember 1876 bei Hinterberg,
Bez. A. Miesbach, mit den Worten beginnt:
»Jatz paßts auf, wos enk jetzt sog, dös iß alles ganz
gewiß:
Zwölf Jahr ist jatz hä (her) daß Hoberfehi (Haberfeld)
o komma (abkommen) iß.
Heut iß da Kaisa Karl von Unterschberg Do mit seine
Leut,
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Grimm.
Dä laßt enk durch sein Hobafehimoaschta Dr. Ratzinga ')
song (sagen), was da oi (all) fürö Huanstingl geit.«
In den verschiedenen Gerichtsakten des Landgerichtes
München II liegen die Texte von folgenden Haberfeld-
treiben bei:
Hinterberg Bez. A. Miesbach 17. Dez. 1876.
Ellbach Bez. A. Tölz 5./6. Jan. 1883.
Moosach bei Kirchseon 3./4. Febr. 1883.
Gießhof bei Miesbaeh 1. Nov. 1883.
Dietramszell 30./31. Okt. 1886 (das erste im Druck er-
schienene).
Piesenkam 10./12. Okt. 1890.
Schliersee 24./25. Okt. 1891.
Egmating A. G. Aibling 24./25. Sept. 1892.
Gotting A. G. Aibling 30./31. Okt. 1892.
Tegernsee 12./13. Nov. 1892.
Harthausen bei München 19./20. Nov. 1892.
Valley 16./17. Sept. 1893.
Miesbach 7./8. Okt. 1893.
Erlach und Steingau Bez. A. München II 31. Okt
1. Nov. 1894.
Gaissach bei Tölz 9./10. Nov. 1894.
Greiling Bez. A. Tölz 14./15. Sept. 1895.
Aying Bez. A. München II 21./22. Sept. 1895.
Sauerlach Bez. A. München II 26./27. Okt. 1895.
Steinhöring Bez. A. Ebersberg in der gleichen Nacht
Neben diesen befinden sich in den Gerichtsakten noch
Texte zu beabsichtigten Treiben, so für ein solches bei Ober-
warngau, Bez. A. Miesbach, Höhenkirchen, Bez. A. München
und Glonn, Bez. A. Ebersberg. Sie wurden hauptsächlich
bei den Haussuchungen beim Daxer in Wall, im Wendlan-
wesen in Festenbach und in einem Bauernanwesen bei
Glonn gefunden. Diese Texte bieten wohl die Möglichkeit
1) Der bekannte Bayrische Landtagsabgeordnete Dr. Ratzinger
hatte selbstverständlich mit den Haberem nichts zu tun.
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Das Haberfeldtreiben.
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eines abschließenden Urteils über den Inhalt und den Wert
der Haberfeldtreiben. Daraus ergibt sich, daß jährlich
etwa 5 Haberfeldtreiben vorzugsweise in den Monaten
September, Oktober und November stattfanden, und zwar
entweder in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag, oder
vor einem Feiertage. Nur so war die Teilnahme den
Arbeitern und Dienstknechten möglich, die oft bis 4 Stunden
von ihrem Wohnorte zum Treibplatze hatten, und ganze
Nächte marschieren mußten. Es wurden nicht zu helle
Nächte gewählt, und Voraussetzung war, daß der Treibplatz
schneefrei, aber trocken war, um alle Spuren zu vermeiden.
Unbestreitbar war die Wirkung der staatlichen und
der kirchlichen Erlasse dahin, daß sich die besseren Ele-
mente, namentlich die Bauernschaft, seit 1876 vom Haberfeld-
treiben zurückzogen. 1 ) Die Haberer 1891 — 1895 waren
nur zum Teil neugierige, unerfahrene, leichtsinnige Bauern-
burschen, zum überwiegenden Teile aber Arbeiter aus den
Fabriken und Taglöhner, darunter fast alle vorbestraften
Elemente aus diesen Gegenden, namentlich auch solche,
denen bereits getrieben war, die nun aus Schadenfreude
und zur Sicherung gegen weitere Belästigungen mitgingen
und, was besonders beachtenswert, Wilderer, die in München
Unterschlupf hatten, und deren Hehler.
Nach den Personalangaben in denUrteilen machten mit:
a) Das Treiben in Sauerlach in der Nacht vom *26./27.
Okt 95
17 Bauern und Bauernsöhne,
20 Dienstknechte,
15 Arbeiter,
1) Der Grund, warum die Kirehenstrafcn nicht nachhaltiger in
dem gut katholischen Habererbezirko wirkten, soll darin gelegen
haben, daß die Haberer zur Oster-Beichte nicht mehr zu den Welt-
geistlichen, sondern zu Klostergeistlichen gingen. Diese sollen der
bischöflichen Jurisdiktion nicht unterstehen und namentlich für die
Absolution von Sünden Ausnahmsreehtc haben. Die Richtigkeit
dieser von Haberem herrührenden Angaben mag dahin gestellt sein.
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8
Grimm.
dann 3 Personen, die notorisch vom Wildern lebten und
deren Hehler ; davon 1 5 noch nicht vorbestraft, 40 teilweise
erheblich vorbestraft
b) Das Treiben von Miesbach in der Nacht vom 7./8.
Oktober 1893.
31 Bauern, Bauern- und Haussöhne,
6 Handwerksmeister,
10 Bauemkneehte,
48 Fabrikarbeiter, Bergleute, Taglöhner,
darunter 52 bisher wegen Verbrechen oder Vergehen nicht
vorbestraft, 43 vorbestraft, endlich 30 verheiratet, 65 ledig
und 58 unter 30 Jahren.
Am Haberfeldtreiben in Sauerlach war der Bürger-
meister von da beteiligt, in Miesbach trieb ein Gemeinde-
diener mit. Daraus erklärt sich, wie schwer es den
Behörden und der Gendarmerie gemacht wurde, Nach-
forschungen nach den Beteiligten anzustellen.
Die Ziffern ergeben unwiderleglich, daß an dem Treiben
nicht der bessere Teil der Bevölkerung beteiligt war.
Obwohl mehr als 500 Verurteilungen wegen Haberns er-
folgten, hat kein einziger Haberer zu seiner Verteidigung
vorgebracht, er habe Recht und Sitte schützen wollen.
Außer dem engeren Kreise der Veranstalter der Treiben
wußte niemand, wem und weswegen getrieben werde.
Ob die Schmähungen einen Grund hatten, darum kümmerten
sich auch die Veranstalter nicht.-
Für die Jugend hatte die Teilnahme einen erklärlichen
Reiz. Schon das Verbotene zog an, noch mehr das
Heimliche, Romantische und gerade die bei dem Gebirgs-
volke eingebürgerte Sitte, Theater zu spielen, und die hierfür
vorhandene Befähigung, was die Schliereeer und Tegernseer
Bauerntheater beweisen. Mit Behagen erzählten jugendliche
Haberer, wie schön es doch war, vermummt mit falschen
Bärten und mit Masken vor dem Gesicht, etwa als Berg-
geist mit hohem breitrandigem sog. Stopselhute verkleidet.
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Das Haberfeldtreiben.
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mit einem Gewehre bewaffnet bei mondhellen Nächten
einherzuziehen, sich in malerischen Gruppen an einer
Berghalde zu lagern, erst flott zu zechen und dann zu
„treiben“, geschützt durch ausgestellte verlässige Vorposten.
Mit welch hämischer Freude beobachteten sie später, wie
die Sicherheitsorgane sich vergeblich abmühten, die Täter
zu erwischen, und nirgends sachgemäße Auskunft erhielten.
Nach dem Treiben in Sauerlach ordnete das Bezirksamt
vermehrte Sicherheitsnachtwachen in Sauerlach an. Der
Bürgermeister, der das Treiben angestiftet und bezahlt hatte,
gab Weisung, daß zuerst jene Personen Nachtwache halten
müßten, die mitgetrieben hatten. Diese verweigerten aber
den Dienst und das Bezirksamt, von dem Bürgermeister in
seinen Berichten getäuscht und so von der irrigen Meinung
ausgehend, daß die Angehörigen von Sauerlach nicht am
Treiben beteiligt seien, erließ die Nachtwachen, die zugleich
eine Strafe sein sollten.
Die Verhandlungen haben ergeben, daß ohne emsige
Mitwirkung der Bewohner des Ortes des Treibens letzteres
unmöglich ist. Die Ortbewohner müssen die Treiber heran-
bringen und sichern. Die Sicherungsaufgabe bestand darin,
sie vor Überraschungen durch unbeteiligte Ortseinwohner
oder sich im Dorfe aufhaltende Sicherheitsorgane zu behüten.
Machte, wie beispielsweise in Sauerlach, der Bürgermeister
selbst mit, dann war die Sache leicht Die Gendarmerie erhielt
am Abend vor dem Treiben die Mitteilung, daß in einem l‘/z
Stunde entfernten Dorfe verdächtige Personen aufgetaucht
seien. Hierdurch getäuscht, eilte die Gendarmeriemannschaft
dahin; inzwischen wurde in Sauerlach getrieben. In
gleicher Nacht wurde in Steinhöring, Bez.-A. Ebersberg
getrieben. Zwischen beiden Orten Sauerlach und Steinhöring,
von jedem je 3 Stunden entfernt, liegt Glonn bei Grafing.
Dorthin hatte der Bezirksamtmann von Ebersberg, dem
durch behördliche Vertrauensmänner mitgeteilt war, es
werde bei Glonn getrieben, seine gesamte Gendarmerie,
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10
Grimm.
12 Mann stark, zusammengezogen und sie im Gendarmerie-
lokale verwahrt. Die Ilaberer hatten damit eine völlige
Sicherheit für beide Treiben, namentlich für das von
Steinhöring erreicht. Glonn war für die Haberer die
örtliche Begrenzung ihrer Beteiligung, die westwärts
wohnenden zogen nach Sauerlach, die ost- und nordwärts
wohnenden nach Steinhöring. An beiden Orten, sowie auf
dem Heimwege waren sie vor Überraschungen gesichert.
Eine beliebte Art die Behörden zu täuschen bestand darin,
daß Plakate mit Androhung eines Haberfeldtreibens entfernt
vom eigentlichen Treiborte angeschlagen wurden, oder es
wurde bei irgend einem Wirte in geheimnisvoller Weise,
durch Briefe, unbekannte maskierte Personen Bier zur
Lieferung an irgend eine Stelle zur Nachtzeit bestellt u. a.
Die Ortseingesessenen hatten weiter dafür zu sorgen,
daß die Sturmglocke nicht ertönte, was regelmäßig durch
Verstopfen der Kirchentürenschlösser mit Sand und kleinen
Sternchen erreicht wurde und endlich Telegraphendrähte
abzuschneiden, damit nicht allzufrühe die Sache bekannt
wurde. Letzteres ist beispielsweise sowohl bei Sauerlach
als auch bei Steinhöring in der Treibnacht geschehen. Sie
hatten auch den Treibplatz und den letzten Versammlungsort
vor dem Treiben auszuwählen und das Bier zu liefern,
denn ohne gesunden Trunk ging die Sache nicht ab.
Das Heranbringen der Mannschaft war gleichfalls ihre
Sache. Diese traf sich an 1—2, oft 3 Stunden vom
Treiborte entfernten Plätzen, besonders Waldecken, einsamen
Stadeln, Wegkreuzungen, alten Kapellen. Von da holte
sie ein Ortsangehöriger ab und brachte sie zum letzten
Versammlungsorte in der Nähe des eigentlichen Treibplatzes.
Die Ortsangehörigen verliessen hier erst die Mannschaft und
stellten sich dann auf den Straßen im Orte zur Beobachtung
auf, sie verschafften sich einen Alibibeweis und besorgten
jetzt noch die Sicherung der Mannschaft. Dies war umso
nötiger, als sich bei den letzten Treiben eine Gepflogenheit
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Das Haberfeldtreiben.
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herausbildete, mit 6—10 Mann Musik voran durch einen Teil
der Ortschaft zu ziehen, was beispielsweise bei Sauerlach,
Aying, Steinhöring, Valley geschehen ist Es hatte deshalb
auch die ortseingesessene Bevölkerung keinen Zweifel, wer
getrieben hatte, d. h. von wem das Treiben veranstaltet
worden war. So sagte am Tage nach dem Treiben in Sauerlach
der dortige Beigeordnete zum Bürgermeister, daß das Treiben
von ihm ausgegangen sei und daß er sich hüten möge,
ihn, den Beigeordneten, durch Nachtwachen zu belästigen
und weiter zu verleumden. 1 )
2. Ilaberermeister und Vertrauensmänner.
Der geistige Leiter der Haberer von 1876 — 1894 war
Hans Vogl, Besitzer des Daxerhofes in der Gd.Wall (Bezirks-
amt Miesbach). Äußerlich eine stattliche Erscheinung, über
mittelgroß, breit, eine echte Gebirglernatur, mit flottem
Gemsbarte auf dem Hute, witzig, redegewandt, stolz auf
seinen schönen Bauernhof, den er mit Recht einen „Edelhof“
nannnte, wie er sich auch auf seinen Visitenkarten als
»Hans Vogl, Landwirt im Bayerischen Oberlande« be-
zeichnete. Weit und breit war der „Daxer“ bekannt und
weithin erstreckte sich sein unheilvoller Einfluß. Er ererbte
seinen ansehnlichen Hof von seinem Vater und es mag
zur Kennzeichnung, wessen man ihn für fähig hielt, er-
1) Die neuere Literatur, die mit Vorliebe Erzählungen aus den
Bayrischen Bergen bringt, trifft ein Teil der Schuld, daß die Haber-
feldtreiben nicht längst verschwunden sind. Alle Erzählungen über
die Haberfeldtreibeu enthalten Unwahrheiten und Übertreibungen.
So ist unwahr, daß das Habcrcrgericht sich aus dem besten Teile
der eingesessenen Bevölkerung zusammensetzt, daß jeder Vorwurf
erst genau untersucht werde, daß dem Treiben eine Verwarnung
vorausgehe, daß der Schuldige vor den Haberem erscheinen und die
Vorhalte anhören müsse, daß die Teilnehmer verlesen werden u. a. m.
Diese Erzählungen haben im Gebirge den Glauben unterhalten, das
Habem sei ein guter alter Gebrauch und der handle unrecht, der da-
wider ankämpfe.
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Grimm.
wähnt sein, daß man ihn verdächtigte, seinen Vater getötet
zu haben.
Treffend ist die Charakterzeichnung desselben in einem
schöffengerichtlichen Urteile vom 3. Oktober 1894: „Die
Bösartigkeit dieses allgemein gefürchteten und nun auch
wohl verachteten Mannes, der so oft bestraft wurde und
vielleicht noch viel öfter der Strafe entgangen ist“ usw.
Auf seinem Bauernhöfe betrieb Hans Vogl von 1880
ab eine Zeit lang eine Gastwirtschaft. Die Berechtigung
hierzu wurde ihm aber aus sittenpolizeilichen Gründen
entzogen. Das gab ihm Veranlassung zu den heftigsten
Angriffen auf die Behörden, die voller Beleidigungen
waren. Er trieb einen Handel mit Gummiwaren zu un-
züchtigen Zwecken und Unterzeichnete sich dem kgl. Bezirks-
amt Miesbach gegenüber als »Hans Vogl Candinashändler«.
Die Beleidigungen trugen ihm harte Strafen ein, darunter
eine sechsmonatige Gefängnisstrafe, die er in der Gefangenen-
anstalt zu laufen verbüßte. Nur verbitterter kehrte er
zurück. Zur Umgehung des Entzuges der Wirtschafts-
konzession gründete er einen „Bierverein“ e. G. und
sammelte die unreife Jugend um sich, die er durch grobe
Zoten unterhielt, wobei manche Unsittlichkeiten verübt
wurden, die hier nicht einmal angedeutet werden können. 1 )
Zu ihm zogen die ausübenden Haberermeister aus dem
ganzen Gebiete und erhielten Verhaltungsmaßregeln. Die
Texte zu den meisten Treiben wurden von ihm gefertigt
und bis zu seiner Verhaftung alle auf seine Veranlassung
in München gedruckt, als Druckort aber Zürich oder Bern
1) Unter a. wurden in der Hauptverhandlung vor dem Schwur-
gerichte folgende zu Schulkindern gemachte Äusserungen festgestellt:
„Wie ist es, Ihr Buben, tut« mit Euren Schulkamaradinnen schon
röllem, wenn Ihr von der Schule heimgeht? Wißt Ihr, was das
ist? Da müßt Ihr Wenn Ihr gute Springer werden
wollt, so müßt Ihr schon jetzt anfangen zu röllem.“ Zu Wall-
fahrerinnen äußerte er: man möge ihm . . . haare von der Mutter
Gottes mitbringen.
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Das Haberfeldtreiben.
13
angegeben. Er trieb mit ihnen einen schwunghaften Handel.
Die Teilnehmer am Treiben zahlten für das Exemplar
20—30 Pf., dritte Personen 1 Mark und mehr. Als anfangs
Mai 1896 in dem Daxerhofe eine gründliche Haussuchung
vorgenommen wurde, fand man im Fehlboden seines zweiten
Hauses Hunderte von Exemplaren der meisten vorerwähnten
Haberfeldtreiben. Hans Vogl hat die Texte willkürlich
geändert. Die gedruckten entsprachen denen, die bei den
Treiben verlesen wurden, nicht vollständig. Die ganze
Gegend wußte dies. Er war käuflich. So ist bekannt
geworden, daß bei einem Treiben einem reichen, jung-
verheirateten Manne ein Vorwurf aus seiner Junggesellenzeit
gemacht wurde. Im Interesse der Ruhe seiner jungen
Ehe wandte sich dieser Mann an den Daxer und zahlte,
soviel bekannt wurde, 20 Mk. Der Text des Treibens
erschien ohne den Vorwurf. Ein anderer Text enthielt
Vorkommnisse, die sich erst nach dem Treiben ereigneten.
Wo es nur irgend wie möglich war, suchte Hans Vogl
die staatlichen und kirchlichen Behörden zu verhöhnen und
zu verspotten. So auch die Personen, die ihm nicht zu-
stimmten, oder gar seinem Tun entgegentraten. Groß war er
in Erfindung von Spottnamen. Den Oberamtsrichter von
Miesbach nannte er nur den „Oberknecht“. Von ihm
rührt der Spruch her: „Wir im Oberlande haben immer
die dümmsten Beamten.“
Der gewandte Mann verstand sich vorzüglich auf das
Prozeßführen. Er drillte die Zeugen und half seinen
Günstlingen zum Siege. Bei ihm liefen die Fäden der
Haberer zusammen. Überall hatte er seine Vertrauensleute,
selbst Frauen stellten sich in seinen Dienst; so die
Besitzerin eines großen Gasthofes am Tegernsee, bei der
die Gendarmerie verkehrte. Bei der schon erwähnten
Haussuchung wurden Postkarten dieser Frau gefunden, die
über die Dienstgänge der Gendarmerie und deren Tüchtigkeit
Mitteilungen enthielten. Einige schlossen mit den Worten :
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Grimm.
„Sonst auf Posten nichts neues!“ Als im Oktober 1893
nach dem Miesbachcr Treiben der hierbei verwundete
Haberer verhaftet wurde, wurde im Daxeranwesen der
Verteidigungsplan geschmiedet, die Entlastungszeugen ge-
worben und das Geld für den Verteidiger gesammelt. Die
im Mai 1896 begonnenen Habereruntersuchungen hätten
kaum das günstige Resultat gehabt, wenn nicht Hans Vogl
seit Mitte September 1894 verhaftet gewesen wäre. Der
grob-sinnlich veranlagte Hans Vogl verging sich wiederholt
vor 1894 in einer nach § 176 Z. 1 und 2 und § 177 St
G.B. strafbaren Weise an der Frau und der geistesschwachen
Tochter seines Hofnachbarn. So groß war die Furcht vor
ihm, daß der Hofnachbar keine Anzeige erstattete. Erst
eine Zeitungsnotiz veranlaßte das Einschreiten der Behörde
und seine Inhaftnahme.
Diese Zeitungsnotiz war in einer Beilage zum Schlieraeh-
Boten September 1894 und lautete:
Der Vogel unterm Taunenbauin.
Ein arabisches Märchen.
Südlich vom Berg der Taube ‘) zieht
Der „Vogel“ seine Kreise,
Mit scharfem Aug er niedersieht
Und senkt sich leise, leise.
Denn unterm Tannengehölz erspäht
Ein Hühnchen er, so junge,
Raubgierig enger die Kreise er dreht,
Vermindernd der Flügel Schwünge.
Nicht ahnend Gefahr das Hühnchen läuft
Vergnügt von Tann zu Tanne;
Als würgend des Geiers Kralle greift
Herab zum grünen Plane.
1) Taubenberg, Aussichtsberg Büdlich von München, an dessen
Südabhang der Daxerhof liegt.
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Das Haberfeldtreiben.
15
Doch sorglich Küchleins Mutter wacht
Eilt retten ihre Kleine,
Dem Geier haut mit Zaubermacht
Die „schönsten Watschen“ eine. ‘)
Seitdem viel höher der .Vogel“ kreist
Schaut wild herab zur Erde:
„Ein alter Geier selten speist
So Hfindl’ okn’ Beschwerde.“
Der auf die Verhaftung folgenden Einschießungen
in Reitham und Hinterberg wird noch gedacht In
der Untersuchung blieb nichts unversucht, die Frei-
sprechung des Vogl herbeizuführen. Der Hofnachbar
und seine Angehörigen wurden auf jede Weise einge-
schüchtert Er fand für nötig, eiserne Fensterläden am
Hause anzubringen, um sich vor Einschießen zu sichern. 2 )
Weder der Hofbesitzer noch seine erwachsenen Söhne
konnten später unbelästigt in ein Gasthaus einkehren. Noch
1897, als die Habereruntersuchungen längst im Gange
waren, wurden die Söhne bei einem Feste in Miesbach
gröblich mißhandelt, weil von dem Hofe aus der Anlaß
zur Verurteilung des Vogl gegeben sei. Freiwillig erschien
auf Ladung in der erwähnten Untersuchung niemand aus
dem Nachbarhofe vor dem Untersuchungsrichter. Dieser
mußte ins Haus kommen und erst unter dem Eideszwange
wurden die Angaben gegen Hans Vogl gemacht. Gegen
die verschüchterten Aussagen dieser Personen brachte Hans
Vogl in der vor dem Schwurgerichte in München am 22.
und 23. März 1 895 erfolgten Hauptverhandlung eine große
Anzahl Entlastungszeugen vor. Die Anklage stand be-
ll Die Mutter hatte dem „Vogl“ das Gesicht blutig zerkratzt
2) Der Hof stand von der Verhaftung des Vogl ab unter be-
sonderem polizeilichen Schutz. Von drei Gendarmeriestationen aus
mußten öfters Nachtpatrouillen dahin gemacht werden. Klopften
diese nun nachts an, so öffnete sich langsam und vorsichtig ein
Fenster und unter Vorhalten eines Gewehres fragte der Hofbesitzer
oder einer seiner Söhne, wer außen sei.
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16
Grimm.
denklich, aber der gesunde Sinn der Geschworenen, die die
Sachlage richtig erkannten, führte zur Bejahung der Schuld-
fragen; danach wurde Hans Vogl wegen zwei Verbrechen
aus § 176 Z 1 R.-St.-Gb. und drei Verbrechen wider die
Sittlichkeit aus § 177 St-Gb. zu einer Zuchthausstrafe von
sieben Jahren verurteilt. Aber Hans Vogl verzagte nicht.
Er setzte sich brieflich mit seinem Bruder Franz in Ver-
bindung. Der Inhalt der Briefe war scheinbar ganz
harmlos, aber allmählich bildeten sich Deckbezeichnungen,
z. B. Zwillingsgeburt für Haberfeldtreiben, Biergeist für
Bürgermeister, Wassermann für einen Zeugen, Straßenarbeit
für Einschießen, die gleiche Bedeutung hatte die Wendung:
es soll ihnen keine Rosen bringen, Akkord-bestimmte Aussage,
u. s. f., so daß zwischen beiden eine vollständige Ver-
ständigung herbeigeführt war. Die Werbung von Zeugen
wurde fortgesetzt, Wiederaufnahme des Verfahrens be-
antragt und hierzu die Zeugen benannt. So stand die Sache,
als im Mai 1896 die Haussuchung vorgenommen wurde.
Dabei fiel auch die Korrespondenz in die Hände des
Gerichtes und diese Korrespondenz, um deren Entzifferung
sich der Vorstand des Bezirksamtes Miesbach die größten
Verdienste erworben hat, bildete im wesentlichen die
Grundlage zu den weiteren Untersuchungen, die namentlich
auch gegen die beiden Vogl zu wiederholten Verurteilungen
wegen Anstiftung und unternommener Verleitung zum
Meineide, wegen Teilnahme am Haberfeldtreiben und an
den verschiedenen Einschießen führte. Hans Vogl starb
1903 im Zuchthause zu Bayreuth, ohne seit 1894 seinen
„Edelhof“ nochmals gesehen zu haben.
An den Haberfeldtreiben hatte sich Hans Vogl in den
letzten Jahren vor 1894 nicht mehr persönlich beteiligt
Er sorgte dafür, daß dies durch zuverlässige Zeugen fest-
gestellt werden konnte. Wenn es ihm gerade paßte, weckte
er in der Treibnacht Gendarmen oder Förster. Die Leitung
der Treiben überließ er jüngeren Leuten. In seiner Nähe
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Das Haberfeldtreiben.
17
hatte er einen Kreis von Personen, die sich die r Toten-
garde des Femgerichts“ nannte, bereit auszuführen, was
Hans Vogl wollte. Zu diesen gehörten vier Personen aus
der Gegend von Gmund am Tegernsee, die alle langjährige
Freiheitsstrafen erhielten.
Von den treibenden Meistern waren in den zur öffent-
lichen Verhandlung gekommenen Fällen zwei eingesessene
Bauern, ein dritter ein Bauernsohn aus dem Haberergebiete,
die übrigen waren ledige Dienstknechte oder Taglöhner,
zumeist gar nicht im Gebirge geboren. Von ihnen starb
der Ranhardtbauer Feicht vor Beginn der Untersuchungen
und wurde nnter großer Beteiligung aus dem ganzen
Haberergebiete in Gmund beerdigt, der zweite Bauer hat
sich der Verurteilung durch Flucht entzogen und soll nach
Zeitungsnachrichten in den Vereinigten Staaten Nord-
amerikas, wohin er sich zu einem gleichfalls flüchtigen
Haberergenossen begeben hatte, nach Tötung dieses Freun-
des ein schimpfliches Ende gefunden haben. Die ausübenden
Haberermeister hatten das Haberergebiet unter sich geteilt;
der eine saß am Tegernsee, der andere am Jrschenberg,
der dritte an der Mangfall, der vierte bei Glonn
Bez. A. Ebersberg, der fünfte nördlich der Eisenbahn-
linie München — Rosenheim. Mit Ausnahme des Treibens
bei Valley, wo 3 Haberermeister beisammen waren, wurden
die anderen Treiben von je einem Haberermeister geleitet.
Sie taten dies aber nicht umsonst. Die Mühe mußte ent-
lohnt werden. Die Taxe der letzten Treiben war zwischen
10 und 100 Mark. Nur gegen Zahlung erschienen sie mit
ihrer Mannschaft.
Den Wohnsitzen der Haberermeister entsprechend war
auch die Mannschaft verteilt. Jeder hatte solche nur aus
den umliegenden Ortschaften seines Wohnsitzes. In jeder
Ortschaft war ein Vertrauensmann, gewöhnlich ein lediger
Bursche, aufgestellt. Dem sandte der Meister die Bot-
schaft, wann und wo getrieben werde, und an welchem
Der Pitaval der Gegenwart IV. 2
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18
Grimm.
Orte er mit seiner Mannschaft von einem Ortseingesessenen
des Treibortes, dem Weg und Steg bekannt war, abgeholt
werde. Man marschierte zum Treiborte in militärischer
Ordnung, nebenan ging der besonders gut bewaffnete Ver-
trauensmann, der einladen durfte, wen und wie viele er
wollte, meistens die ihm bekannten Burschen seiner Heimat-
gemeinde. Die einzelnen Gruppen sammelten sich in der
Nähe des vorher sorgsam ausgewählten Treibplatzes in
einer Stein- oder Kiesgrube oder an einem sonst ver-
steckten Platze. Um sicher zu sein, ob etwa entgegen-
kommende Personen Teilnehmer oder Nichtteilnehmer
waren, hatte man Erkennungsworte, wie z. B. „frisch auf“,
„halt an“, „woher weht der Wind?“ „vom Tannenwald“,
die der Meister für jedes Treiben besonders ausgab. Am
Versammlungsorte hielt der Meister in der Regel eine An-
rede, mahnte zur Verschwiegenheit und nahm der jungen
Mannschaft den Eid ab. Dann wurden die Verlässigsten
als Vorposten ausgesucht und unter Lärmen, Schreien und
Schießen ein Teil der Ortschaft, bei der getrieben wurde,
durchzogen und am Treibplatz mit dem Treiben selbst be-
gonnen. Nach dem Treiben hatte der Orts -Vertrauens-
mann die Aufgabe, seine Mannschaft wieder um sich zu
versammeln und sie sicher heimzubringen. Zu dem Ende
hatte jede Gruppe wieder ihr besonderes Erkennungs-
wort. Nachdem das Treiben beendet und das Lied: „Was
man aus Liebe tut“ auf einem oder mehreren Musik-
instrumenten geblasen war, hörte man ein wildes Durch-
einanderschreien einzelner Worte wie: „Europa, Asien,
Achental, Oberland, Lodenmantel“ usw. Es waren dies
die Erkennungsworte der einzelnen Gruppen, die von dem
Vertrauensmann gerufen und solange wiederholt wurden,
bis sich seine Mannschaft wieder um ihn versammelt
hatte.
Vor den einzelnen Treiben warben die Meister und
Vertrauensmänner von Ort zu Ort. Diese geschäftige Tätig-
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Das Haberfeldtreiben.
19
keit blieb den Ortseinwohnern und der Sicherheitsbehörde
nicht unbekannt. So kam es, daß junge noch nicht
18 jährige Bursche Kenntnis erhielten und mitzogen.
Aber die Sicherheitsbehörden konnten nie den Ort und die
Nacht des Treibens erfahren und glaubten sie einmal eine
verlässige Nachricht zu haben, so waren sie getäuscht,
wie dies bezüglich der Nacht der Treiben von Sauerlach
und Steinhöring bereits gesagt wurde. Erst nach dem
Miesbacher Treiben gelang es dem hochverdienten Be-
zirksamtsvorstande in Miesbach, aus dem Wirrwar der
Gerüchte die Wahrheit zu erkennen und er fand sich von
da ab in seinem Bezirksamte regelmäßig früher am Treib-
platze ein als die Haberer. In den Jahren 1894 und
1895 fand deshalb im Bezirke Miesbach kein Treiben
mehr statt, das Schaf tlacher wurde von dem Meister aus
dem Mangfalltale (Amtsgericht Aibling) veranstaltet.
Die Haberermeister waren sämtlich vorbestraft; mit
einer Ausnahme konnte ihnen Beteiligung bei Einschießen
nachgewiesen werden. Sie waren auf einander eifer-
süchtig. Das größte Ansehen genossen die Meister aus
dem Mangfalltale und der bei Glonn, das geringste der
letzte aus der Gmünder Gegend, der die Stelle seit dem
Ableben des Banbardtbauern inne hatte. Deshalb wurde
zu den Treiben bei Greiling und Schaftlacb, die beide im
Gmundener Bezirk lagen, der Meister aus dem Mangfall-
tale bestellt.
3. Schilderung zweier Haberfeldtrclben.
Die Verhandlungen erstreckten sich auf folgende
Haberfeldtreiben :
1. Schliersee in der Nacht vom 24./25. Okt. 1891,
2. Egmating in der Nacht vom 24./25. Sept. 1892,
3. Valley in der Nacht vom 16./17. Sept. 1892,
4. Finsterwall inderNacht vom 30.Sept. zum 1. Okt. 1893,
2 *
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20
Grimm.
5. Miesbach in der Nacht vom 7./8. Okt. 1893,
6. Sachsenkamm in der Nacht vom 21./22. Okt. 1893,
7. Gaissach in der Nacht vom 9./10. Nov. 1894,
8. Greiling in der Nacht vom 14./15. Sept. 1895,
9. Aying in der Nacht vom 21./22. Sept. 1895,
10. Sauerlach in der Nacht vom 26-/27. Okt. 1895,
11. Steinhöring in der gleichen Nacht,
12. Schaftlach in der Nacht vom 14./15. Nov. 1895.
Von keinem Treiben sind die sämtlichen Teilnehmer
ermittelt worden. Es gehört ins Reich der Sage, daß die
einzelnen Teilnehmer verlesen werden. Die Beteiligung
hängt von der Tätigkeit der Vertrauensmänner ab. In
ihrem Belieben lag die Auswahl. Daher kannte im ein-
zelnen Falle keiner Zahl und Namen. Am zahlreichsten
Bollen die Haberer bei Valley gewesen sein, etwa 200. Bei
Miesbach waren es annähernd 140 — 150, von denen über
100 ermittelt wurden, bei Steinhöring, Sauerlach, Aying
ca. je 70, ermittelt wurden je 60. Die anderen Treiben
waren minder besucht, so namentlich das Finsterwalder
und das Sachsenkammer von nicht mehr als 35 Personen.
I. Miesbacher Treiben.
Die einzelnen Haberfeldtreiben spielten sich im wesent-
lichen in ganz gleichen Rahmen ab, weshalb es genügend
erscheint, zwei Haberfeldtreiben nach dem Ergebnisse der
Verhandlungen darzustellen.
Am 23- September 1893 nachts fand in Festenbach eine
Zusammenkunft von 9 Personen unter Leitung des nunmehr
verlebten Ranhardtbauern Feicht von da statt. Es waren
dies hervorragendere Mitglieder der Haberer, darunter
drei Fuhrknechte aus Baum, ein in Erding und dann der in
Landau a. J. geborene Metzgerbursche X. P., der das
Einschießen in Miesbach und Wiesfee leitete und noch bei
anderen Gewaltakten beteiligt war.
Wer eingeladen hat, war nicht festzustellen.
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Das Haberfeldtreiben.
21
Während der Versammlung wurde Bier getrunken,
das der Wendlbauer von da, Vorstand des Biervereins in
Gmund, dessen Geliebte eine Wirtschaft in Finsterwall be-
trieb, beigeschafft hatte.
Die Verhandlungen nahmen einen keineswegs ruhigen
Verlauf. Zwei Teilnehmer, darunter der Metzgerbursche P.,
traten mit der Absicht hervor, in der Nacht vom 30. Sept auf
1. Okt. 1893 bei Finsterwall ein Haberfeldtreiben zu ver-
anstalten. Das fand Widerspruch. Denn das für den
7. Okt. 1893 in Aussicht genommene Haberfeldtreiben bei
Miesbach sollte nach den Intentionen seiner Veranstalter
zu einer großartigen Manifestation des Habererbundes
gegenüber den auf Beseitigung des Haberfeldtreibens ge-
richteten Bestrebungen der geistlichen und weltlichen Be-
hörden gestaltet werden. Fand nun so kurze Zeit vorher
ein größeres Haberfeldtreiben statt, so war zu befürchten,
einerseits durch strengere Maßnahmen der Behörden be-
hindert zu werden, andererseits durch die Übersättigung
der Haberermannschaften bei der raschen Aufeinander-
folge nicht die gehörige Teilnehmerzahl für Miesbach zu
erhalten.
Schließlich drangen aber die Zwei mit ihrem
Anträge trotz des von der Mehrzahl entwickelten Wider-
standes durch, und es ist für die Schroffheit, mit der damals
die Meinungen aufeinanderplatzten, bezeichnend, daß der
Banhardtbauer und der spätere Gmundner Meister, obwohl
sie am Abende des Finsterwaller Treibens in Finsterwall
waren, sich an diesem Treiben nicht beteiligten, auch
mehrfach schon dagegen arbeiteten, während andererseits
die zwei Gegner trotz ihrer Sympathie für das Haberfeld-
treiben an sich dem Miesbacher Haberfeldtreiben fern
blieben, einer sogar später versuchte, für eine unabhängige
Konkurrenzunternehmung Anhänger zu werben und Bei-
träge zu sammeln.
Die starke Beteiligung der Fuhrknechte und Fabrik-
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22
Grimm.
arbeiter aus Baum bei der Vorbesprechung und deren rege
Tätigkeit bei Veranstaltung des Treibens läßt den Schluß
zu, daß von da aus die Idee eines Treibens bei Miesbach
ausgegangen ist.
Die Festsetzung der bei dem Treiben zu verlesenden
Verse erfolgte hauptsächlich durch Hans Vogl.
Der zu Gerichtshanden gekommene Text enthält elf
Strophen. Getrieben sollte werden dem Bezirksamtmann,
dem Pfarrer, dem Oberamtsrichter, dem Amtstechniker, dem
Buchdrucker, bei dem später eingeschossen wurde, den
Bergwerksdirektoren, einem Gutsbesitzer, zwei Bauern und
dem Polizeidiener. Mit einer harmlosen Ausnahme ent-
behrten die gegen die betreffenden Personen erhobenen
Vorwürfe jeder tatsächlichen Unterlage; das Treiben war
planmäßig gegen die weltliche und geistliche Obrigkeit
gerichtet, deren Träger getroffen und verleumdet werden
sollten.
Wer den Stoff zu den einzelnen Versen geliefert hat,
war nicht festzustellen; aus den Umständen ist aber zu
schließen, daß der Haupturheber Hans Vogl war.
In der Zeit vom 23. Sept 1893 bis zum 7. Oktober
1893 erfolgte das Aufgebot an diejenigen Personen, von
denen man annahm, sie würden der Aufforderung Folge
leisten, in der üblichen Weise durch die Vertrauensmänner
von Ort zu Ort. Infolge der großen Ausdehnung der Ein-
ladungen war es denn auch am 7. Okt, 1893 in Miesbach
und Umgegend in weiten Kreisen bekannt, daß in der
kommenden Nacht ein Haberfeldtreiben stattfinden werde.
Deshalb wurde seitens des kgl. Bezirksamtes Miesbach
eine größere Anzahl Gendarmen aus der Umgegend heimlich
in Miesbach zusammengezogen. Auch seitens des Pfarr-
amtes war in einer den Haberem nicht bekannt gewordenen
Weise die Verstopfung der Schlüssellöcher der Kirche
dadurch unwirksam gemacht worden, daß sich 4 verlässige
Personen schon um 9 Uhr abend in die Kirche eingesperrt
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Das Haberfeldtreiben.
23
hatten, wo sie dann wahrnahmen, daß im Verlaufe der
Nacht immer noch in die Schlüssellöcher der Kirchentüren
Sand und Steinchen nachgestopft wurden.
Blieben diese Gegenmaßregeln den Haberern zunächst
auch unbekannt, so nahmen sie doch auch aus gewohnter
Vorsicht Anlaß, vor Beginn des Treibens förmliche
Patrouillen in den Markt Miesbach zu beordern mit der
Aufgabe, von etwaigen Wahrnehmungen Mitteilung zu dem
als Hauptsammelplatz bestimmten Stoibstadel, Stunde
südwestlich von Miesbach gelegen, zu bnngen.
Dahin hatten die Fuhrknechte aus Baum das zum
Treiben unumgänglich notwendige Bier gebracht, wobei
mehrere Bauernsöhne, darunter der später angeschossene
J. H., mitwirkten.
Der Ranhardtbauer Feicht sammelte am Abend des
7. Oktober 1893 die in der Umgegend von Festenbach
wohnenden Teilnehmer bei einer Kapelle bei Festenbach,
wohin der Wendlbauer das Bier aus der von seiner Ge-
liebten in Finsterwall betriebenen Wirtschaft gebracht hatte.
Zu diesen stießen Teilnehmer, die sich vorher bei
Schaftlach gesammelt hatten. Die Versammelten, etwa
40 Mann stark, zogen unter Leitung des Ranhardtbauern
über den Gießhof zum Stoibstadl. Ihnen schlossen sich
bei Gießhof die Teilnehmer aus Baum und Umgebung an.
Die Teilnehmer aus der Tegemseer Gegend, etwa 20,
sammelten sich bei dem Hacklziegelstadel bei Ostin, wo
es Bier und Wein gab, und zogen über den Gießhof zum
Stoibstadel. Die vom Norden kommenden waren zum
Griesserholze nördlich von Miesbach bestellt, dort von
Baumer Fubrknechten erwartet und von da zum Stoibstadel
geleitet. Es waren wohl 60 — 80 Mann, aus der Irschen-
berger Gegend, aus Valley, Pienzenau, aus dem Leitzach-
und Mangfalltale, dem Stadelberge und Hintereben. Auch
an diese Gruppen wurde an verschiedenen Orten Bier ver-
schenkt. Direkt zum Hauptsammelplatze gingen die Teil-
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24
Grimm.
nebmer aus der Schlierseer Gegend. Am Stoibatadel wurde
an drei Stellen für die dort Versammelten Bier verzapft.
Der Banhardtbauer hielt sodann eine Anrede an die
Teilnehmer, in welcher er die Teilnehmer insbesondere auf-
forderte, sich allen Weisungen zu fügen, zugleich aber mit
den Worten vor Verrat warnte: „Der Nächste Beste dürfe
den niederschießen, der etwas verrate.“ Zugleich nahm er
der Versammlung einen Schwur ab, dessen Wortlaut nicht
festgestellt werden konnte.
Unterdessen kehrten auch die nach Miesbach zur
Ausforschung entsendeten Patrouillen zurück. Eine der-
selben meldete kurz vor dem Aufbruche zum Treibplatze,
daß sich im Bezirksamtsgebäude in Miesbach 17 Gendarmen
befanden.
Darauf traten die Leiter des Treibens zu einer Beratung
zusammen. Dann richtete der Banhardtbauer an die Ver-
sammlung die Frage, ob bei der bestehenden Gefahr eines
Zusammenstoßes mit der Gendarmerie das Treiben dennoch
abgehalten werden solle. Keine Stimme wurde gegen die Ab-
haltung laut. Der Banhardtbauer bestimmte nun Leute mit
guten Gewehren als Vorposten und erteilte die Weisung,
wo sie ihre Stellungen nehmen sollten.
Dann erfolgte der Abmarsch zum Treibplatze in mili-
tärischer Ordnung.
Die Vorposten waren in der Weise aufgestellt, daß
lediglich die Nord- und Ostseite des Treibplatzes gegen
den Bahndamm Miesbach — Schliersee durch Posten ge-
sichert waren, die Westseite hielt man mit Bücksicht auf
die Steilheit der Hänge des Birkengrabens für genügend
gesichert. Die übrigen Teilnehmer formierten sich zu
einem nach rückwärts offenen Kreise, in dessen Mitte der
Kanhardtbauer Feicht und der Vorleser Sch. sich auf-
stellten.
Auch während des Treibens trafen noch weitere Teil-
nehmer ein.
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Das Haberfeldtrciben.
25
Auf dem Treibplatze begann das Treiben in der üb-
lichen Weise, indem unter großem Lärm und Geschrei
und unter Abgabe zahlreicher Schüsse die für das Treiben
bestimmten Verse „schweinischen Inhalts“ wie der Vor-
leser in der öffentlichen Verhandlung sagte, verlesen
wurden. Die von dem Vorleser zwischen den einzelnen
Strophen gemachten Pausen wurden wie üblich durch
Lärmen und Schreien ausgefüllt. Ein Teil der Haberer
war bemüht, den Lärm noch dadurch zu verstärken, daß
sie mit Stöcken und Prügeln auf die Wände einer auf
dem Treibplatze stehenden Holzhütte derart einschlugen,
daß diese Hütte nach dem Treiben erhebliche Beschädi-
gungen aufwies.
Die mit Gewehren und anderen Schußwaffen ver-
sehenen Haberer feuerten zahlreiche Schüsse ab, anfäng-
lich mehr in die Höhe, im weiteren Verlaufe immer mehr
in der Richtung gegen die Gebäude des Marktes Mies-
bach und gegen die unten an dem östlichen Hange des
Treibplatzes sich sammelnden Zuschauer.
Eine Kugel durchbohrte ein Remisendach und zer-
trümmerte zwei Dachplatten, ein Zuschauer floh von dem
Dache seines Hauses, von dem er dem Treiben zuschauen
wollte, durch Schüsse gefährdet, ein anderer Zuschauer
wurde von einem Vorposten angehalten und zog sich
eilends zurück, als er und seine Begleiter Kugeln über sich
wegpfeifen hörten.
Zwischen den Gewehrschüssen fielen auch mehrere
sogenannte Donnerschläge und wurden Feuerwerkskörper
abgebrannt
Schon gleich bei den ersten Donnerschlägen fingen
die in der Pfarrkirche zu Miesbach Eingesperrten mit
sämtlichen Glocken zu läuten an.
Der kgl. Bezirksamtmann begab sich, sobald das
Treiben begann und er sich über die Aufstellung der
Haberer vergewissert hatte, an der Spitze der Gendarmerie
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26
Grimm.
im Laufschritt über die Schlierach in den Birkengraben
und wandte sich dann, nachdem er mit seinen Leuten ein
Stück weit den Graben entlang gegangen war, links den
steilen bewaldeten Hang gegen den Treibplatz, die sog.
Baderwirtswiese, aufwärts. Sie hatten noch nicht das
erste Drittel des Hanges überwunden, als von oben herab
der Zuruf: „Zurück!“ erscholl. Der kgl. Bezirksamtmann
hatte darauf kaum geantwortet: „Selbst zurück im Namen
des Gesetzes!“, als sofort ein auf ihn gezielter scharfer
Schuß krachte. Dieser Schuß gab das Signal zu einem
förmlichen Gefechte.
Der Ranhardtbauer hatte sofort mit dem Lesen der
Verse aufhören lassen und die mit guten Waffen ver-
sehenen Haberer zu sich gerufen, um durch die von ihnen
abzugebenden Schüsse die Gendarmen am weiteren Vor-
gehen zu verhindern
Auf diese wurde beständig von oben herab gefeuert,
und sie erwiderten das Feuer. Dabei gelang es ihnen,
bis an den Rand des Plateaus des Treibplatzes vorzu-
dringen. Bei diesem Vorgehen wurde ein Gendarm durch
einen Schuß, der den Hodensack durchbohrte, so schwer
verletzt, daß er nach mehrmonatiger Krankheit den
Gendarmeriedienst verlassen mußte. Auch ein Haberer
J. H. wurde hierbei durch einen Kugelschuß am linken
Oberschenkel erheblich verwundet.
Sobald der kgl. Bezirksamtmann den Rand des
Plateaus erreicht hatte, stellte er das Gewehrfeuer der
Gendarmerie ein. Acht bis zehn Personen, die ihm gegenüber-
standen, forderte er auf, den Platz zu verlassen, worauf
sich die Haberer schleunigst zurückzogen.
An eine Verfolgung der Haberer war bei der Dunkel-
heit der Nacht und der bergigen und bewaldeten Gegend
nicht zu denken.
Nach dem Treiben setzten die Gerichts- und Sicher-
heitsbehörden scharf ein, um die Teilnehmer zu ermitteln.
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Das Haberfeldtreiben.
27
War die ganze Veranstaltung doch erkennbar nur Ver-
höhnung der Gesetze und Widerstand gegen dieselben.
In dem verwundeten J. H. hatte man auch einen An-
geschuldigten. Die hierdurch geschaffene Gefahr sahen
die Haberer voraus. Als sie den auf Vorposten gestan-
denen verwundeten J. H. zurücktrugen, fand eine Beratung
statt, ob man ihn nicht erschießen und so die Entdeckung
verhüten solle. Es gelang den besonneneren Teilnehmern
aber, dies zu verhindern. Wochenlang war in der Folge
der Untersuchungsrichter in der Miesbacher Gegend tätig.
Das Resultat war — Freisprechung des J. H. Er ver-
teidigte sich auf Anraten des Hans Vogl damit, daß er
nur Zuschauer gewesen und von den Haberern ange-
schossen sei. Dies bestätigten die von Hans Vogl be-
stellten Entlastungszeugen, unter denen die Personen waren,
die den verwundeten J. H. zurücktrugen, auf ihren Eid,
sodaß das Gericht zu einer Freisprechung kam.
Die Freude über dies Ergebnis der Verhandlung war
grenzenlos. Als der freigesprochene J. H. am Bahnhofe
in Miesbach ankam, standen viele Gebirgler zu seinem
Empfange bereit. Freudenausrufe wurden laut, und er wurde
feierlich in eine nahegelegene Wirtschaft gebracht, dort
bewirtet und in einem geschmückten Wagen nach Hause
geleitet.
Der Rückschlag blieb nicht aus. Die Entlastungs-
zeugen wurden später vom Schwurgerichte wegen Meineids
verurteilt; auch J. H. ist trotz seiner Freisprechung der
Strafe nicht entgangen. Er hat später ein Geständnis
seiner Teilnahme am Treiben abgelegt, in glaubhafter
Weise aber stets versichert, an der Abrichtung der Ent-
lastungszeugen unbeteiligt zu sein.
Grenzenlos war aber auch der Übermut des Hans
Vogl. Der Bezirksamtmann von Miesbach harte alsbald
nach dem Treiben für seine Verdienste eine Ordensauszeich-
nung erhalten. Nun wurden vom Daxer kleine auf der Rück-
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Grimm.
Seite gummierte Plakate 1 0 cm lang 5 cm breit gedruckt, und
tausendfach in allen Orten des Bezirkes angeklebt. Der
Inhalt dreier Plakate möge hier folgen:
»1. Ergebnis aus dem Haberfeldtreiben von Mießkako
vom 7. auf 8. Oktober 1893.
Der Bezirksamtmann von Miesba is a tapfana, sebneidi-
ga Mo
Er tragt zweng an Schandarm sein B . . . Dö verdünnate
Viera Medallio.
2. Ergebnis aus dem Miesbacher Haberfeldtreiben.
7./8. Okt. 1893.
Zwischen Miesba und Schliersee gehts Hobafehitreiben o
Da is am 8. Okt a Kugel midn Schandarm sein B . . . davo.
und das dritte schandvollste :
3. 17 Schandarm und 5 von da Grenz
Haben 21 . . . und 22 . . .«
Weniger interessierte sich der Daxer für das Ergebnis
der gegen Th. M. gleichzeitig geführten Untersuchung
wegen Teilnahme am Sachsenkammer Treiben. Es scheint
daß dies kein von ihm genehmigtes war, es war von
denselben Personen ins Werk gesetzt, die kurz vorher
gegen den Willen der Habererleitung das Finsterwaller
Treiben veranstaltet batten. Es sollte nach dem Verlaufe
des Miesbacher Treibens den Behörden einen Beweis von
der Lebenskraft und der Furchtlosigkeit der Haberer geben.
Für Th. M. wurde auch nicht gesammelt und er erhielt,
als er seine Strafe von l 1 /* Jahren erstanden hatte, auch
keine Entschädigung. Soviel später bekannt wurde, wurde
auch der Verteidiger nicht entlohnt Für Th. M. zeigte
sich auch keine Teilnahme bei der Bevölkerung. Im
Gegenteile, seine Verurteilung erfolgte auf Grund der Aus-
sagen ortseingesessener Personen. Freilich bedurfte es
aller Strenge, sie zu Aussagen zu bewegen. Bezeichnend
sind die Umstände, unter denen der Hauptbelastungszeuge
aussagte. Er hatte sich Mut angetrunken und als er nach
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Das Haberfeldtreiben.
29
seiner Vernehmung veranlaßt wurde, sich niederzusetzen,
nahm er nicht auf der Zeugenbank unmittelbar vor dem
Zuschauerraum Platz, sondern auf einem für Sachverstän-
dige reservierten Stuhle und erklärte auf Befragen: Ja,
ich werde mir doch nicht das Messer in diesem Saale
hineinrennen lassen.“ Als die großen Untersuchungen 1896
begannen, hat er wiederholt mitgeteilt, daß er nur durch
Gegendrohungen und fleißiges Bewachen seines Anwesens
sich und dieses vor Gefahr geschützt habe.
Th. M. wurde auf Grund des § 125 St Gb. zu einer
Gefängnisstrafe von 1 •/* Jahren verurteilt, die Revision ver-
worfen. Dieses Urteil bildete die rechtliche Grundlage der
späteren.
n. Sauerlacher Treiben.
Ruhiger verlief das Sauerlacher Treiben, dessen Ur-
heber der dortige Bürgermeister St. war. St. war ein sehr
vermögender Mann, gelegentlich Güterhändler, Jäger, und
stand mit dem Haberermeister Hans Vogl in reger Korre-
spondenz, die später beschlagnahmt wurde. In den Brie-
fen Unterzeichnete er sich als „Sozialdemokrat I. CI.“.
Die Briefe sind voller Hohn und Spott gegen die staat-
lichen und kirchlichen Behörden, und doch nur ein Ab-
klatsch und Wiederholung der Sprüche des Meisters
Hans Vogl.
Zum Sauerlacher Treiben wurde folgender Tatbestand
festgestellt: Bürgermeister St. traf nach dem Ayinger
Treiben 21. /22. September 1895 beim Neuwirt in Sauer-
lach mit einem Teilnehmer am Ayinger Treiben, einem
ledigen Sägeknecht S., zusammen. Dabei äußerte er, er
würde für ein Haberfeldtreiben in Sauerlach 50 Mk. be-
zahlen und gab dem S. den Auftrag, sich mit dem
Haberermeister B. K. in Verbindung zu setzen. Zugleich
machte er die Personen namhaft, von denen er wollte, daß
ihnen „getrieben“ werde. Bürgermeister St. zahlte 30 Mk.
als Vorschuß, den Rest nach dem Treiben.
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so
Grimm.
Am 13. Oktober 1895 fanden sich der Haberermeister
B. K. mit einem Vertrauensmann, einem Holzknechte aus
Egmating, mit den 2 Vertrauensmännern aus Sauerlach,
dem erwähnten Sägeknechte S. und einem Dienstknechte
C. Z. in einer Wirtschaft in Faistenhaar zusammen und
trafen die Vereinbarung, daß am 2B./27. Oktober 1895 bei
Sauerlach getrieben werden solle. Das war also das
„Sittengericht“ und die „Sittenrichter“.
Der Haberermeister B. K. bekam für seine Mühe —
er hat die Sehmähverse gefertigt, Hans Vogl war schon
in Strafhaft, erhielt aber von seinem Bruder Josef Vogl
mitte Oktober 1895 Kenntnis von der „Zwillingsgeburt“ in
Sauerlach, — 10 Mark versprochen und in der Kiesgrube
bei Sauerlach ausbezahlt, die als allgemeiner Sammelplatz
bestimmt wurde. Weiter wurden die Personen benannt,
denen getrieben werden sollte und im allgemeinen der
Stoff für die Sehmähverse angegeben, hierbei war haupt-
sächlich die Anregung des St. maßgebend. Einzelne
Schmähungen hat B. K. aus eigenem hinzugetan.
Zugleich wurden auch die Rollen für die Ausführung
verteilt. B. K. übernahm das Einsagen in der Gegend von
Glonn, C. Z. in der Gegend von Pframmem, Säger S. in
der Gegend von Sauerlach und Deisenhofen. C. Z. über-
nahm das Heranführen der Mannschaft an die Kiesgrube,
aus der Gegend von Pframmern und Faistenhaar, S. die
Bier- und Wurstlieferungen und die Sicherung der Leute
in und außerhalb Sauerlachs, wobei er die Unterstützung
weiterer Dienstknechte und Taglöhner und des Neuwirtes
von Sauerlach fand. Die weiteren Einladungen fanden
durch die ortseingesessenen Vertrauensmänner statt.
Am Abend des 26. Oktober 1895 sammelten sich die
Teilnehmer zum größten Teile mit Gewehren bewaffnet
und durch Bärte oder Gesichtsmasken unkenntlich gemacht
in kleineren Gruppen in Altmünster, Oberpframmern,
Harthausen und Siegertsbrunn, die sich bei Faistenhaar,
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Das Haberfeldtreiben.
31
wo es erstmalig Bier gab, vereinigten und von da unter
Leitung des C. Z. zur Kiesgrube zogen. Andere Gruppen
hatten sich in Oberhachinging, Deisenhofen, Otterfing und
Arget gesammelt, endlich waren die bekannten Wilderer
aus München Jakob Gabler, Mathias Merold, Johann
Kapser, Balthasar Bemrieder und Ludwig Angermeier
entsprechend bewaffnet eingetroffen. Einige Burschen aus
Holzkirchen konnten sich nicht zum Sammelplätze finden.
Bei dem Aufmärsche wurde den Teilnehmem'am Treiben
das Erkennungswort, soweit es ihnen nicht schon früher
mündlich oder schriftlich mitgeteilt war, bekannt gegeben.
Es lautete: „Buam, hauts zua!“
An dem Sammelplätze, einer Kiesgrube nordöstlich
von Sauerlach, etwa 10 Minuten von da entfernt, wurden
Würste und Bier verabreicht. Dann trat B. K. vor, hielt eine
Ansprache und nahm den Anwesenden folgenden Schwur
ab: „Ich schwöre, daß ich vom heutigen Haberfeldtreiben
nichts aussage, niemand etwas davon sage, dem Verräter
den Tod.“ Dabei hob ein Vertrauensmann ein Gewehr
in die Höhe und drohte, daß derjenige erschossen werde,
der etwas verrate. B. K. gab sodann bekannt, daß in der
gleichen Nacht bei Steinhöring getrieben werde, nahm unter
den Anwesenden für einen bei dem Treiben in Aying
von Haberern durch einen Schuß verletzten, an dem Treiben
selbst beteiligten Zimmermann von Balkham eine Sammlung
vor, die 34 Mark ergab, und wählte sodann die Vorposten
aus, welche die Weisung erhielten, auf allenfalls heran-
kommende Gendarmerie scharf zu schießen. In Sauerlach
waren damals 3 Gendarmen stationiert, zwei davon waren
infolge „vertraulicher“ Mitteilungen auf einer nächtlichen
Streife zwei Stunden westlich von Sauerlach, nur einer
zu Hause, der solcher Menge gegenüber machtlos war.
Davon war B. K. verständigt.
Hierauf wurde der Haufen in Glieder von je 2 Mann
geordnet und zog, die Vorposten voraus, durch einen Teil
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32
Grimm.
der Ortschaft Sauerlaeh an den Treibplatz südöstlich davon
bei der damaligen Zolk’schen Wirtschaft, wo sich das Treiben
in der üblichen Weise ungestört abspielte. Anderen Tages
fand man Kugelspuren am Dache der Zolk’schen Wirtschaft
und in einer Eisenbahnschranke; der Telegraphendraht
von München in das Wassergebiet war durchschnitten und
die Schlösser zum Kirchenturme mit Sand verstopft. Der
einzige in Sauerlach zurückgebliebene Gendarm wurde
durch scharfe Schüsse bei einem Versuche, an den Treib-
platz zu gelangen, zurückgescheucht.
Verlesen wurden am Treibplatze von B. K. 12 Strophen
mit vielen Schmähungen. Nur vier enthielten wahre Tat-
sachen, die soweit der Inhalt eine strafbare Handlung
anzeigte, bereits gerichtlich abgeurteilt waren und bis
40 Jahre zurücklagen; alle übrigen erwiesen sich als
unwahr. Gleich die erste verlesene Strophe ließ erkennen,
wer das Treiben bezahlt hatte. Sie lautet, soweit sie mit-
geteilt werden kann:
Zum erstn müassma 1 gleich an Posthoita 2 seinö Schandate
song 3
Dö Dienstbote geit 4 ä nix zu fresse und recht dazu
plong, 5
A Fresse stellt ä hin, daß koa G Sau nöt hinschmöckt,
Drum warn jahm 1 seinö Leut boid oisam voräckt 8
Dazu ergab sich folgendes. Der Posthalter und Guts-
besitzer war Reserveoffizier und Beigeordneter in Sauerlach.
Er hatte ein strenges Regiment gegen seine zahlreichen
Dienstboten, Blaumachen gab es nicht. Auch sonstigen
Gewohnheiten, Halbfeiertagen usw. trat er entgegen.
Dagegen zahlte er die höchsten Löhne und gab das beste
Essen. Er nahm nie wieder einen von ihm entlassenen
Dienstboten auf. Sein Ansehen war ein sehr großes. Er
1 müssen wir, 2 Posthalter, 3 sagen, 4 gibt, 5 plagen, 6 keine,
7 ihm, 8 bald allesamt verreckt.
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Das Haberfeldtreiben.
33
ersetzte später den Bürgermeister St in seinem Amte und
war wegen seines Ansehens dem letzteren verhaßt. Ihm
und seinem Anhänge galt das Treiben. Ein ähnliches
Ergebnis hatten die Nachforschungen nach der Richtigkeit
der anderen Schmähungen.
Das Treiben schloß mit dem Blasen des Liedes:
„Was man aus Liebe tut“, worauf die Haberer nach den
verschiedensten Richtungen abzogen, nachdem die Ver-
trauensmänner ihre Ortsangehörigen um sich gesammelt
hatten. Wie bei Miesbach, Steinhöring, Valley usw. war
auch bei Sauerlach der Auswahl des Treibplatzes be-
sondere Sorgfalt zugewendet, hinter dem Bahndamme die
Front weiter geschützt durch eine Kiesgrube und im Rücken
den nahen Wald, der im Falle der Gefahr den Rückzug
sicherte.
Da der Verlauf aller Treiben der gleiche ist, kann
von Darstellung weiterer abgesehen werden. Nur mögen
noch kurz Ursachen zu anderen Treiben erwähnt werden :
so Ärger über einen Pfarrer, der sich weigerte, auf einem
Filialdorfe an Feiertagen und Sonntagen Gottesdienst zu halten
und auf diese Weise dem Wirte Gäste zu verschaffen (Veran-
stalter: der Wirt); Ärger über einen Schwiegervater, der wieder
heiratete, seinem Schwiegersöhne den Kredit kündigte und
ihm nicht mehr Speisen und Trank umsonst gab (Veranstalter
des Treibens: der Schwiegersohn); Ärger, daß ein Bauer vor
dem Fenster seiner Tochter Eisenstäbe anbrachte und so
das Einsteigen verhinderte (Veranstalter: der Liebhaber);
Ärger, daß der Vater sich nicht zur Abgabe seines Gutes
an den Sohn verstehen wollte (Veranstalter: der Sohn)
und andere dergleichen Ursachen mehr, worüber* soweit
Interesse besteht, die erwähnten Landtagsverhandlungen
nachgelesen werden können.
Zu allen Treiben zogen die meisten Teilnehmer ent-
weder mit Gewehren und Revolvern, oder doch mit
Knüppeln usw. bewaffnet; die Gewehre waren teilweise
Der Pitaval der Gegenwart. IV. 3
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34
Grimm.
alte Mauser- oder Werdergewehre, die die Bayerische
Militärverwaltung vor jener Zeit billig verkauft hatte. Es
wurde überall scharf geschossen, nicht nur gegen Gebäude
und Personen, die zu nahe kamen, oder gegen anrückende
Gendarmerie, wie bei Miesbach und Sauerlach, es war
auch Gefahr für die Haberer selbst, wie denn auch bei
Aying ein mittreibender Bursche von den Haberern selbst
durch einen Schuß ganz erheblich verletzt wurde, wovon
aber die Behörden erst im Laufe der Untersuchung Kenntnis
erhielten.
Man kann das Wesen und die Verwerflichkeit der Haber-
feldtreiben nur dann ganz beurteilen, wenn man Haberer-
verse und die Begleitumstände der einzelnen Treiben kennt
und zur Würdigung heranzieht. Sind nun zwei Haber-
feldtreiben in ihrem äußeren Verlaufe geschildert worden,
so sollten auch von diesen zwei Haberfeldtreiben die Haberer-
verse mitgeteilt werden. Aber alle Verse eignen sich nicht
dazu, selbst wenn man sie mit Auslassungen veröffentlichen
wollte. Es folgen aber 22 Strophen, zusammengestellt aus
1 1 verschiedenen Treiben, deren Inhalt minder unflätiger
Art ist, zur Beurteilung. Dabei ist zu bemerken, daß die
Einleitung und die Schlußformel freie Zutaten des Hans
Vogl sind und bei den Treiben nicht verlesen wurden. Die
Namen der Teilnehmer sind fingiert, um der Sache einen
heiteren Anstrich zu geben. Teilweise führten auch die
Haberer unter sich besondere Namen, so nannte sich der
Meister B. K. „Bismarck“. Zum Inhalte wird nochmals
ausdrücklich hervorgehoben, daß er unwahre oder doch
harmlose Geschichten in der übertriebensten, unflätigsten
Weise darstellt.
Vorleser und Haberfeldmeister waren nicht identisch,
der Vorleser mußte eine kräftige Stimme haben, die in
der Gegend des Treibens nicht bekannt war. Man konnte
die verlesenen Verse weithin verstehen, so beim Treiben
bei Valley in dem 1 km entfernten Orte Unterdarching.
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Das Haberfeldtreibon.
35
Die Ordnung auf dem Treibplatze oblag aber dem Meister,
er gebot Ruhe nach dem Auflärmen, Grewöi, und hielt strenge
auf deren Einhaltung. Er gebot dem Vorleser das Weiterlesen.
Einleitung.
Im Auftrag des Kaisa Karl von ünterschberg müaßma
heut vvieda Hobafehi treim
Nachdem wem wieda Plakatn ausg’hängt, Do kos nacha
no a Nieada ois extri oschreim . 1
Da Pfara vo Siegertsbrun is a groaßa a foaschta,
Dä macht jhns 2 heut an Habafehi-Mosta . 3
Da Wirth vo Siegertsbrunn und vo Helfadorf da Götl, dö
san heut bei jhns 2 als Stenographistn,
Und da Drexla-Wirth vo Egmading und da jung Post-
hoida 4 vo Glonn ois 5 patrolirende Velozipedistn.
So Leut jatz halt’s no a kloani Geduid 8 den i muaß enk
ojahand soage 7
Und i denk, i wä woi 8 damit Nieada 8 “ om Schrika
eijang . 8
Mir san heut zwar söjwa nöt z’nein 10
Und dathn fil liawa 11 a gans dahoambleim.
Aba wen heut da Kaisa Karl sagt Leut machts Enk am
Weg,
Nacha müaßma glei auf und außi üwa Berg und Thoi 12 ,
üba Woßa und Steg,
An Nieada 13 bewafnet ois 5 wia beira Schlacht,
Und a so müaßma durchwandern de finstre Nacht.
Bei da Nacht sieht ma a no nix, so koan Weg
Und so müaßma glei durchi durchs Woßa und durchn
Dreg . 14
1 Da kann nachher ein jeder alles extra abschreiben, 2 uns,
8 Haberfeldmeister, 4 Posthalter, 5 als, 6 Geduld, 7 ich muß euch
allerhand sagen, 8 ich werde wohl, 8 a einen jeden, 9 einjagen,
10 selber nicht zu neiden, 11 täten viel lieber, 12 Tal, 13 ein jeder,
14 Dreck
3*
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36
Grimm.
D’Scbandarm hama a no zon scheicha 15 , not a moi öfentli
derfma göh . 16
Mir müaßn grad a so schleicha, den dö warn vosößn aufs
fanga 17 ,
Aba do gema a bißl weida wök, das jhs gewiß ko
koana derglanga 18 ,
Is da Fohi 19 das oana schiaßt,
So hatsis scho geben, daß aufra Seitn s’Leben oana
büast . 20
Den a glois weni 21 anfanga s’schiaßn, dös wa bei weitn
gnua.
Und aufa paar Kugel, wan schnehi a paara drei drübn
ader ewinge Rub . 22
S’Zuchthaus hot a koa Barmherzigkeit mit jbns 2 Haba-
fehitreiba,
Dös fraß jhns 2 zam, das könat koan Faschtag wars Pfinsta
oder Freita.
I glab awa dasi mi do nöt betriag 23
Weni sog so was is ma dönascht 24 no liaba ois 5 wia
Kriag.
Däfat ma 26 dön Schbötagl oisam öffentli beschreim,
Na brauchatma Enk heut nöt s’ Habafehi treim.
I woaß woi 27 , wä fil 28 Bier trinkt möcht mitunter an Wei 29
Und a so is hoit an 30 Ebstand, da wa a diawei oan
lieba an andam dö sei . 31
15 scheuen, 16 nicht einmal öffentlich dürfen wir gehen.
17 versessen aufs fangen, 18 aber von denen gehen wir als
weit weg, daß uns gewiß kann keiner erlangen, 19 Fall, 20 es hat
sich schon gegeben, daß auf einer Seite ’s Leben einer büßt (das
ist richtig, bei Tegernsee 1862 wurden von Haberem 2 Gendarmen
erschossen und auch in der Nähe von Rosenheim ereignete sich
gleiches), 21 ein klein wenig, 22 wären schnell ein paar oder drei
drüben in der ewigen Ruh, 23 ich glaub aber daß ich mich doch
nicht betrüg, 24 mir demgeest, 25 dürfte man, 26 allesamt, 27 wohl,
28 viel, 29 Wein, 30 halt im, 31 da war auch dieweil einem lieber
einem andern seine.
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Das Haberfeldtreiben.
37
Aba dös is a Dumheit, wen oan an andan dösei oiwei 31
fil beßa gfoid 32
Er hot ja an oana wia mit derandan dös oid 38
Es is da Ehschtand a scho vaschiedn,
Den da oane thuat mit da sein schtreidn, da anda thuat
rafa, und wieda an andra is scho längst davo glaufa,
Drum wars ma a fö heut a gar so liab
Wen von heut o a Niada 13 dö sein wida hiiat 34 ,
Den an dem Qabafehitreim hab ia gar nöt fil Freud,
Und dazua däfma mir 30 ja anöt sei ganz ohne Schneit.
Und boi 36 gangi no liaba aufs Wildam,
Ois 5 wia da mitn bei da Nacht so an Ehebröcha
z’schildarn.
Auf dös aufi machts jatz no a Niada 13 a bißl an Lerm
Nachdem wärds glei a Niada 13 dös weitern hem.«
Die Treiben begannen sofort mit der Vorlesung der
Habererverse, nachdem auf dem Treibplatze Euhe einge-
treten war.
1. »Da isa ehebröcherischa Mo
Weija 37 für sein Sohn s’ Kindamacha gar so guatko.
Da gans schiächt Huarnstingl hätt asoscho dö sein w ,
Und do schleichtsi 39 a füam Sohn bei da Dirn a
Kama 40 ein.
Zwengan schtehin hätma ejahm ano ebas z’sagn 41
A hot stad d’ Stanga Sogbäum 42 vom Forscht
hoamgfahrn.
Da Ehebröcha, da Spitzbua thuatsö ganz leicht,
Weila koa Höll und koan Teufi nöt scheut«
Meister: „Ja, iß dös wahr?“
Haberer: „Ja wahr iß!“
Meister: „Naeha treibts zua!“
32 gefällt, 33 an einer wie mit der anderen das alte, 34 hätte.
35 dürfen wir, 36 bald, 37 weil er, 88 a so schon die seine,
39 schleicht sich, 40 Kammer, 41 zwegen Stehlen hätten wir ihm
auch noch etwas zu sagen, 42 Sägbäume.
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38
Grimm.
Hier folgte ca. 5 Minuten langes Grewöi. 43
2. »An , den Huarnstingl müaßen a no
initnehma,
Weija 37 z’ üba jeds Weibads 44 thuat kömma.
Auf d’ und seine Diandl hot ersi scho oft
aufi thraut,
Und vo da , vo dera Betschwesta ham
Knie scho oft üba ejahm 45 ausischaut
Da Bettschwösta rooant bei ihr is nöt Sund,
Weil ihr Dä oimai 4fi 20 Markl gibt und sie
es für a neus Kreutzsetzenlassen hemimt.
Da is a gans schlechta Mo,
Er hotsa da vo a scho oft tho.
Da Ehebröcha, da Saustier huart umanand dös isa
Schand,
Wäna 47 prämirt wä nacha kunt man braucha ois 5 «
Beschälhengst an 48 Land.“
Meister: „Ja, iß dös wahr?“
Haberer: „Ja, wahr iß!“
Meister: „Nacha treibts zua!“
Hier folgte wieder ca. 5 Minuten langes Grewöi. 43
3. »Da Pfara vo thuat ada 49 Kirch preden 50
wia Nar
Dawei 51 hota die größt Hur an Haus vo da ganzn
Pfar
SeiKöchin is z’ drauß oiwei 52 durchn Droad-
kasten 53 an Pfara sei Bett umi grocha
48 Auflännen der treibenden Haberer, wobei geschossen, ge-
schrien und mit allen möglichen Werkzeugen, Kuhglocken usw. Lärm
gemacht wurde, beim Treiben in Tegernsee hatten die Haberer die
in der Schieüstätte befindlichen Böller herbeigeholt und gaben beim
Auflärmen Böllerschüsse ab, 44 Weibsbild, 45 ihm, 46 allemal,
47 wenn er, 48 auf dem, 49 in der, 50 predigen, öl derweil, 52 alle-
weil, 53 Getreidekasten.
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Das Haberfeldtreiben.
39
Na hat ihr da Pfara mit sein
recht dastocha.
Schwanga iß wom, da Pfara hot gmoant sie soit a
Baumoastn osang 54
Na is mitn Kind an Gartn außi und hats lewendi
eigram. 35
Dö Köchin is von Pfara von zwoamoi auf-
gschwoin. 58
Sö hat a da Kircha 1000 Gulda agsclitoin. 57
An Pfara sei ... . is an drittn Ordn, dös is wahr
Drum hata ihr er 500 Mark gschenkt zum Neujahr.
An söllan Pfara wia da is, den soitma 38 as Zucht-
haus bringa,
Na kunta anstatt da Köchin an Scheißkiwi 39 springa.«
Meister: „Ja, iß dös wahr?“
Haberer: „Ja, wahr iß!“
Meister: „Nacha treibts zua!“
Hierauf folgte wieder ca. 5 Minuten langes Grewöi.
Diese Fragen und Antworten nebst dem darauffolgenden
„Grewöi“ 43 wiederholten sich nach jedem Verse.
4. »Da Schandarm . . . . vo möcht an jedn as
Zuchthaus bringa
Dawri 51 thuata oiwei- 52 Bäurina r, ° und Schujdiandl 61
springa.
Mit seina Ehrlichkeit werda nöt weit köma
Mir kunta ja gar fil Schlechtigkeit hernema
Dä darf auf kam sei Spina
Sust kriagta no amoi 62 a warms Blei gon 63 trinka.«
5. »Da hats mit seina Frau a nid ga
guat,
54 sie sollte den Baumeister, Oberknecht, angeben, 55 ein-
graben, 56 zweimal aufgeschwollen, 57 weggestohlen, 58 sollten wir,
59 Kübel, 60 Bäuerinnen, 61 Sclmldirndl, 62 noch einmal, 63 zum,
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40
Grimm.
Weia 37 oiwai 52 a klons weni Ehebröcha thuad.
Boi 36 dä Aoani 64 siebt, nacha kriagta an Gram,
D’ Mägd, Zimmamadl und Köchina, ois 86 pakta zam
Und wena oani hart kriagt thuadas chloriformirn
Nacha konas mit sein viel leichta christiren.«
6. Jatz kema üban , dä Saubund dä
schlecht,
Dä is akrat fürn Obafiscba zu an Fischfuada 66 recht.
Wens mehra sölli 61 gab, wars für dö Arma und für
Geschäftsleud schlecht,
Wei dä Spitzbua dä brotzi von Jeda s’ Untafuata
möcht.
Ois 5 kapatalistischa Badlführa und Yolksdruka is a
in ... . bekannt
Und no mehra ois 6 da misrablste Denunziant.
Zu dem Batzi 68 wöck z’ putzn 89 dama wünschn an
Parisa Kavachol,
Nacha kinas 70 z’ soagn, jatz iß uns wieda
wohl.«
7. »Jatzt sag ös dö , der Aktiengesellschafterei,
Dö macht an Trank und a Plömbösiaderei,
Dä oit Posthoita 71 da Lump hot an Lehrer
s’ Wassa nöt vogund,
Er hat gmoant ä hät zweni zu sein Schund.
Seinö Buam dö kinan jatzt leicht protzn,
Und dö arma Leut wenns a Maß Bier trinka hams
a’n Trog scho drin ida Hosn.
Döna Spitzbuam soit jahna 73 Gift ausglössn wem
Und thatn merne Jahr ins Zuchthaus nei kern. 74 «
64 bald der eine, 65 alles, 66 Oberfischer zum Fischfüttem, 67
solche, 68 Batzi bayerisches Schimpfwort, 69 weg zu putzen, 70
können sie, 71 der alte Posthalter, 72 haben sie den Drock, 78 ihr,
74 gehören — die Verse 6 und 7 sind von den wenigen die sich
nicht mit dem Geschlechtsleben befassen,
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Das Habcrfeldtreiben.
41
8. »Jatzt erst steckt no oana 15 din a Privatier,
Dös is da oit 76 ...... a rechta oita 76 Stier,
Da hot glei gar bei da d’ Hebamin gemacht
Und hot ihr sei D’ elendi dakratzt.
D’ Nachgeburt hat jahm 77 dä Saukerl an sein
oni zong 78 ,
Ar sagt, dös is guat für d’ Franzhosen, do werd ä
gwiß nöt betrogen.«
9. »Da saubertat Komadant vo , ko koa Unsitt-
lichkeit dalein, 79
Und äselm 80 is da größt Stier, brauchat jahhm 81 scho
lang da wögzschnein.
Dä Sauststier hat a scho oft grissn,
Erst kürzli hot jahm 81 a Bettlwei 82 aufn
aufi
Mitn Dickkopfatn vo müaßmas a no
probirn,
Dä thuat mit sein’m sei Magd oiwei 52
gristirn.
Wenn dä Saustier und Ehebröcha sei nöt
aufgeit,
Nacha kirnt da Thierarzt vo , daß a jahm 81
an wegschneit«
10. »An vo därfn ma nöt vogössn, 83
Dä thuat seine Knecht an vo hint eini
mössn.
Mitn Spinotan hot da Saukerl a Freud,
Drum springt ä oiwei 52 hint aufi auf die manatn
Leut. 84
Mit dem wärd da Teufi in da Höll dina lacha,
Dö wärd a großartigö Himmifahrt maeha.«
75 noch einer, 76 alt, 77 ihren, 76 hingezogen, 7fl darleiten
60 selbst, 61 ihm, 62 Bettelweib, 83 vergessen, 84 Männerleute.
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42
Grimm.
11. »Jatzt kirnt a Bauer,
Bei dem wätz a woita 85 saur,
Dä hot mit sein’m da Dian 86 oiwei 52 an ... .
eini g’schbim,
Und wias sehwanga is gwen hota ihr s’Kind wöga
trim,
Dös is da .... vo .... da Hami 87 da geschwoin, 88
Dem is gar nix z’sclilächt, sinst 89 häta an
sei Gehid 90 nit gschtobin.* 01
12. »Wenn grod da Foi 92 wa, daß man nach
hikemma,
Nacha müaß ma gon 93 erste an ... . und an . . .
hemehma,
Da ... . thuat nehman 94 sei Wei oiwei 02
Und da dä hot scho ois 95 voliuart, dä ko vo
lauta Nouth 96 nimma hausn.
An därfma a nöt vogössn, 83 dä hat da
Kellnerin .... ogmöße. 97
Dä Saustier hot an Kopf wia Doin 98
Und vo lauta .... und Huarn wirdn da Teufi boi
hoin."
Vo da . . . . und da . . . ., vo dö Saumenscha mengma 100
gar nix mehr song,
Dö 8oit 101 ma mit an Bischl Brennößl s’Loch recht
daschlong. 102
An Polizeidiena homa demnächst beim Hoiz-
stehin dawischt, 103
Aba d’ Famili bat uns dabarmt, sonst hätma jahm
seine vostohina 104 Haxn wöckbritscbt»
85 weiter, wenig, 86 der Dirne, 87 Hammel, 88 der geschwollene,
89 sonst, 90 Geld, 91 gestohlen, 92 Fall, 93 zum, 94 nebenan, neben-
bei, 95 alles, 96 Not, 97 angemessen, 98 Dohle, 99 bald holen,
100 mögen wir, 101 den sollte man, 102 dersehlagen, 103 Holzstehlen
derwischt, 104 verstohlene.
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Das Haberfeldtreiben.
43
13. »Da oit 78 .... von is a grundsehlechta Mo,
Dä glangt da ... . ihm a oiwei 52 o.
Dö . . . . is sei Erziehungstochta, dös is gewiß nit
dalong, 105
Und ä hat ihr an samt dö Oar in
einigschom. 106
I muß enk heut song, 107 ös is zwar a Schand,
Dös is da größt Huarnbock vom boaryschen Land.»
14. »S* Ehebröcha ko da Kaisa Karl gar nit dalein, 108
Drum muaßma heut a no auf obischrein. 109
Da Wirth vo hat a schlechts Gwissn,
Dem bigottischen Spitzbuam hat jetzt an Dian aufn ....
aufigsch ....
Dä Humbock hät gewiß ä schöns Wei,
Jetzt hamsn z’ Münga gseng, 110 s’ Hosentürl offa,
an in da Händ un fufzger im Mai.»
15. »Jatzt wärma 111 iban köma
Dä höt a 5 Mark hergehm fürn .... sei Lena,
Und d’ höta a opackt dö Saustier dö
gschwoin, 88
Weilan gern höt einigschom sein Blaukopf atn
Da und sei Oitö 112 dö duat 113 a da Teufi no
hoin 114
Dö ham an dös ganz Sachä ogscbtoin 115
Z’ Fresse hams eam a nix göm ois 5 Erdöpfi 116 und
a schlechts Kraut,
Dö miaßma oan schicka dä eana 117 mit an Bischl
Brennessl s’ Loch rächt dahaut »
16. »Da mit sein sehlächtn Ol,
Dä muaß a oihi 118 zum Teufi a d’ Höll,
105 erlogen, 106 eingeschoben, 107 sagen, 108 leiden, 109 hin-
abschreien, 110 gesehen, 111 werden wir, 112 alte, 113 die tut, 114 holen,
115 abgestohlen, 116 Erdäpfel, Kartoffel, 117 der ihnen, 118 hinab.
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44
Grimm.
Den tuats Kinda aufziaha gar nit recht frein,
Drum tuat as seine Oitn 112 a so weka treim,
Zwoa hams scho durchibutzt 119 und dös drit kirnt
boid 120 dro,
Is nit a sölas 121 a rächt schlächta Mo.»
17. «Da dös is a a saubana Mo,
Der hotn bei der oft aus und ei do.
Dö Jung hota a oiwei 52 müaßn
Aba jatz thuat äna oi 122 zwa scho grausn.
Er hätt si a scho zwoimoi 123 aufghenkt,
Wei äm dö Oit 76 koa Geld nimma schenkt.»
18. »Mit a da . . . . müßma lacha,
Wie a Pfarrabaumoasta 54 is gwen hot a müßn in
Kindsvotan macha.
Er hats glei auf amoi 124 weg zahlt, daß a schö do
gstan is, 125
S’ Kind is aba gstarm, 120 jatz hot a denkt is mas
Geld wieda gwiß.
Er hot glei an Advokatn gnorna und höt 's Geld
wiedamögn,
Do is äm oba da Fotz sauba bliem.»
19. »Zum .... müaß ma a umi schrein,
Zu dem köma amoi extri 127 zum Hoabafehitreim.
Mit da Köchin soizi ä fei 128 in Obacht nehma,
Und soit nit oiwei 129 mit jahm zum Huarn ins Hoiz 190
außiköma.
Dö Leut soiln nöt so schtehin, 131 schreit oiwei der
Spitzbua dä gschwohin, 132
119 durchgeputzt, getötet, 120 bald, 121 ein solcher, 122 ihnen
alle zwei, 123 zweimal, 124 einmal, 125 daß er schön da gestanden
ist, 126 gestorben, 127 einmal extra, 128 sollte er sich fei, 129 sollte
nicht alleweil, 130 Holz, Waldung, 131 sollen nicht so stehlen, 182 ge-
schwollene.
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Das Haberfeldtreiben.
45
Dawei 183 hot ä selba in Hoiz 130 ) draußt die größten
Barn gschtohin.» 134
20. »Jatzt kirnt da .... vo .... bei dem hots a aller-
hand Gwindn, 135
Den Huarnstingl konma dö meist Zeit bei dö Dirna
a da Kammer drin findn.
Dös thnat aba an sakrisch vodrüaßn, 136
Weila für den Saustier Vota hot macha müaßn.
Amoi hatn ’s Wei 137 grad beira Dirn drin daron, 138
aba da hota gschaut,
Nacha hots dem Huarnstingl d’ Diera beim Loch außi
ghaut.»
21. »Da dös is a, a süaßa a ganza vo-
druckta 139
Ara 140 jedn Kellnerin schuidi 141 und an Huarnstingl
an verruckta.
Dä schlaft a oiwei 52 im , Wirtshaus drin bis Gäst
furt ganga san,
Nacha wachta auf und gibt da Kellnarin d’ Hand.
Dö werat dan opurnpt 142 entweder um a Geld,
Oder er hauts zam wenn sonst nixn fehlt.
Es is zwa koa Wunda, wenna nit oiwei 52 bei seiner
Oitn 143 mag bleim,
Denn wenn Oana 144 die oschaut, kimmt oan ’s ... .
vorm schpeim.« 145
22. »Von oitn 143 , den Saustingl, hört man
netti Broaeka,
Dä thuat oiwei 52 d’ Schuimadl 146 in sein Zimma nei
locka.
133 derweil, 134 Bäume gestohlen, 135 Sachen, 186 verdrießen,
137 einmal hat ihn das Weib, 138 erraten, erwischt, 139 em süßer, ganz
verdaukter, 140 einer, 141 schuldig, 142 die wird dann angepumpt,
143 Alten, 144 einer, 145 speien, 146 Schulmädol.
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46
Grimm.
Nacha glangta mit seine düm Finga weia 147 schist
nimma ko,
Do Diandl um fünf Pfennig ’s oh.«
Schluß . 148
Es haben sich an dem heutigen Ilaberfeldtreiben
außer den anfangs erwähnten Personen noch folgende
Herren beteiligt und zwar:
Da Burgermaschta N. N. von Tegernsee als Vorstand,
Da Bezirksamtmann vo Rosenheim als Rath der Haberer
im bayerischen Oberland,
Dann der Oberamtsrichter von Wolfratshausen als
Compagnie-Commandeur,
Und da Graf N. N. kgl. Polizeirath vo Münga als
Postenkontroleur,
Da Doktor N. N. vo Münga als Gedichtsfabrikant,
Und da Oberbräu vo Hoizkirchn als Bierlieferant,
Dö soin 149 für ihra Müha alle zam leben mit einand.
Vivat hoch!!!
An Erzbischof vo Münga kinz ins 150 a no schö grüaßn,
Er soll uns fei ja vo da Kirch nit auschlieaßn.
Ehe wir diesen Platz verlassen, wollen wir noch
unsem erlauchtesten Prinz-Regenten Luitpold von Bayern
ein dreifach donnerndes Hoch ausbringen. Er soll leben:
„Vivat hoch!!!“
Für heut is jetz gar, jetz göbts Önk in d’ Ruah,
Denn schnehi müaßma wieda an Untaschberg zua.
147 weil er sonst, 148 von Hans Vogel gemachter Zusatz; die
Namen sind erdichtet, 149 sollen, 150 könnt ihr uns.
Tatsächlich war der Schluß folgender: Nach Verlesung der letzten
Strophe wurde das Lied geblasen „Was man aus Liebe tut.“ Dann
riefen die Ortsvertrauensmänner ihre Ortsangehörigen zusammen und
man zog in militärischer Ordnung wieder ab, wobei es öfters, z. B.
nach dem Gaissacher Treiben noch auf Heimwege Bier gab.
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Das Haberfeldtreiben.
47
4. Begleitumstände der Treiben.
Der Kampf gegen die Treiben hatte seit Jahren im
Bayerischen Oberlande aus der Bevölkerung heraus be-
gonnen. Es gibt Gemeinden, aus denen niemand verurteilt
wurde. Dort hatten Pfarrer und verständige Gemeinde-
bürger vereinbart, an den Sonnabenden die Schlafstellen
ihrer Haussöhne und Dienstknechte zu kontrollieren. Das
erregte den ganz besonderen Zorn der Haberer. Nicht
nur wurde bei einem der Pfarrer eingeschossen, so daß
der Pfarrhof noch lange die Spuren dieser Gewalttat zeigte,
sondern demselben, dem Lehrer und den besseren Bürgern
war ein eigenes (rechtzeitig verhindertes) Treiben zugedacht,
dessen Text mit den Worten beginnt:
»Gon äschta ki mas (können wir es) von Pfarra von
.... nima da lein (leiden)
dö hama scho lang amoi gmoat, mi willma mit seiner
extra ois Hobafehifreim« usw.
Des wackeren Zeugen, der die erste Verurteilung eines
Haberers ermöglichte, ist schon gedacht. Nicht minder
verdienen hohe Achtung Männer von Gmund, Dürnbach,
Aying, Oberpframmern, die die Bache nicht scheuten und
bei der Wahrheit blieben und längst vor Beginn der Unter-
suchungen offen ihre Mißbilligung ausgesprochen hatten
trotz zu fürchtender Bache und eines nicht genügenden
persönlichen Schutzes. Ein verheirateter Haberer war be-
stimmt, bei einem Gegner der Haberer in Dürnbach
einzuschießen. Mit scharf geladenem Gewehr zog er nachts
vor das Haus, wurde aber in der Nähe desselben, ehe er
schießen konnte, abgefaßt und ihm das Gewehr abgenommen.
Eine strafbare Handlung lag nicht vor, mit der Ausführung
derselben war noch nicht begonnen. Nun erlebte der
Haberer die Freude, daß ihm das Gewehr mit der Munition
von der Gendarmerie wieder in das Haus gebracht werden
mußte.
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48
Grimm.
Den Regungen der besseren Bevölkerung traten die
Haberer mit roher Gewalt entgegen. Soweit das Haberer-
gebiet reichte, ist Einschießen in Wohnungen und Stallungen
vorgekommen, Wiesfee, Gmund, — an beiden Orten kamen
Sprengstoffe in Anwendung — Hinterberg, Reitham, Ober-
warngau, Miesbach, Westerham, die Andermühle bei Valley,
Glonn, Kulbing, Egmating, Oberpframmern und Aying,
in all diesen Orten trugen Gebäude die Spuren der Gewalt-
tätigkeiten. Die Rotten beschossen die Gebäude minuten-
lang und richteten hierbei vorzugsweise ihre Schüsse gegen
die Schlafräume. Die Pächterin der Anderlmühle wurde
infolge des ausgestandenen Schreckens irrsinnig, ihr Mann
zum Krüppel geschossen. In Aying und Oberpframmern
wurden Viehstücke in den Stallungen erschossen. In
Glonn und Westerham traf das Einschießen die Gastlokale
dort wohnhafter Bayerischer Landtagsabgeordneter, die durch
Wort und Tat dem Habererunwesen und seinen Anhängern
entgegen getreten waren.
1896 und 1897 wurden über 60 Personen wegen
Einsebießens ermittelt und bestraft, 50 davon wurden auch
wegen Teilnahme am Haberfeldtreiben verurteilt.
Auch hier möge die Darstellung einiger Einschießungen
folgen und zwar zunächst das Miesbacher Einschießen, eine
unmittelbare Folge des dortigen Haberfeldtreibens.
a) Einschießen zu Miesbach.
Der Buchdruckereibesitzer G. M. in Miesbach hatte
am 10. Oktober 1893 in dem von ihm redigierten „Mies-
bacher Anzeiger“ einen Artikel über das kurz vorher
stattgehabte Haberfeldtreiben veröffentlicht und am Schlüsse
des Artikels den ruhigen und verständigen Teil der
Bauernschaft aufgefordert, seinen Einfluß dahin geltend zu
machen, daß der veraltete unselige Brauch des Haberfeld-
treibens aus der Miesbacher Gegend verschwinde. Ein
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Das Haberfeldtreiben.
49
weiteres gegen die Haberfeldtreiben gerichtetes Gedicht
erschien in der Nummer vom 19. Oktober 1893.
Als Antwort darauf bekam M. anfangs November 1893
einen mit falschem Namen Unterzeichneten Brief, in welchem
sein Blatt als Waschzettel bezeichnet und er aufmerksam
gemacht wurde, daß er, wenn einmal ein '/•* Pfd. schweres
Paketchen mit weißer Wolle gefüllt ihm in die Hände
oder in das Haus fallen sollte, nicht den Verdacht auf die
Haberer fallen lassen möge. M. beantwortete diesen Brief
in seinem Blatte in spöttischer Weise. Hiedurch zog er
sich den Haß des damaligen Gmünder Meisters, des
Ranhardtbauern Johann Feicht zu.
Dieser bestellte zunächst Ende März oder Anfangs
April 1894 10 — 12 Haberer an den Hacklziegelstadel
in Ostin. Die Mehrzahl erschien; aber X. P., der die
Expedition leiten sollte, blieb aus. Sie wurde deshalb verlegt.
Für den 7. April 1894 wurden neuerdings von Feicht
sieben Haberer ausgewählt und zum Schusterbauemkirchl
bei Festenbach geladen. Sie erschienen teils bewaffnet,
teils wurden sie an der bezeichneten Stelle, wo sie
zunächst bewirtet wurden, mit Schußwaffen versehen.
Die Leitung übernahm X. P. Sie zogen von da nach dem
1 l /i Stunde entfernten Markte Miesbach, versteckten sich
in der Nähe eines Kellers und stellten sich am 8. April
1894 früh Vh Uhr nach Anleitung des X. P. vor dem
mitten im Markte gelegenen Hause des M. auf, schossen
je einen Schuß gegen das Haus ab, einer warf noch einige
Steine gegen dasselbe, und liefen dann so schnell als
möglich davon.
Eine Kugel war durch den zum Schutze der Laden-
fenster im Erdgeschosse angebrachten Holzladen gedrungen
hatte die dahinter befindliche Scheibe des Ladenfensters
zertrümmert, zwei Türen durchschlagen und prallte von
einer Wand ab; zwei weitere Geschosse durchbohrten je
ein Fenster eines im ersten Stockwerke befindlichen Zimmers
Der Pitaral der Gegenwart. IV. 4
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50
Grimm.
und drangen in die Wand und Decke des Zimmers, ein
vierter Schuß endlich beschädigte die Mauer an der Giebel-
seite des Hauses.
b. Einschiessen in Reitham.
Nach der Verhaftung des Haberermeisters Hans Vogl
bildete sich das Gerücht, daß die Einleitung des Verfahrens
auf eine Anzeige eines Wirtes von Reitham zurückzuführen
sei. Der Wirt hatte einige Tage vorher vor einer
Restauration mit einem Gendarmen gesprochen, während
die Personen, an denen sich Hans Vogl nach §§ 176, 177
St.-Gb. vergangen hatte, in der Wirtschaft anwesend waren.
Der Anstifter zur Tat war Franz Vogl, der Bruder
des Hans Vogl, der seit 1894 auch die Drucklegung der
Habererveree veranlaßte. Er warb teils selbst, teils durch
einen früheren Knecht des Hans Vogl die Teilnehmer. Er
stachelte sie durch Spöttereien, wie: „hast halt keine
Schneid“ dazu an. Am 24. September 1894 fanden sich
denn auch zehn, nicht wesentlich vorbestrafte Personen, die
aber größtenteils später der Teilnahme am Haberfeldtreiben
überführt wurden, in einer Kiesgrube bei Bernloh ein.
Dort gab es Bier und Brot, und war auch Franz Vogl
anwesend, der sich aber nach Rücksprache mit einigen
Teilnehmern in das Gasthaus Wall entfernte, um sich den
Alibibeweis zu sichern. Franz Vogl gab auch dem
früheren Knechte eine mit Pulver gefüllte Flasche mit
Zündschnur mit, die aber nicht verwendet wurde.
Die zehn zogen nach Reitham, umstellten das Haus und
gaben dann gleichzeitig eine größere Anzahl von Schüssen ab.
Über die Folgen konstatiert das Urteil des Kgl. Land-
gerichtes München II am 24. Mai 1897 folgendes:
In der Nacht vom 24. zum 25. Septbr. 1894 gegen
12 Uhr wurden plötzlich die Bewohner der Wirtschaft in
Reitham durch mehrere Schüße und großen Lärm aus dem
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Das Haberfeldti'ciben.
51
Schlafe geschreckt. Sie hörten Fenster klirren und das
Johlen und Schreien mehrerer vor dem Hause befindlicher
Personen. Eine Frau rief noch während geschoßen wurde
zum Fenster hinaus; aber die Burschen vor dem Hause
kümmerten sich nicht darum. Es fielen auch nachher noch
Schüsse auf der Nordseite des Hauses. Zugleich sah die
Frau, wie vier bis fünf Personen der Ostseite des Hauses entlang
gingen, und hörte, wie hier Fenster klirrten. Der Wirt war
anfänglich vom Schrecken überwältigt Als er sich gefaßt
hatte, ergriff er einen Revolver und schoß zum Fenster
hinaus. Von den Tätern sah er nichts mehr.
Als der Wirt am nächsten Morgen die Folgen der
nächtlichen Tat besichtigte, stellte er folgende Be-
schädigungen fest Von den Fenstern des Gast- und
Herrnzimmers im Erdgeschoße waren 1 3 Scheiben, an jedem
Fenster mindestens eine — zertrümmert; auch waren bei
mehreren Fenstern die Querleisten durchschlagen. An zwei
Küchenfenstern und einem Fenster der Fremdenstallung
waren sechs Scheiben eingeschlagen, ebenso war ein Fenster
der Remise auf der Westseite des Hauses zerschlagen
worden.
Durch die drei nach Norden gelegenen Fenster der
sog. guten Stube im ersten Stockwerke — gerade über
der Gaststube — und durch zwei nach Osten gehende
Fenster dieser Stube, welche der Wirt wenige Monate
vorher als Schlafzimmer benutzt hatte, war je ein Schrot-
schuß gefeuert worden, wodurch 10 Fensterscheiben zerstört
wurden. Vier von den Schüssen waren in die Zimmerdecke
gegangen, die mit Schroten ganz bedeckt war.
Ein fünfter Schuß mußte von einem erhöhten Standorte
aus abgegeben sein, wahrscheinlich von einem Holzstoße
aus, denn er war nicht in die Decke gedrungen, sondern
hatte die gegenüberliegende unmittelbar zum Schlafzimmer
der Wirtseheleute führende Türe getroffen. Wenn jemand
in dem Augenblicke der Abgabe des Schusses aus dem
4 *
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52
Grimm.
Schlafzimmer heraus in die gute Stube getreten wäre, so
hätte er getroffen werden können.
Auch in das Schlafzimmer des Wirtsknechtes wurde
geschossen. Eine Revolverkugel zertrümmerte das Fenster,
und drang in die Zimmerdecke ein.
Ebenso gingen in eine Dachkammer zwei Schrotschüsse.
Der Schaden betrug mindestens 125 Mk. Die Gast-
zimmer, die gute Stube, sowie die Fremdenstallung waren
unbrauchbar geworden.
Die Wirtin befand sich damals in gesegneten Um-
ständen. Durch das Einschießen wurden sie so in Schrecken
nnd Aufregung versetzt, daß sie ihrem Mann beständig
quälte, er sollte doch sein Anwesen verkaufen und aus
der Gegend fortziehen. Einige Tage nach dem Einschießen
mußte sie sich zu Bette legen. Etwa vier bis sechs Wochen
später machte sie eine Fehlgeburt und kränkelte fort, bis
sie am 18. Januar 1895 starb.
Wenn auch nicht nachgewiesen werden kann, daß ihr
Tod mit dem erlittenen Schrecken in unmittelbarem Zu-
sammenhang steht, so ist doch zweifellos, daß die Wirtin
monatelang schwer unter der Furcht zu leiden hatte, die
der Vorfall bei ihr erregt hatte.
Bestrafung erfolgte aus §§ 305, 47, 49 St.-Gb. Zwei Teil-
nehmer erhielten 1 '/* Jahr, vier je 1 Jahr, drei je 9 Monate,
zwei je 6 Monate Gefängnis, wobei auch die Untersuchungs-
haft angerechnet wurde. DerVogl'sche Knecht war flüchtig.
c. Einschießen in Hinterberg.
Am 3. Oktober 1894 fand vor dem Schöffengerichte
Miesbach Hauptverhandlung gegen den in Untersuchungs-
haft befindlichen Hans Vogl wegen Sachbeschädigung und
Drohung statt. Der Hofnachbar Jakob Stumböck wurde
als Zeuge vernommen. Die Verhandlung endete mit der
Verurteilung des Vogl zu 6 Wochen Gefängnis. Als
Vogl abgeführt wurde, rief er dem Stumböck noch im
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Das Haberfeldtreiben.
53
Sitzungssaale in Gegenwart des Gerichts zu: „Das bringt
dir auch keine Rosen.“ —
In der Nacht vom 24. zum 25. Oktober 1894 zogen
zehn Personen, darunter die „Totengarde“, mit Gewehren,
Äxten und Prügeln versehen, an den Hof des Jakob
Stumböck zum Gschwendtner in Hinterberg. Sie stellten
sich rings um das Haus nnd schlugen auf ein gegebenes
Zeichen von den 23 Fensterstöcken der im Erdgeschosse ge-
legenen Räumlichkeiten, Wohnzimmer, 2 Nebenzimmer
Küche und Stallung 120 Fensterscheiben ein, zertrümmer-
ten mit einer Axt die Küchentüre derart, daß sie
durch eine neue ersetzt werden mußte, hängten die Fenster-
läden aus und zerhackten sie, feuerten endlich gegen die
Fenster der im ersten Stockwerke gelegenen Schlafzimmer
eine größere Anzahl scharfer Schüsse, von denen sechs in
die Rückwand des Zimmer gingen. Das Haus war auf
einige Zeit unbewohnbar gemacht Der Schaden betrug
weit über 100 Mark.
Als es nach dem Schießen ruhiger geworden war,
kehrte Jakob Stumböck, der sich verborgen hatte, in
sein Schlafzimmer zurück und hatte dort kaum Licht ge-
macht, als ein letzter Schuß fiel, der ein Brett der Altane
durchdringend, 50 cm unter dem erleuchteten Fenster in
die Hauswand eindrang.
Auch diese Sache leitete wie das Einschießen in
Reitham Franz Vogl. Zur Ausführung waren zuerst
Haberer aus der Gegend von Westerham bestimmt. Diese
kamen nicht. Eine Woche später wandte er sich an die
Haberer in Gmund und Festenbach. Zehn kamen zunächst
beim Wendlbauem in Festenbach zusammen, der sie mit
Bier bewirtete. Dann zogen sie zum Daxeranwesen. Die
Frau des Hans Vogl bewirtete sie nochmals und von da
zogen sie zu dem etwa V 2 Stunde entfernt gelegenen
Gschwendtnerhof in Hinterberg, wo sie die bereits ge-
schilderten Verwüstungen anrichteten. Franz Vogl zog,
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54
Grimm.
wie auch in Reitham, nicht persönlich mit. Ei hatte nur
die Auswahl der Personen getroffen und war in der Nacht
vom 24./25. Oktober in München.
d. Einschießen zu Pframmern.
Für die Nacht vom 15./16. November 1895 war ein
Haberfeldtreiben iu Glonn, Bez. A. Ebersberg, anberaumt.
Alles war vorbereitet, die Gäste aus München, die be-
kannten Wilderer, waren mit den Abendzügen nach Zorne-
ding und Grafing gefahren, die Haberer aus den Gemein-
den Pframmern, Harthausen und Umgegend hatten sich
teils in einer Wirtschaft in Pframmern, teils in einem
Stadel in Esterndorf gesammelt und zechten. Aber es
war nicht gelungen die Gendarmeriemannschaft von Glonn
zu täuschen; dieselbe patroullierte vielmehr gerade in der
Anmarschrichtung der Haberer gegen Pframmern. Der Leiter
gab die Signale zum Anmarsch der Haberer nicht, die
Ortsführer blieben aus. Die in Esterndorf versammelte
Mannschaft, 10 Personen, beschloß, durch Biergenuß auf-
geregt, auf Anstiftung eines Teilnehmers bei einem
Bauern in Oberpframmern einzuschießen, „damit man
nicht umsonst ausgerückt sei“. Der Bauer hatte das
fluchwürdige Verbrechen begangen, Zeuge einer Rauferei
zu sein, an der der anstiftende Bursche beteiligt war,
und hatte seine Wahrnehmungen wahrheitsgetreu ange-
geben. Die mit Gewehren bewaffneten Haberer zogen vor
das Haus und gaben wenigstens 60 Schüsse gegen dasselbe
ab, zertrümmerten die Fenster und eine Kugel blieb gerade
am Kopfende des Bettes der Bauemeheleute in der Wand
stecken. Die Bedrohten hatten sich aus Furcht unter dem
Bette versteckt.
Damit war die Sache noch nicht beendet Am
3. Dezember 1895 fand in München wegen der Rauferei
die Hauptverhandlung statt. In der Nacht vorher wurde
ein Ochse im Stalle des Bauern erschossen.
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Das Ilaberfeidtreiben.
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Die Überführung der Täter gelang, aber erst nach
großer Mühe. Der Bauer hatte beim Aufblitzen der
Schüsse einen der Teilnehmer erkannt und auch den Er-
schießer seines Ochsen richtig bezeichnet. Als die Unter-
suchung eröffnet wurde, stellten beide Angeschuldigte
Entlastungszeugen, der erkannte Einschießer vom 15./16.
November drei und seine Angehörigen; erstore bestätigten
auf Eid, daß der Angeschuldigte zur Zeit des Einschießens
in seinem 3 /i Stunde entfernten Elternhause war. Später
ergab sich, daß einer von den Entlastungszeugen mit ein-
geschossen hatte; und der Ochsentöter brachte als Ent-
lastungszeugin die Tochter seines Dienstherrn, die just
zu der Zeit des Einschießens den Dienstknecht in das eine
Stunde entfernte Elternhaus eingelassen hatte.
Die Entlastungszeugen standen später wegen Meineides
vor dem Schwurgerichte in München und wurden verurteilt.
e. Angriffe auf den Kgl. Förster in Wiessee.
Standen die vorstehenden Gewalttaten in Miesbach,
Reitham, Hinterberg und Oberpframmern in Verbindung
mit dem Habererwesen selbst, so handelt es sich bei den
jetzt zu schildernden um gemeine Racheakte eines hervor-
ragenden Haberers gegen einen ihm mißliebigen Königl.
Beamten.
In der Nacht vom 17. zum 18. April 1895 wurde der
Kgl. Förster in Wiessee bei Tegernsee durch ein Ge-
räusch aus dem Schlafe geweckt, dadurch verursacht
daß ein schwerer Gegenstand, der im Fluge eine Scheibe
des geschlossenen Fensters des im Erdgeschosse gelegenen
Schlafzimmers zertrümmert hatte, in das Zimmer geworfen
wurde und mit großem Lärm auf dem Zimmerboden auffiel.
H., der sofort vermutete, daß gegen ihn ein Attentat der in
den letzten Jahren in der Gegend von Tegernsee üblich
gewordenen Art (Reitham, Hinterberg) beabsichtigt sei
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Grimm.
sprang rasch aus dem Bette und griff nach einem an der
Wand hängenden geladenen Gewehr.
In demselben Augenblicke hörte er, wie ein Gegen-
stand außen auf dem geöffneten Fensterladen auf schlug,
worauf sofort eine heftige Detonation erfolgte.
Unmittelbar darauf fielen rasch hintereinander drei
Schüsse, welche gegen ein Fenster des im ersten Stocke
gelegenen Schlafzimmers des Försterstöchterchens gerichtet
waren.
Dann trat vollkommene Stille ein.
In Folge des erlittenen hochgradigen Schreckens
waren die Bewohner des Försterhauses derart in Angst
versetzt daß sie weder Licht zu machen noch sich nieder-
zulegen wagten, obwohl die Uhr erst 5 Minuten nach
V 2 I Uhr zeigte.
Bei Tagesanbruch ließ sich nun ersehen, daß der in
das ebenerdige Schlafzimmer durch dessen Fenster ge-
worfene Gegenstand eine Bierflasche war, welche mit
Sprengpulver, Schroten, Nägeln und Schwefelbrocken ge-
füllt und oben am Halse mit Baumwollwatte ver-
schlossen war.
In einem durch die Zertrümmerung der Fenster-
scheibe bewirkten Sprunge im Glase hing eingeklemmt
ein etwa 40 cm langes Stück einer Zündschnur, das an
dem einen Ende auf eine Länge von zirka 20 cm ver-
brannt war.
Vor dem Hause fand sich unmittelbar unter dem
Fenster, durch welches die Flasche geworfen worden war,
am Boden ein schwarzer Brandfleck und an der Wand eine
anscheinend vom Pulver geschwärzte Stelle, in der Nähe
lagen Stückchen einer etwas angeschwärzten Baumwollwatte.
Auf Nachsuchen entdeckte man etwa 26 m vom Hause
entfernt ein Stück eines zersprungenen V 2 m langen
Metallrohres, wie solche Rohre zu Wasserleitungen ver-
wendet zu werden pflegen.
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Das Haberfeldtreiben.
57
Nach den Spuren war dieses Metallrohr, das mit
Pulver gefüllt war, gegen einen Fensterladen am Schlaf-
zimmer der Försterseheleute geworfen worden, dort aber
abgeprallt. Wäre es aber eine Handbreit weiter links ge-
flogen, so wäre es genau in die im Schlafzimmer
stehenden Betten der Försterseheleute, während diese
schliefen, gefallen und dort explodiert.
So war durch die drei Schüsse, die in die Fensterladen
gingen, von denen zwei auch in die Zimmerdecken ein-
drangen, kein erheblicher Schaden entstanden.
Der Kgl. Förster H. hatte sofort gegen den Veran-
stalter des Attentats X. P. Strafanzeige erstattet, die Vor-
untersuchung war resultatlos; X. P. wurde im August
1895 außer Verfolgung gesetzt.
Während der Untersuchung glaubte X. P., daß es
wesentlich zu seiner Entlastung dienen könnte, wenn
neuerlich ein ähnliches Attentat gegen den Förster H.
verübt werden würde und er bezüglich dieses Attentats
ein einredefreies Alibi nachzuweisen vermöchte.
Von diesen Erwägungen geleitet, kam er anfangs
Juni 1895 wiederholt zu B., der sowohl in Miesbach, als
beim ersten Attentat beteiligt war, und überredete ihn zur
Vornahme eines neuen Attentates, wobei er ihm zwei in
weiche Tonmasse eingeschlagene Dynamitpatronen über-
gab. In den Ton waren Rehpfosten, Schrotkörner und
Kupferzündhütchen eingeknetet und jeder der so gebil-
deten Sprengkörper mit einem Hadern umwickelt, mit
Stricken und einem Drahtstücke verschnürt und mit einer
Zündschnur versehen. X. P. und B. gewannen einen
weiteren Teilnehmer B., B. und B. fuhren am 8. Juni 1895
in einem Kahne nachts über den Tegernsee.
Vor dem Försterhause angelangt, warf der eine B.
durch ein Fenster des zur ebenen Erde gelegenen Wohn-
zimmers das eine der von P. erhaltenen Sprenggeschosse.
Förster H. hatte schon seit einiger Zeit ein neuer-
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58
Grimm.
liches Attentat befürchtet und verschiedene Sicherheits-
maßregeln getroffen. Er wachte in fraglicher Nacht bis
V 2 I Uhr mit seinem Sohne, ohne etwas verdächtiges zu
bemerken.
Ebenso hatten die Gendarmen von Tegernsee, die
wiederholt ganze Nächte vor dem Försterhause wachten und
dies auch in der Nacht vom 7./8. Juni 1895 taten, sich entfernt,
da die Nacht vollkommen mondhell war und deshalb mit
Rücksicht auf die vorgerückte Zeit die Gefahr eines Atten-
tates beseitigt schien.
Kaum hatte Förster H. das Klirren des zerbrochenen
Fensters gehört, als er mit geladenem Gewehre von seinem
Schlafzimmer in das anstoßende Wohnzimmer sprang und
durch das Fenster dreimal ins Freie schoß, welchem Bei-
spiele sein im ersten Stocke sich aufhaltender Sohn so-
fort folgte.
Während nun Förster H. noch am Fenster stand, ex-
plodierte unmittelbar vor seinen Füßen der am Boden
liegende durchs Fenster hereingeworfene Gegenstand, den
er vorher nicht beachtet hatte.
Die Detonation war ziemlich heftig, durch die Ex-
plosion wurden Lehmteile an die Decke des Zimmers ge-
schleudert; eine Beschädigung des Zimmers oder eine Ver-
letzung des Försters erfolgte nicht, nur hatte die abge-
brannte Zündschnur am Zimmerboden einige Brandflecken
verursacht.
Andern Tags fand sich im Zimmer der in einen Ha-
dem eingewickelte Tonkuchen, der die nicht explodierte
Dynamitpatrone enthielt.
Vor dem Hause fand sich der zweite dem im Zimmer ge-
fundenen völlig gleiche Lehmkuchen, an welchem sich noch
die nicht angebrannte Zündschnur mit Sprengkapsel befand.
Diesen zweiten Sprengkörper hatte der zweite B. zur
Fundstelle gebracht und ihn dann, als er auf die Schüsse
des Försters die Flucht ergriff, zurückgelassen.
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Das Haberfeldtreiben.
69
Der in das Zimmer geschleuderte Sprengkörper ist
nur in Folge eines Konstruktionsfehlers nicht in der be-
absichtigten Weise explodiert.
Bei Explosion in der gewollten Weise wäre der im
Zimmer anwesende Förster H. den schwersten Gefahren
für Leib und Leben ausgesetzt gewesen.
X. P. hatte sich ein einredefreies Alibi in einem viel-
besuchten Gasthause gesichert.
Die Nachforschungen nach den Tätern blieben auch
hier zunächst erfolglos.
Erst im Dezember 1896 ergaben sich in den großen
Habereruntersuch ungen hinreichende Verdachtsgründe gegen
die Teilnehmer, und es wurde festgestellt, daß bei dem einen
Attentate sechs Personen, beim andern zwei beteiligt waren,
darunter nur eine, die nicht an dem Miesbacher Haber-
feldtreiben teilgenommen hat, und drei, die schon an
anderen Einschießen beteiligt waren.
Die beiden Attentate waren Racheakte des X. P., eines
gefürchteten Haberers, der sich als sog. Brandmetzger, ge-
legentlich als Bergführer oder Zitherspieler seinen Erwerb
verschaffte und im Verdachte des Wildems stand. Förster
H. war mehrfach gegen das exzessive und herausfordernde
Benehmen desselben aufgetreten, und war mit die Ver-
anlassung, daß X. P. zur Arbeit in einer Wirtschaft in
Wiessee nicht mehr zugezogen wurde.
Um aber die Teilnehmer zu gewinnen, spiegelte er
ihnen vor, die Leute von Wiessee und namentlich die in
den Kgl. Staatswaldungen beschäftigten Holzarbeiter hätten
Grund, sich über den Förster zu beschweren und seien
deshalb an die Haberer mit der Bitte herangetreten, dem
genannten Förster derart mitzuspielen, daß er sich in Wies-
see nicht mehr halten könne.
In der Tat hat ein Teil der Attentäter den Kgl. Förster
nicht einmal vom Sehen gekannt.
Durch Urteil des Schwurgerichtes München vom
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60
Grimm.
26. Februar 1898 wurden X. P. und B. wegen je zwei
Verbrechen wider das Sprengstoffgesetz vom 9. Juni 1884
zu Zuchthausstrafen von 6 bezw. 5 Jahren, drei weitere
Beteiligte wegen Vergehens der Sachbeschädigung zu 8
und 6 Monaten Gefängnis verurteilt, und zwei Angeklagte
freigesprochen.
5. Strafen.
Verurteilt wurden annähernd 400 Personen, da einzelne
aber wiederholt beteiligt waren, ergaben sich etwa 560 Ver-
urteilungen.
Die Verurteilungen wegen der Haberfeldtreiben er-
folgten auf Grund der §§ 125, Abs. 1 und 127, Abs. 1
und 2 St.G.B. Letztere Stelle wurde in den Fällen an-
gewendet, in welchen eine Gewalttätigkeit gegen Personen
oder Sachen nicht erwiesen war, aber die unbefugte Bil-
dung eines bewaffneten Haufens vorlag, erstere in den
Fällen, in welchen wie bei den dargestellten Treiben bei
Miesbach, Sauerlach, Steinhöring, Sachsenkam solche Ge-
walttätigkeiten erwiesen waren.
Diese Rechtsauffassung isf vom Reichsgerichte wieder-
holt gebilligt worden.
In den Landtagsverhandlungen 1897 wurde mehrfach
der von den Verteidigern ausgehende Vorwurf vorgebracht,
die Gerichte hätten sich gescheut, die Haberermeister, —
denn nur diese konnten in Frage kommen — nach § 125,
Abs. 2 St. Gb. als Rädelsführer zu erachten und sie vor
die Schwurgerichte zu bringen.
Nichts ist irriger als diese Meinung. Nach dem Er-
gebnisse des Strafverfahrens würde der im Strafrechte nicht
genau umgrenzte Begriff des „Rädelführers“, also hier einer
bei dem Haberfeldtreiben beteiligten Person, welche bei
dem ganzen Vorgänge, sei es perönlich, sei es durch
Zwischenpersonen, sei es für die ganze Menschenmenge,
sei es für einen Teil derselben, sei es physisch, sei es
psychisch, die leitende Rolle spielte, nur gegen den 1894
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Das Haberfeldtreiben.
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verlebten Ranliardtbauern Feicht bei dem Miesbacber
Treiben zutreffend gewesen sein. Der Begriff „Rädels-
führer“ beim geschilderten Sauerlaeher Treiben konnte
beispielsweise weder gegen den Bürgermeister St., noch
gegen den Meister B. K., noch gegen einen anderen Teil-
nehmer der Faistenharer Besprechung angewendet werden,
ebensowenig gegen irgend einen anderen Teilnehmer am
Treiben. In ähnlicher Weise lagen die Verhältnisse bei
den übrigen Treiben. Auch war es nicht möglich, die
Alternative des § 125 Abs. 2 St.G.B. anzuwenden, nach
welcher dem Rädelsführer der Plünderer, Vernichter, Zer-
störer von Sachen gleich stehen ; denn eine derartige Tätig-
keit konnte in den abgeurteilten Fällen niemanden nach-
gewiesen werden. Es ist aber auch die Annahme nicht
berechtigt, daß die Geschworenen milder als die Gerichte
gewesen wären. Die Geschworenen, die den Hans Vogl
1895 wegen dreier Verbrechen der Notzucht begangen an
derselben Frau 1888, 1891 und 1893 verurteilten, hätten
auch die anderen Meister verurteilt, denn gerade die bäuer-
liche Bevölkerung im Oberlande, aus der immer der eine
oder andere unter den jeweiligen Geschworenen ist, war
des ekelhaften Treibens längst müde.
§ 125 Abs. 1 St.G.B. kam auch bei dem ersten Ein-
schießen in Oberpframmern zur Anwendung. Hier bildete
sich die einschießende Menge aus unbestimmt welchen und
unbestimmt wievielen Personen, die bereit waren, zum
Haberfeldtreiben nach Glonn zu ziehen. Der (inzwischen
verstorbene) Hauptanstifter entzog sich der Aburteilung
durch die Flucht in die Schweiz, die ihn später wegen
Meineidanstiftung auslieferte, worauf er auch bestraft wurde ;
diese Flucht schützte ihn dagegen vor Verurteilung nach
§ 125 StG.B., da die Schweiz wegen Landfriedensbruchs nicht
ausliefert und so eine Bestrafung nach der Auslieferung
wegen des Grundsatzes der Spezialität und Art 4 des Deutsch-
Schweizerischen Auslieferungsvertrages unmöglich war.
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62
Grimm.
Die Bestrafung der Einschießer erfolgte nach §§ 303
und 305 St G., und soweit Sprengstoffe in Frage kamen,
nach dem Gesetze vom 9. Juni 1884. Auch hier hat sich
der frühere Hans Vogl’sche Knecht, der in Reitham eine
mit Pulver gefüllte Flasche bei sich hatte, der Strafe durch
die Flucht entzogen.
Eine Reihe von Personen hatten wegen verleumde-
rischer Beleidigung gegen die Meister und Veranstalter der
Treiben Strafanträge gestellt. Sie zogen aber die Anträge
zurück, als die Meister und Veranstalter die Erklärung ab-
gaben, nichts beweisen zu können, und keine Absicht zu
verleumden und zu beleidigen gehabt zu haben. Die
Meister kannten in der Regel die Personen gar nicht, denen
die Schmähungen galten.
Der Beteiligung der einzelnen entsprechend waren auch
die Strafmaße. Auch hier kommt in erster Linie Hans
Vogl. Die gegen ihn schließlich ausgesprochene Gesamt-
strafe überstieg 15 Jahre Zuchthaus, auf die in Anwendung
des § 79 St. G. erkannt wurde, da namentlich die Ver-
leitungen zum Meineide hauptsächlich erst nach seiner im
April 1895 erfolgten Verurteilung durch den erwähnten
Briefwechsel unternommen wurden. An Strafhöhe folgte
sein Bruder Franz Vogl, der als Gesamtstrafe etwa
10 Jahre Zuchthaus zu erstehen hatte, an dritter Stelle
X. P., geboren in Landau an der Isar, der Führer der
„Totengarde“, wie er selbst sich benannte, der Veranstalter der
Attentate in Wiessee, weiter beteiligt an dem Einschießen in
Hinterberg und in Miesbach und an mehreren Haberfeldtreiben,
mit 9 Jahren Zuchthaus. An vierter Stelle kommt B. K.,
der Bauernsohn von Altmünster, beteiligt beim Einschießen
in Westerham, bei den Haberfeldtreiben Sauerlach, Aying,
Harthausen u. a. und schließlich noch wegen Gefangenen-
meuterei mit 8 Jahren Gefängnis bestraft.
Dann kommen die Meineidigen, die Einschießer und die
Mitglieder der „Garde“ aus der Gegend von Gmund, J. Sch.,
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Das Haberfeldtrcibcn.
63
I. R., M. G. n. s. w. mit Strafen von 4 — 6 Jahren Gefängnis.
Keiner von diesen wurde später begnadigt. Anders geschah
es bei den Minderbeteiligten, die bis 3 Jahre Gefängnis
erhielten. Die Gerichte hatten Strafen von 14 Tagen bis
3 Jahre, die höchsten wegen des Treiben bei Miesbach,
ausgesprochen. Innerhalb dieses Rahmens wurden die
Strafen unter Berücksichtigung aller Umstände, Vorstrafen,
Art der Beteiligung, Bewaffnung, Stellung als Vertrauens-
mann, Vorposten, einfacher Mitläufer zugemessen. Bei der
überwiegenden Mehrzahl wurde die Strafe auf die Hälfte,
bei manchen auf ein Drittel durch die Gnade des Prinz-
regenten Luitpold von Bayern nach den Gutachten des da-
maligen bayerischen Justizministers Freiherrn von Leonrod
ermäßigt Gleiche Rücksicht trat bei Einziehung der nicht
sehr erheblichen Kosten der Strafverfahren ein. Es wurde
hier nicht, obwohl Gesamtverbindlichkeit ausgesprochen war
ein wohlhabender als leistungsfähig herausgegriffen, sondern
es fand eine Verteilung statt mit Nachschußverfahren,
ähnlich wie bei in Konkurs befindlichen Genossenschaften.
Immerhin hat das Habererunwesen mit seinen Gewalt-
taten und später den vielen Verurteilungen Leid und
Unheil über (las schöne bayerische Oberland gebracht.
Möge der alte Brauch, der in seiner legendären Reinheit
sich nicht erhalten hatte und nicht erhalten kann, auch
nicht nötig ist, begraben sein!
Leider scheint dieser Wunsch, mit dem auch der
Regierungsvertreter 1897 seine Ausführungen schloß, sich
nicht erfüllen zu sollen. Anfang Oktober 1906 hat nach
Zeitungsnachrichten mitten im alten Haberergebiete bei
Pienzenau wieder ein Haberfeldtreiben stattgefunden. Man
nahm auch einige Verdächtige fest. Diese wurden aber
alsbald wieder entlassen und wie 1893 mit Jubel empfangen.
Soll sich wirklich die alte Unsitte nicht ausrotten
lassen? Sollen die alten Zustände wieder aufleben?
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Der Gatte als Totschläger.
Von
A. Bertseh, ev. Zuchthausgeistlichen in Ludwigsburg (Württemberg).
Am 28. Juli 1904 erwachte vor Tagesgrauen (es war
bald nach 2 Uhr) der Ortsvorsteher in H., einer ca. 1200
Seelen zählenden Landgemeinde, infolge eines Jammer-
gescbreis. Es war der Nachtwächter R., der seine Nach-
barn weckte mit dem Klageruf:
„Mein Weib, mein Weib! kommt nur! sie liegt in der
Stube auf dem Boden in einer Lache Blut.“
An der Unglücksstätte angekommen, sah der Schult-
heiß in der Wohnstube des Nachtwächters die Leiche der
Frau, nur mit dem Hemd bekleidet, zwischen Bettlade und
Kommode am Boden liegen, den Kopf in einer großen
Blutlache. Der gleichzeitig b erbeigerufene Leichenschauer
konstatierte die bereits vorhandene Leichenstarre ; der Tod
mußte schon vor l'/ 2 — 2 Stunden eingetreten sein. Auf
einer Bank daneben saßen im Hemd ruhig und teilnahms-
los zwei Kinder, ein fünf- und ein zehnjähriges Mädchen,
während in der Wiege das einjährige Kind schlief. Der
Vater der Kinder saß stumpf vor sich hinbrütend auf der
Bettladkante; sein Benehmen kam den Anwesenden „son-
derbar und auffallend“ vor.
Selbstmord war von vornherein durch die Sachlage
sowohl, wie durch die Persönlichkeit der Getöteten aus-
geschlossen.
Der zunächst auftauchende Gedanke an einen Unglücks-
fall — Unterleibsblutung oder Blutsturz — wurde bald
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Der Gatte ab Tutschläger.
65
niedergeschlagen durch die von dein Leichenschauer und
der Hebamme vorgenommene Untersuchung: sie entdeckten
zuerst im Genick und später auf der Brust und im Bücken
verschiedene Wunden, nicht weniger als 13, von denen
nach Aussage des herbeigerufenen Arztes vier mit einem
stumpfen, neun mit einem spitzschneidigen Instrument von
außen her beigebracht worden sein mußten.
Während der Ehemann R. bis dahin keinerlei Ver-
mutung über die Todesursache ausgesprochen hatte, äußerte
er sofort nach der Entdeckung der ersten Wunde: „Es
fehlt mir auch Geld.“ Auf den Vorhalt des Ortsvorstehers,
warum er das jetzt erst sage, erwiderte er: „Ja, habe ich
das nicht schon gesagt?“ Ein Beutel mit ca. 13 Mk.
„Farrengeld“ sollte aus der nebenstehenden Kommode ab-
handen gekommen sein, in der es verwahrt gewesen und
deren obere Schublade offen stand und augenscheinlich
durcheinander gewühlt war. Gefragt, wann er den Schaden
entdeckt habe, erzählte er, als er von seinem nächtlichen
Kontrollgang , den er VH 2 Uhr angetreten habe, nach
2 ‘/4 Stunden zurückgekehrt sei, habe er das Haus zwar
verschlossen gefunden, wie er es verlassen habe, dagegen
seien in der neben der Wohnstube liegenden Schlafkammer
der Kinder Fenster und Läden offengestanden ; die Fenster
seien schon vorher geöffnet gewesen, dagegen die Läden
angelegt Auch sei ein Türchen am Hausgarten ausgehoben
gewesen, durch welches der Täter von der Straße zum
Kammerfenster seinen Weg genommen haben müsse.
Also: Raubmord!
Aber wer der Täter ? Auf die Frage des Schultheißen,
ob er eine bestimmte Person im Verdacht habe, nannte R. zu-
erst einen 19jährigen ledigen Arbeiter F., der „mehr Geld
verbrauche, als er verdiene“ und hernach einen benach-
barten verheirateten Bauern R — x, der ihn schon gefragt
habe, „wo er denn sein Kuhgeld (Farrengeld) hintue.“
Der Pitavnl der Gegenwart. IV. 5
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66
Bartsch.
Die Getötete war 37 Jahre alt, Mutter von fünf Kin-
dern im Alter von 1 — 16 Jahren, stets gesund und arbeits-
kräftig. Sie galt allgemein als eine sehr brave, fleißige
und friedliche Frau. Ihr eigener Mann stellte ihr das
Zeugnis aus, „in ganz H. sei keine zweite solche, so tüch-
tig in Feld und Haushalt und in der Sparsamkeit, sie
habe ihm nie Grund zu Vorwürfen gegeben, er hätte keine
bessere finden können und sei um sein Weib um ihres
Fleißes und Geschickes willen beneidet worden.“
Dem Nachtwächter R. stellte sein Ortsvorsteher das
Zeugnis aus: „Ich kann nicht sagen, daß er zu den un-
guten Leuten gehört; er ist kein Trinker, er ist solid und
sparsam; über sein häusliches Zusammenleben kann ich
nichts sagen; jedenfalls ist mir nicht bekannt worden, daß
er mit seiner Frau nicht gut lebe.“
Ähnliche Angaben machten über den Charakter und
das eheliche Leben des R. seine unmittelbaren Nachbarn.
Sie wollten wohl früher heftige Auftritte des Mannes gegen
seine Frau beobachtet haben, aber in letzter Zeit sei der-
artiges unterblieben. Beide haben friedlich gehaust und
Frau R. habe sogar rühmend hervorgehoben, wie viel
besser ihr Mann jetzt sei, als früher.
Dem gegenüber stand nun aber das entgegengesetzte
Urteil der nächsten Anverwandten. Die Töchter sagten aus-
nahmslos ungünstig über ihren Vater aus. Die 16jährige,
damals in auswärtigem Dienst stehende Tochter gab an:
„Meine Mutter hatte kein gutes Los; sie wurde oft miß-
handelt, ich bin der Ansicht, daß niemand der Mörder ist
als mein Vater.“
Die 14jährige Schwester gab die Erklärung ab: „Mein
Vater hat die Mutter oft geschlagen, daß sie Blaumäler
hatte; auch wir Kinder wurden oft arg geschlagen, meist
mit einem Strick oder mit dem Fuß gestäubt; wir hatten
große Angst vor ihm.“
Die 10jährige Tochter sagte aus: „Am letzten Abend
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Der Gatte als Totschläger.
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waren die Eltern friedlich beisammen; aber sonst hatten
sie oft Streit und der Vater hat die Mutter auch ge-
schlagen.“
Und nun gar die 5 jährige: „Ich hörte (sagte sie zur
Kinderschwester) heute Nacht meine Mutter jammern und
schreien, „er“ bat fest drauf geschlagen; mein Vater sagte
mir, ich solle niemand etwas sagen.“
In der Richtung dieser schwer belastenden Anklagen
lag auch die Erklärung des Bruders der Getöteten, der
bald nach der Tat vom benachbarten Ort herbeigeeilt war:
„R. hat seine Frau schlecht behandelt; dieser und niemand
anders hat sie getötet; das glaubt mir der ganze Ort“
Wie waren nur so verschiedene Zeugnisse möglich?
R. ist ein Meister in der Verstellung und Heuchelei,
schlau und verschlagen, freundlich ins Gesicht, sein Spitz-
name war „der Feine“, also — was man so nennt — ein
„Gassenengel und ein Hausteufel.“ Nicht bloß die Kinder
fürchteten seinen Jähzorn und seine Roheit, sondern die
Mitbürger seine Heimtücke und seine Rachsucht. Sie
haßten und verachteten ihn, weil er sie rücksichtslos über-
vorteilte und bei Viehhändeln mit allerlei Ränken aus-
beuten half.
Vorbestraft war R. noch nicht, wohl aber einmal wegen
Körperverletzung auf der Anklagebank gewesen. Er war
mit einem seiner Landsleute im Wirtshaus handgemein
geworden, weil dieser den R. gestichelt hatte, als hätte er
vor fünf Jahren seine Scheune selber angezündet.
Zwei Stunden nach dem Bekanntwerden der Schreckens-
tat traf das Gericht ein und konstatierte eine ganze Anzahl
von Verdachtsmomenten gegen R.
Das angeblich gestohlene Geld wurde in der unteren
Kommod8chublade zwischen Socken und blutigen Lappen
versteckt aufgefunden.
5 *
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68
Bertech.
In einem am Tatort unweit der Leiche stehenden, mit
einem Tuch bedeckten Körbchen, welches nach der harm-
los hingeworfenen Äußerung des R. nur ein Vesper ent-
halten sollte, fand sich eine Sichel und ein Wetzsteinkumpf,
letzterer am Ende mit Blut bedeckt, erstere dagegen
blutfrei.
R. selber trug Blutspritzer (nicht etwa Blutflecken) an
seinen Kleidern und Stiefeln und ein paar blutunterlaufene
frische Krätzer auf der Stirne, über deren Herkunft er sich
nur zweifelhaft ausweisen konnte. Jene, meinte er, könnten
davon herrühren, daß er seine tote Frau in die Höhe ge-
hoben hatte, um sie zu wecken, diese dagegen entweder
von seinem jüngsten Kind, das er auf dem Arm getragen,
oder vom Garbenladen.
Endlich waren zwischen zwei Fingern der Getöteten
kleine Stoffreste eingeklemmt, anscheinend von einer Loden-
joppe, wie sie der Nachtwächter bei seinem Kontrollgang
zu tragen pflegte.
Alle diese Umstände veranlaßten die Verhaftung des
Gatten der Getöteten am gleichen Tage.
In der Voruntersuchung wurden keine weiteren Ver-
dachtsmomente gegen R. beigebracht, dagegen wußte er
verschiedene Momente zu seiner Entlastung beizubringen.
Ein junger Bürger des Orts, auf den er sich berief, gab
zu Protokoll, daß er in jener Mordnacht spät, nach 12 Uhr,
von auswärts heimgekehrt und sich mit dem Nachtwächter
längere Zeit auf der Dorfstraße unterhalten habe, ohne die
geringste Spur von Gemütserregung an ihm wahrzunehmen.
Gegen 1 Uhr, erklärte R., habe er einen Bauer ge-
sehen, der mit der Laterne in den Stall ging, weil seine
Kuh kalben wollte. Dies bestätigte sich. Mit den Alibi-
beweisen harmonierten die Kontrolluhren, welche ausnahms-
los eine pünktliche Behandlung in dieser Nacht aufwiesen.
Das Gartentürchen war tatsächlich ausgehoben; ein
Zaunstecken war losgerissen und mit Blut befleckt; im
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Der Gatte als Totschläger.
69
Garten sah man unter dem Fenster menschliche Fußspuren
und an der Hauswand unter dem Kammerfenster Be-
schädigungen, die vom Einsteigen herrühren konnten, aller-
dings beides offenbar älteren Datums. Schwerwiegend war
für R. das gute Zeugnis des Ortsvorstehers, der mit ihm
sonst nicht gerade gut stand, weil er ihn schon einige Mal
dienstlich und außerdienstlich diszipliniert hatte, und das
gnte Zeugnis der Nachbarn, die gesehen hatten, wie R. am
letzten Tag noch ganz friedlich mit seinem Weib gearbeitet
und abends ebenso friedlich mit ihr vor dem Haus Feier-
abend gehalten hatte.
Die gegenteiligen Aussagen konnten beeinflußt sein
teils durch die Verachtung und den Haß, den R. sich als
„Judenschmuser“ zugezogen, teils durch den auf dem Land
eine große Rolle spielenden Neid darüber, daß der Nacht-
wächter in 15 Jahren seines Hausens sein Vermögen von
1200 Mk. auf 6000 Mk. gesteigert hatte.
Endlich aber fehlte jeder Anhaltspunkt dafür, mit
welchem Instrument die scharfen Schneid- und Stichwunden
verursacht waren. Die im Haus Vorgefundenen Sicheln
waren unverdächtig. Strengste Haussuchung, auch das
Ablassen des Dorfweihers und das Ausfischen des benach-
barten Brunnens verliefen resultatlos.
Am 20. August erfolgte die Haftentlassung des R.,
„da die gegen den Angeschuldigten vorhandenen Verdachts-
gründe nicht mehr als dringend angesehen werden konnten.“
Diese Verfügung war aber das Signal zu seiner Ver-
urteilung durch die vox populi. Wie ein verhaltener Strom
stürzte sich die Bevölkerung auf den „Gattenmörder“ und
protestierte gegen die Untersuchung, die sich nunmehr
auf andere Ortsangehörige zu erstrecken begann.
Die einen — das war die Minderheit — sprachen es
immer offener aus, R. habe seine Frau umgebracht, weil sie
ihm als die einzige Mitwisserin der ihm zur Last gelegten
Brandstiftung keine Ruhe gelassen habe.
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Bcrtsch.
Andere — und das war die Mehrzahl — bezichtigten
ihn des Totschlags im Affekt.
Ein Mann, der schon mit 17 Jahren — das Folgende
kam alles jetzt erst zur Anzeige — um einer ganz gering-
fügigen Ursache willen einen Mitknecht mit einem Messer
gestochen,
ein Sohn, der seinen alten Vater an den Haaren herum-
gezogen und geschlagen,
ein Vater, der beim Ileuladen seine älteste Tochter
mit der Gabel so sinnlos traktierte, daß Grenznachbarn durch
ihr Dazwischentreten das Schlimmste verhüten mußten, und
der sich zwischen der ersten und zweiten Verhaftung von
seiner Tochter auf die Stirne Zusagen ließ: „hättest die
Mutter nicht umgebracht, so hättest du noch eine Köchin“ —
ein Gatte, der das eine Mal mit dem Beil auf seine
Frau lossprang, ein andermal mit einer Haue einen Hieb
gegen sie führte, dem sie im letzten Augenblick noch glück-
lich ausweichen konnte, —
sollte einem Menschen von solch unbändigem Jähzorn,
gepaart mit einem satanischen Geiz, es nicht zuzutrauen
sein, daß er gegen sein Weib einen gefährlichen Schlag
führte, als er unter ihrem Kopfpolster einen Geldbeutel
entdeckte, in welchem die arme von Furcht gepeinigte
Frau pfennigweise die Mittel zusammensparte, um der Dote
ihrer Kinder ein Geschenk auf Weihnachten machen zu
können — zusammmensparte ohne sein Wissen und ohne
seine Erlaubnis?!
Und wenn er einem Erntearbeiter gegenüber, der neben
R. und dessen Ehefrau am Tische saß und des Nacht-
wächters Geriebenheit rühmte, mit der er in der Anklage
wegen Körperverletzung sich aus der Schlinge gezogen
hatte, wenn er diesem gegenüber die Äußerung tat:
„Wenn ich heute Nacht die da (er wies dabei auf
seine neben ihm sitzende Ehefrau hin) hinmachen würde, an
mich würde niemand denken, das käme gar nicht herausj
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Der Gatte als Totschläger.
71
ich bin Nachtwächter und da würde es niemand sehen; das
wäre mir die geringste Sorge, wieder eine andere zu kriegen ;
in vier Wochen wollte ich schon wieder eine haben“ — ,
ist es nicht naheliegend, daß die Manipulation mit der
Gartentüre und den Fensterläden, die Verwundung mit dem
Kumpf und der — nach einem raschen scharfen Schnitt
leicht mit Wasser vom Blut zu reinigenden — Sichel, das
Vorbringen mit dem gestohlenen Geldbeutel nur Mittel waren,
den im Affekt begangenen Totschlag zu maskieren und
einen Raubmord von dritter Seite zu markieren? „Hell
muß man sein!“ war seine ständige Redensart.
Was Wunder, wenn fortan die Bevölkerung dem
„Gattenmörder“ scheu aus dem Wege ging!
Und als gar ein Bekannter ihm ins Gesicht schleu-
derte: „der ganze Ort hält dich für den Täter“, war er
weit entfernt, eine Beleidigungsklage anzustrengen. Seine
ganze Erwiderung war : „Ich muß nicht mehr lange unter
diesem Druck leiden.“
Nun geschahen zwei Dinge, welche nicht anders ge-
deutet werden können, denn als ein Hilferuf des bösen
Gewissens und als ein Akt der Notwehr gegenüber der
ihn verurteilenden allgemeinen Volksstimme.
Bei Nacht schlichen sich Bürger an sein Haus und
belauschten ihn durch die Fensterläden, wie er in der
Stube auf- und abging und laut rief:
„0, lieber Gott, komm doch und hilf dem R, daß er
los wird von diesem Druck“ und wie er dann mehrere
Gesangbuchlieder stürmisch betete.
Damit stimmte auch das Zeugnis seiner Kinder: „Seit
unser Vater entlassen ist, betet er oft laut bei Nacht aus
der Bibel.“
Und das andere: viermal im Lauf von zwei Monaten
begab sich R zu einem stundenweit entfernten Ehepaar H.,
welche „Tote zitieren“ könnten. Auf vorangegangenes Gebet
redete jedesmal, wie er behauptete, seine verstorbene Ehe-
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Bcrtsch.
frau aus der Frau H. heraus, die in einen Zustand der
Ekstase verfiel, sich entfärbte und „ganz mit der Stimme
der Getöteten auf alle Fragen antwortete.“
Zu dieser Spiritistenversammlung nahm er als Zeugen
einige seiner nächsten Anverwandten mit, aber nicht gleich
das erste Mal, sondern erst beim zweiten Besuch, nachdem
offenbar der Verlauf, den die Unterredung mit der Abge-
schiedenen nehmen sollte, schon dem Medium inspiriert
worden war. Das Resultat der Totenbeschwörung war:
„Mein Mann ist nicht der Täter, sondern ein anderer
und dieser andere ist der Nachbar R— x.“
Die Begleiter aber meinten, als das medium georakelt
hatte : „D e r (Frau H.) sollte man den Kopf recht verschlagen.“
Damit war die Tragödie auf das Gebiet der Komödie
geraten.
Am 2. März erfolgte die zweite Verhaftung des R.
und am 7. April seine Verurteilung durch das Schwur-
gericht zu der Zuchthausstrafe von 14 Jahren und zu
10 Jahren Ehrverlust.
Ein Gesuch um Begnadigung wurde abschlägig be-
schieden. Obgleich seine Unschuld hoch und heilig be-
teuernd, wünschte R. doch seine baldige Abführung an
den Strafplatz. Von hier aus strengte er eine Wiederauf-
nahme des Verfahrens an, aber ohne Erfolg.
So verbüßt er denn gegenwärtig die ihm auferlegte
Strafe, auf dem Protest gegen seine ungerechte Verurteilung
verharrend.
Aber das schuldbewußte Gewissen spricht aus seinem
angstvollen Auge und seinem schreckhaften Wesen. Mit
all seinem feinen, glatten Gebahren und seinen frommen
Sprüchen vermag er darüber nicht wegzutäuschen. Durch
zwei Ohnmachtsanfälle im Spazierhof ward er bald der
ihn drückenden Einzelhaft entrückt; die stille Zelle raubte
zusehends dem Schuldbeladenen Schlaf und Appetit in
einer Weise, daß er längerer Spitalbehandlung bedurfte und
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Der Gatte als Totschläger. 73
seine Überweisung in die Irrenabteilung ernstlich erwogen
wurde.
Wenn der Staatsanwalt in seiner Rede von dem armen
Opfer sagte, die Getötete habe offenbar die Hölle auf Erden
gehabt, so daß es bei ihr galt, „lieber ein Ende mit
Schrecken, als einen Schrecken ohne Ende“, so ist für den
Verurteilten sicher seine Strafzeit schon bisher „ein Schrecken
ohne Ende“ gewesen und wird es bleiben, bis er entweder
sein Gewissen entlastet durch ein offenes Geständnis, oder
aber — nur in ganz anderer Weise als seine Frau — „ein
Ende nimmt mit Schrecken.“
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Brandstiftungen einer Hysterischen.
Von
Staatsanwalt Oskar Held in München.
Am Sonntag, den 29. Oktober 1899, etwa 5 Minuten
nach 5 Uhr nachmittags, brach in dem vierstöckigen, an
der Sonnenstraße zu München gelegenen, dem Rechtsanwalt
F. gehörigen Hause No. 24 ein Speicherbrand aus, welcher
den mansardenartig gebauten Speicherraum samt den auf-
gestapelten Vorräten zerstörte. Der Brand wurde 5 bis
10 Minuten nach 5 Uhr von Passanten bemerkt. Nach An-
sicht der Feuerwehr mußte der Brand im Speieherraum
selbst ausgebrochen sein.
& wurde festgestellt, daß die Mietparteien des Hauses
an dem fraglichen Sonntag Nachmittag außerhalb des
Hauses geweilt und daß nur mehrere Dienstboten sich im
Hause befunden hatten. Weiter wurde bekannt, daß
etwa eine Stunde vor dem vermutlichen Ausbruch des
Brandes ein neu engagierter Hausmeister, der am 1. No-
vember den Dienst antreten sollte, durch einen Bekannten,
unter Assistenz eines im Hause befindlichen Dienstmädchens,
Einrichtungsgegenstände in den für ihn künftig bestimmten
Speicherabteil hatte schaffen lassen. Es ließ sich jedoch
nach der Auffassung der Feuerwehr feststellen, daß in
diesem Speicherabteil der Brand nicht entstanden sein
konnte. Ebenso ließ sich feststellen, daß Schieferdecker,
welche einige Tage vorher am Dachboden gearbeitet hatten,
keine Lötfeuerung oder Licht benutzt hatten.
Der Pitaval der Gegenwart. IV. 6
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76
Held.
Die Entstehungsursacbe lag somit völlig im Dunkeln.
Am 31. Oktober, also zwei Tage nach dem Brande,
lief nun bei der Kgl. Polizeidirektion München eine auf
einem ganzen Oktavbogen (sog. Kanzleibogen) geschriebene
Zuschrift folgenden Inhalts ein:
„Schreiber Dieses erachtet es als seine Pflicht, der
hohen Polizeidirektion seine Beobachtungen in Haus
No. 24 an der Sonnenstraße vor dem gestern ausge-
brochenen Brande mitzuteilen. Etwa 1 /2 5 abends, am
Tage des Brandes, sah er die Köchin des Herrn Dr. Sch.,
wohnhaft im 2. Stocke links genannten Hauses, nach
dem Speicher gehen (welchen Weg diese übrigens alle
Tage macht) ; auf fiel aber dem Schreiber der starke Pe-
troleumgerucb, als er an dem Mädchen vorbeiging, auch
sah aus dem Kleide de« Mädchens eine Kerze heraus
und ein Paket mit Zündhölzern. Er verfolgte, vom Mäd-
chen ungesehen, dieses. Es trug einen Korb mit Kleidern,
von denen der Geruch wohl ausging. Das Mädchen ging
die ganze Speicherreihe entlang, worauf der Schreiber
sich nach unten begab; das Mädchen kam mit dem
Korb wieder herunter, der Schreiber stand im Hausflur.
Das Mädchen ging in die Wohnung seiner Herr-
schaft Der Schreiber kam nach einigen Minuten noch-
mals in das Haus und sah das Mädchen eilenden Schrittes
die Treppe herunterkommen, vom Speicher, nichts als
Schlüssel in der Hand, ging rasch wieder in die Woh-
nung und verließ sofort diese wieder, nach dem Karls-
platz gehend; alsbald brach das Feuer aus, worauf der
Schreiber sich sofort an das auffallende Benehmen des
Mädchens erinnerte und nun die Anzeige als seine Pflicht
erachtet. Warum anonym ist der Grund, weil der
Schreiber im Hause verkehren muß, vielleicht aber seinen
Namen nennt, sollten seine Vermutungen zutreffend sein.
Sofortiges Verhör wäre wohl angezeigt. Das Mädchen
schien aufgeregt und verstört.
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Brandstiftungen einer Hysterischen.
77
Was den Schreiber in beinern Verdachte bestärkt,
ist, daß er vor einiger Zeit hörte, daß der Besitzer des
Hauses, Rechtsanwalt, F., das Mädchen beschimpfte und
dieses sich dahin geäußert, daß F. ihr in der Seele ver-
hasst sei, weil sie sich solche Beschimpfung durch einen
Juden gefallen lassen müsse, und fügte bei, sie wäre im-
stande, diesem Menschen etwas anzutun; vielleicht ist
da ein Zusammenhang. Am Tage des Brandes trug das
Mädchen blaues Waschkleid mit Cremespitzen und große
helle Schürze mit roten Streifen und roten Verzierungen.“
Am folgenden Tage, 1. November, lief eine weitere
Zuschrift folgenden Inhalts bei der Polizeidirektion ein:
„Zu der gestern gemachten Mitteilung betreffend
Verdacht der Brandstiftung gegen die Köchin des Dr.
Sch., wohnhaft im 2. Stock des am 29. d. Mts. ange-
brannten Hauses No. 24 an der Sonnenstraße, wird noch
angefügt, was gestern vergessen wurde: daß die Köchin,
als sie das erste Mal von dem Speicher kurz vor dem
Brande herunter kam, 5 Flaschen, in denen noch kleine
Reste von Petroleum waren, in die Schuttonnen im Hof-
raume warf; die Flaschen müssen noch dorten liegen,
weil die Schuttonnen noch nicht geleert und wohl morgen,
am Feiertage, auch nicht geleert werden.
Ferner hörte der Schreiber heute, daß genanntes
Mädchen in 2 Läden (Schwanthaler Straße bei Schiller
und Karlsplatz bei Jacobus) je 3 Liter Petroleum holte
am Tage vor dem Brande, und am Brandtage selbst
nochmals 3 Liter bei Jacobus am Karlsplatze, und doch
wird Gas bei Dr. Sch. gebrannt“
Auf Grund dieser Zuschriften nahm der zuständige
Polizeikommissär Erhebungen bei dem Hausbesitzer Rechts-
anwalt F. vor. Derselbe konnte sich nur erinnern, daß er
vor einer verhältnismäßig sehr langen Zeit, es mochten vier
Monate dazwischen liegen, die Köchin des prakt Arztes
Dr. Sch., Maria St., gegen Abend im Hausgang betroffen
6 *
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Held.
und ihr einen Vorhalt, als ob sie wohl auf einen Liebhaber
warte, gemacht hatte, worauf sie in einer sehr schroffen
Weise sich eine solche Unterstellung verbeten und bemerkt
hatte, sie führe den Hund ihrer Dienstherrschaft ins Freie.
Der Rechtsanwalt bemerkte hierbei, daß ihm nun allerdings
auffalle, daß ihn die Maria St. seit diesem nach seiner
Auffassung verhältnismäßig geringfügigen Vorfall nicht
mehr gegrüßt habe, daß dieselbe ihre Kolleginnen im Hause
sehr von oben herab behandle und keinen weiteren Ver-
kehr mit ihnen pflege.
Eine Suche nach Flaschen in den Kehrichttonnen er-
gab ein negatives Resultat.
Der Polizoikommissär nahm am gleichen Tage, 2. No-
vember, umfangreiche Vernehmungen aller vermutlich am
Sonntag Nachmittag im Hause befindlichen Personen,
namentlich der Dienstboten, vor. Hierbei gab die ebenfalls
vernommene Maria St., der natürlich von dem gegen sie
bestehenden Verdacht nichts mitgeteilt wurde, an, sie sei
am Sonntag Nachmittag, etwa 4 3 /4 Uhr, also etwa 20 Mi-
nuten vor Ausbruch des Brandes, in Abwesenheit ihrer
Dienstherrschaft auf den Speicher gegangen, um nachzu-
sehen, ob ihre beiden Speicherabteilungen verschlossen seien
und um zwei frischgewascbene Kleider zum trocknen auf-
zuhängen. Sie habe die Kleider in einem offenen Korbe
hinauf getragen, auffallenderweise aber die äußere Speicher-
tür, welche zum allgemeinen Speichervorraum führt, un-
verschlossen vorgefunden. Sie habe nun auch entdeckt,
daß sie die Schlüssel zu ihren beiden Speicherabteilungen
gar nicht bei sich habe, weshalb sie samt ihrem Korb un-
verrichteter Dinge in die im zweiten Stock befindliche
Wohnung ihrer Dienstherrschaft zurückgegangen sei. Sie
habe sioh dann mit den Schlüsseln, jedoch ohne Korb und
Kleider, ein zweites Mal auf den Speicher begeben und hier
nur die äußere Speichertür abgeschlossen.
Sie gab weiter an, daß im Hauswesen ihrer Dienst-
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Brandstiftungen einer Hysterischen.
79
herrschaft eine Lampe auf dem Vorplatz mit Petroleum
gespeist werde, auch komme es hie und da vor, daß sie
selbst in ihrer Kammer ein Petroleumlicht brenne. Sie fuhr
fort: „Unser Petroleum beziehen wir zum Teil bei dem
Kaufmann Schiller, zum Teil bei dem Kaufmann Jacobus.
Am Sonntag Nachmittag 4 Uhr (also etwa eine Stunde vor
dem Brande) holte ich in einer Blechkanne bei Jacobus
3 Liter Petroleum auf Rechnung meiner Herrschaft, habe
aber auch schon für meine eigene Rechnung zum Gebrauch
in meinem Zimmer Petroleum gekauft. Letzteres tat ich,
weil meine Dienstherrschaft nicht duldet, daß in meiner
Kammer, wegen Feuersgefahr, Petroleum brenne. Als kurz
nach 5 Uhr Feuerlärm ertönte, ging ich gerade mit dem
Hund meiner Herrschaft am Karlsplatz spazieren. (Dies
wäre also eine Entfernung von 100 — 150 Mtr. vom Hause.)
Obwohl zwischen meiner Anwesenheit auf dem Speicher
und dem Ausbruch des Brandes ein Zeitraum von nur
15 — 20 Minuten liegt, muß ich doch konstatieren, daß ich
oben weder von Rauch noch von Brandgeruch etwas
wahmabm.“
Der Polizeikommissär nahm am 3. November Er-
hebungen bei der Firma Jacobus vor und erfuhr dort, daß
die Maria St. am Sonntag, Nachmittag gegen 4 Uhr, 3 Liter
Petroleum tatsächlich geholt hatte.
Die Ladnerin konnte sich erinnern, daß die Maria St.
hierbei eine Kanne aus weißem Blech, ohne Schnabel
oder Auslaufröhrchen, wie letzteres sonst meist der Fall
ist, benützt hatte. Dagegen wurde durch Recherchen bei
Kaufmann Schiller erhoben, daß Maria St. am Samstag
Vormittag (also am Tage vor dem Brande) 3 Liter Petro-
leum in einer goldbronzierten, mit einem sogenannten
Schnabel versehenen Petroleumkanne geholt hatte. Die
Kaufmannsfrau Schiller konnte sich auch noch erinnern,
daß die Maria St. auch noch am Sonntag Nachmittag
zwischen 2 und 3 Uhr bei ihr Petroleum hatte holen wollen,
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80
Held.
Bolches jedoch nicht mehr erhalten konnte, weil ausver-
kauft war.
Auf Grund dieser Ergebnisse nahm am gleichen Abend
der Polizeikommissär in der Richtung gegen die Maria St.
in der Wohnung ihrer Dienstherrschaft weitere Erhebungen
vor. Er fand auf dem Wohnungsgange vor der Küchen-
tür an der ordnungsmäßigen Stelle eine halb gefüllte, 3 bis
4 Liter fassende, gelb bronzierte Petroleumkanne mit
Schnabel, zweifellos die zum Petroleumeinkauf bei Schiller
benützte. Die Köchin Maria St., der gegenüber auch jetzt
noch nichts von dem Verdachte verlautet wurde, ebenso
wie die Arztesgattin Frau Sch. gaben an, daß eine zweite
Kanne im Hauswesen nicht existiere.
Auf Grund dieser Erhebungen war im wesentlichen
der in den Denunziationsbriefen geschilderte Sachverhalt
als richtig erwiesen. Es hatten sich nur bis dahin die fünf
Flaschen nicht finden lassen. Es handelte sich nun natur-
gemäß um die Ermittlung des anonymen Briefschreibers.
Inzwischen lief ein neuer anonymer Brief am 4. No-
vember bei der Kgl. Polizeidirektion ein, in welchem mit-
geteilt wurde, daß die Köchin Maria St. ohne Wissen ihrer
Dienstherrschaft den Dienst verlassen wolle, weil es ihr
wegen des Brandes zu viel Arbeit sei.
Diese dritte anonyme Zuschrift war auf einen mit
Wasserlinien versehenen, kleinen Briefbogen geschrieben
und befand sich in einem innen blau karrierten Kuvert,
das im Verlauf der weiteren Erhebungen Anhaltspunkte
für die Ermittlung des Briefschreibers geben sollte.
Am 6. November wurde in der Haushaltung des Dr.
Sch. vom Polizeikommissär nach der weißen Blechkanne
ohne Erfolg gesucht. Die zwei Kleider, welche die St. im
Korbe auf den Speicher und wieder zurückgetragen hatte,
und mit denen nach dem Inhalte der zweiten anonymen
Zuschrift die fünf Flaschen mit Petroleum zugedeckt ge-
wesen waren, rochen nicht nach Petroleum. Die St. be-
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Brandstiftungen einer Hysterischen,
81
stritt, jemals in einer weißblecbenen Kanne Petroleum bei
Jacobus eingekauft zu haben. Weiter erklärte sie, am
Samstag, also am Tag vor dem Brande, bei Schiller kein
Petroleum geholt zu haben; weiter stellte sie es als unmög-
lich hin, daß sie, ohne es wahrzunehmen, von dem ano*
nymen Briefschreiber bei ihrem zweimaligen Gange zum
Speicher habe beobachtet werden können, da der Hund
ihrer Dienstherrschaft in ihrer Begleitung war und die
Person daher gemeldet hätte.
Die Dienstherrschaft der St., Dr. Sch. und seine Gattin,
stellten dieser ein geradezu glänzendes Zeugnis aus;
sie ginge keinem Vergnügen nach, unterhalte kein Liebes-
verhältnis und genieße das unbeschränkteste Vertrauen der
Herrschaft. In gleicher Weise wurde sie von den Kauf-
leuten, bei denen sie die Einkäufe zu machen hatte, cha-
rakterisiert, und auch Rechtsanwalt F. bezeichnete sie als
ein Mädchen von tadellosem Rufe.
Am 7. November, tags darauf, fanden sich Dr. Sch.
und Gattin bei dem Referenten der Staatsanwaltschaft ein
und gaben ihrer Empörung darüber Ausdruck, daß jemand
ihre Köchin solch eines schweren Verbrechens hätte be-
zichtigen können. Sie erklärten, jede Garantie zu über-
nehmen, und erzählten unter anderem, ein wohlsituierter
Beamter habe sich seit Jahren um die aus einer guten
Familie stammende, über ihren Stand gebildete St. beworben,
sie wolle jedoch mit Rücksicht auf ihre große Nervosität
nicht heiraten. Hierbei stellte sich auch heraus, daß die
St wirklich die Absicht gehabt hatte, zu ihren Eltern nach
Hause zu reisen, daß also der Inhalt des dritten anonymen
Briefes ebenfalls sich wieder bewahrheitete.
Am 7. November kam zur Kgl. Polizeidirektion der
vierte anonyme Brief, lautend wie folgt:
„Nochmals die sichere Mitteilung, daß Schreiber der
verschiedenen Briefe sich in letzten Tagen nochmals ge-
nau erkundigt und erfahren, daß die Köchin des Dr. Sch.,
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Held.
Sonnenstraße 24, II, wie schon einmal versichert, am
Samstag, dem 28. Oktober, vormittags etwa 10 Uhr, drei
Liter Petroleum bei Schiller an der Schwanthalerstraße
und 3 Liter am Karlsplatz bei Jacobus holte. Am Abend
des 28. Oktober wollte sie nochmals 3 Liter holen bei
Schiller an der Schwanthalerstraße, wo aber keines mehr
vorrätig. Am Sonntag, dem 29. Oktober, etwa 4 Uhr
nachmittags, holte sie 3 Liter bei Jacobus am Karlsplatz.
Ferner ist der Schreiber sicher, daß das Mädchen am
Sonntag, dem 29. v. Mts., in ihrem Korbe, als sie kurz
vor dem Brande auf den Speicher ging, nicht nur Kleider
trug, sondern die mit Petroleum gefüllten Flaschen (fünf
Flaschen), die sie nach ihrem ersten Gang auf den
Speicher in die Schuttonnen im Hofe warf, die eine hatte
früher als Inhalt griechischen Wein, die andere Muskat,
was die Etikette anzeigte, die andern enthielten ebenfalls
ursprünglich feine W eine. Die Flaschen wurden am
1. November früh mit den Schuttonnen von den Unrat-
abfuhrleuten jedenfalls ausgeleert, denn der Schreiber
sah gegen 10 Uhr am 1. November die Tonnen leer.
Auch erinnert sich der Schreiber, daß das Mädchen, als
es die Speicherreihe entlang ging, eine Flasche in der
Hand trug, die sie zuvor aus ihrem Korbe nahm. Der
Schreiber entfernte sich, als sich das Mädchen wieder
von dem hinteren Speicher an der Schwanthalerstraße
nach der Speichereingangtür wandte. Alle diese Angaben
kann der Schreiber vor seinem Gewissen und Gott be-
schwören, er hat auch keinen Grund, dem Mädchen zu
schaden, er kennt es nicht näher, aber einen solchen
Brand zu legen ist doch ein Verbrechen, und das Mäd-
chen beging es sicher.“
Es wurden vergebliche Recherchen nach den leeren
Flaschen unternommen.
Am 9. November kam zur Kgl. Polizeidirektion der
fünfte anonyme Brief, lautend:
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Brandstiftungen einer Hysterischen.
83
„Die Köchin des Dr. Sch., die absichtliche Brand-
stifterin in No. 24 an der Sonnenstraße, wird froh sein,
daß ihr, wie es scheint, bis jetzt noch nicht nachgeforscht
worden, was sie mit den 9 Litern Petroleum angefangen,
die sie am 28. und 29. Oktober gekauft, und wird sie
nun später gefragt, so kann sie doch angeben, daß sie
es für Beleuchtung verbraucht Diese Frage, wenn
an sie sofort gestellt, führte sicher zur Entdeckung
geschieht es aber noch einige Tage später, so geht sie
sicher straflos aus, weil anderes ihr nicht bewiesen wer-
den kann, sie dann einfach angibt: „Das Petroleum habe
ich für Licht verbrannt“, was sie aber jetzt nicht sagen
kann, denn der Schreiber hat sich genau erkundigt, daß
bei Dr. Sch. nur eine kleine Lampe täglich gebrannt
wird, sie also noch nicht 9 Liter verbrannt haben kann,
und hätte sie die ganze Nacht mit dieser Lampe Petro-
leum verbrannt.
Dies ist das letzte Mal, daß der Beobachter einen
Wink gibt, seinen Namen kann er nicht nennen, ehe das
Mädchen nicht festgenommen wird; vielleicht probiert es
nochmals wo anders Racheakt zu üben durch Brand-
stiftung und wird dann erwischt, wenn es jetzt straf-
los ausgeht, vielleicht rührt sich dann die hohe Polizei
besser.“
Es wurden nun Schriftproben zahlreicher Personen er-
holt, insbesondere von den Kaufleuten Schiller und Jacobus
und ihren Angehörigen und Bediensteten, schließlich auch
und hauptsächlich von Maria St. selbst Die Handschrift
der St. zeigte gegenüber derjenigen des anonymen Brief-
schreibers einen durchaus verschiedenen Charakter; doch
glaubte der Referent der Staatsanwaltschaft, der zu diesem
Zeitpunkt daran dachte, daß etwa gar die St selbst die Briefe
geschrieben hätte, an einigen Buchstaben Ähnlichkeit zu
finden, während die Polizeibeamten an eine Identität des
Briefschreibers mit der Maria St. nicht dachten. Es wurden
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Held.
umfangreiche Erhebungen nach der Herkunft des Papiers
und der Kuverts gepflogen, zunächst ebenfalls ohne Er-
gebnis.
Am 14. November wurde auf Antrag der Staatsanwalt-
schaft die Voruntersuchung gegen Maria St. wegen Ver-
brechens der Brandstiftung eröffnet.
Am gleichen Tage traf bei der Kgl. Polizeidirektion
der sechste anonyme Brief ein, lautend wie folgt:
„Der Beobachter der Brandstifterin in No. 24 der
Sonnenstraße rührt sich nochmals, weil er gehört hat,
daß das beschuldigte Mädchen behauptet, um 3 /*5 Uhr
abends am 29. Oktober die Speicher seiner Herrschaft
nicht betreten zu haben, auch die Speichertür, die äußere,
offen gefunden zu haben angiebt, während die äußere
Speichertür geschlossen war und von dem Mädchen auf-
gesperrt und nach ihrem ersten und zweiten Gange auch
wieder abgesperrt wurde. Ferner betrat das Mädchen
zwei Speicher, nicht nur den Vorplatz. Der eine lag
gegen die Schwanthalerstraße, der andere gleich rechts
beim Eingang durch die eiserne Thür. Nachdem es
sich in beiden Speichern zu schaffen gemacht, wobei es
Flaschen in Händen hatte, ging es die Speicherreihe der
Schwanthalerstraße entlang mit einer Flasche in der
Hand. Noch wird bemerkt, daß das Mädchen nicht nasse
Kleider, sondern trockene trug, wenngleich es jetzt sagt,
es seien frisch gewaschene gewesen. Leider wird ihm
wohl kaum beizukommen sein, weil alles für es ist“
Am 17. November folgte der siebente anonyme Brief,
folgenden Inhalts:
„Das der Beobachter der Brandstifterin in No. 24
der Sonnenstraße diese besser beobachtet als die hohe
Polizeidirektion, wird beweisen, daß er immer beobachtet,
daß diese bei Jacobus ein- und ausgeht und immer mit
Genannten verhandelt wegen des Brandes, hat diese wohl
auch bestimmt, zu sagen, daß sie sich nicht mehr genau
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Brandstiftungen einer Hysterischen.
85
an die Petroleumholerei erinnern können. Auch hörte
er, daß das Mädchen bei Jacobus sagte, daß es wahr
sei, daß es am 28. und 29. Oktober je 3 Liter Petroleum
holte und 3 Liter bei Schiller, es sich aber über deren
Verbrauch leicht ausweisen und die Wahrheit nicht zu
sagen brauche, auch wenn es damit Feuer gelegt hätte ;
ohne Zeuge könne ihm nichts geschehen.
Gestern Abend gegen V 28 Uhr war das Mädchen
wieder bei Jacobus und sagte dort, daß es auf der Polizei
gewesen sei und sich erkundigt habe, ob es München
ohne Gefahr der Verhaftung verlassen dürfe, ihm aber
zur Antwort geworden sei, daß seiner Entfernung nichts
im Wege stünde. Ich bemerke noch ausdrücklich, daß
es sagte, wenn es seine Adresse angeben müßte, fiele es
ihm nicht ein, die richtige zu sagen, sonst würdem ihm
anderwärts wieder Unannehmlichkeiten bereitet Seine
Heimat würde es nennen, ginge aber ganz wo anders
hiu. In der Heimat wird es schon der Schreiber gut
anmelden, angeben, wie er es beim Brandstiften beob-
achtet, vielleicht bemüht sich dann die dortige Polizei
besser und entwickelt mehr Scharfsinn als die Münchener.
Daß ein Mädchen so raffiniert sein soll, ist gar nicht mög-
lich. Ich möchte nur wissen, wie es sich über den Ver-
brauch der 9 Liter Petroleum ausgewiesen. Wenn der
Schreiber recht gehört hat, wurde das Mädchen nur
über den Verbrauch von 6 Litern befragt, warum nicht
über 9 Liter?
Die hohe Polizei läßt sich ganz famos anlügen;
hinter dem Mädchen sucht man allerdings ein solches
Verbrechen nicht Beobachtet das Mädchen nur
gut, sonst gibt es zum Schluß noch einen
Kellerbrand, denn dort macht es sich zur Zeit viel
zu schaffen; äußerte es sich ja auch gestern Abend:
wenn ich wüßte, daß es für mich schlimm ausginge,
würde ich die ganze Hütte zuvor noch niederbrennen.
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Held.
Erkundigt euch bei Jacobus, ob der Schreiber recht ge-
hört. Auch fügte es bei: noch lieber würde ich es tun
wenn der Jude, der F., nichts versichert hätte. Wenn
dies alles ohne Wert ist, kann der hohen Polizei nichts
mehr gesagt werden, braucht man sich hier nicht mehr
zu bemühen, wendet sich darum in die Heimat
des Mädchens, wenigstens wird dieses dort unmöglich
gemacht; ich habe es ihr schon mitgeteilt. Dem Mäd-
chen sieht man die Schuld schon an; während der
letzten 14 Tage hat sich sein gesundes, frisches Aussehen
verändert, des öfteren hörte man es laut weinen, zwei-
mal wurde es vom Schreiber im Keller gehört, wie es
weinte. Verfolgte Unschuld führt sich nicht so auf, be-
sonders, wenn man alles auf seiner Seite hat, selbst die
hohe Polizei, die einen Liebhaber hinter der Sache sucht;
ein netter Liebhaber, nicht?
Es ist ein unbescholtener Mensch, der leider durch
die Umstände gezwungen ist, sich der Infamie des ano-
nymen Briefschreibens zu bedienen, um das Mädchen,
das, so wahr Gott im Himmel ist, den Brand gelegt hat,
wenn möglich zu fangen.
Das Mädchen sagte gestern noch, daß ihm schon
Selbstmordgedanken gekommen seien, das wäre ein netter
Abschluß, nicht? Wen träfe dann in den Augen der Leute
die Schuld? Niemand anders als die Polizei; es wird
dann heißen: entweder die Sachen ganz machen, oder
nicht anfangen.
Das Mädchen verdirbt durch ihr Hin- und Her-
plaudern jede Untersuchung, unterrichtet auch den Brief-
schreiber ganz famos, damit er nicht erwischt wird,
ehe er sich selbst nennt, das Mädchen ist schlauer als
wir alle!
Der Schreiber bedauert nur, daß es ihm unmöglich
ist, mit Rücksicht auf Dr. Sch. seinen Namen zu
nennen!“
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Brandstiftungen einer Hysterischen.
87
Der Polizeikommissär konstatierte, daß in diesem Briefe
aufs genaueste der Inhalt der Unterredung, die er am
16. November abends 5 Uhr mit der freiwillig in seinem
Büreau erschienenen Maria St. gepflogen hatte, wieder-
gegeben war. Er begab sich am 17. November in den
Laden des Kaufmanns Jacobus, da er annahm, daß dort,
sei es in der Person des Geschäftsinhabers Jacobus oder
der Frau oder der Ladnerin, der anonyme Briefschreiber
zu suchen sei. Ohne seinem Verdacht Ausdruck zu geben,
bat er unter einem Vorwände Frau Jacobus um einen
Bogen Briefpapier mit Kuvert, und siehe da ! er erhielt
Briefpapier und Kuvert, wie solches beim dritten anonymen
Brief verwandt worden war. Ohne weitere Handlungen
in der Richtung gegen Jacobus oder seine Leute vorzu-
nehmen, suchte er Maria St. auf, die auf Zurredestellung
erklärte, der letzte Brief gebe tatsächlich genau den Inhalt
ihrer Unterredung mit dem Kommissär wieder, sie habe
aber mit niemandem als mit ihrer Dienstherrschaft und
mit den Kaufmannseheleuten Jacobus sowie deren Ladnerin
nach dem Besuch bei dem Kommissär gesprochen. Hier-
nach mußten, da die Dienstherrschaft nach Lage der Sache
nicht in Betracht kommen konnte, Jacobus oder seine Leute
für den Briefschreiber gehalten werden. Der Polizei-
kommissär suchte die Eheleute Jacobus nochmals auf, um
einige unverfängliche Fragen über den angeblichen Ein-
kauf des Petroleums mit der weißen Blechkanne an sie zu
richten. Bei dieser Gelegenheit übergab ihm Frau Jacobus
einen ihr am 16. November zugegangenen anonymen Brief
folgenden Inhalts:
„Frau Kaufmann Jacobus!
Es ist doch Ihre Pflicht und Schuldigkeit, der Poli-
zei anzuzeigen, daß die Köchin des Herrn Dr. Sch.
am 28. und 29. Oktober je 3 Liter Petroleum holte.
Wie verlautet, gaben Sie beim Verhör an, es nicht zu
wissen. Das Mädchen leugnet es nicht, also sagen Sie
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Held.
es sofort, sonst werden Sie vom Schreiber angeklagt,
daß Sie eine Unwahrheit gesagt haben, um dem Mäd-
chen nicht wehe zu tun; dieses hat den Brand gelegt,
denn es wurde beobachtet“
Die vom Untersuchungsrichter vernommene St. bestritt
die Brandlegung; sie gab zu, am Samstag (Tag vor dem
Brande) nachmittags für ihren Privatgebrauch 3 Liter Pe-
troleum bei Schiller gekauft zu haben, weiterhin räumte
sie ein, daß sie schon am Samstag Vormittag bei Jacobus
3 Liter Petroleum gekauft hatte. Mit diesem zuerst ge-
holten Petroleum füllte sie angeblich die kleine Ganglampe,
das übrige goß sie ebenso wie die zweite Quantität in alte
Weinflaschen, um einen Vorrat für ungefähr drei Wochen
zu haben. Am Samstag Abend suchte sie sodann nach
ihrer Angabe bei Kaufmann Schiller weitere 3 Liter zu
holen, bekam sie jedoch nicht, wie schon oben erwähnt,
und kaufte nun für ihre Dienstherrschaft diese 3 Liter Pe-
troleum am Sonntag Nachmittag bei Jacobus.
Hiernach hatte sie also an den beiden Tagen zusammen
9 Liter Petroleum eingekauft. Sie erklärte den Umstand,
daß sie bisher nur immer von dem Einkauf von 6 Litern
gesprochen hatte, damit, daß sie bisher nur immer über
6 Liter gefragt worden sei. Richtig sei, daß sie zur Frau
Jacobus selbst schon gesagt habe, sie habe sogar 9 Liter
Petroleum geholt. Das Petroleum habe sie vom Samstag
auf Sonntag auf dem Küchenbalkon verwahrt, am Sonntag
aber den Inhalt der Flaschen in den Ausguß geschüttet,
weil sie doch fürchtete, ihre Dienstherrin könne das Petro-
leum sehen und ihr Unannehmlichkeiten machen.
Es wurde nun auch bei Kaufmann Jacobus Tinte be-
schlagnahmt. Der sachverständige Chemiker erklärte, daß
diese und die vom anonymen Briefschreiber benützte Tinte
ganz gleiche Anilin-Schreib- und Kopier-Tinte vorstelle.
Kaufmann Jacobus wurde zur Erlangung einer wahr-
heitsgemäßen Aussage als Zeuge eidlich, unter Beachtung
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Brandstiftungen einer Hysterischen.
89
des ihm zustehenden Rechtes, auf Fragen, durch deren Be-
antwortung er sich selbst strafrechtliche Verfolgung hätte
zuziehen können, die Auskunft zu verweigern, vernommen.
Er bestritt mit Entschiedenheit, der anonyme Briefschreiber
zu sein oder diesen zu kennen; er räumte aber ein, daß
die St. in der Tat am 16. November abends in seinem Ge-
schäfte gewesen war und von ihrem nachmittägigen Be-
suche bei dem Polizeikommissär erzählt hatte. Nach An-
gabe seiner Frau und seiner Ladnerin hätte die St. an
diesem Abend auch geäußert, wenn die Sache für sie
schlecht ausginge, würde sie die ganze Hütte niederbrennen
und sich etwas antun. Die St. sei am Tage darauf, als
der anonyme Brief an seine Frau gekommen sei, eine
Viertelstunde später in seinen Laden gekommen, habe er-
zählt, ihr sei ein anonymer Brief in die Wohnung geworfen
worden, in welchem stehe, daß Frau Jacobus einen ano-
nymen Brief bekommen habe. Man habe ihr den ano-
nymen Brief der Frau Jacobus vorgezeigt, ohne ihn aber
von ihr lesen zu lassen. Nach 3 Uhr sei die St. wieder-
gekommen und habe um die Herausgabe des anonymen
Briefes gebeten, weil ihr Dienstherr ihn der Polizei über-
geben wolle. Die Herausgabe sei jedoch verweigert und
der Brief dann dem Kommissär direkt übergeben worden.
Er führe allerdings solche Briefumschläge, wie ein
solcher bei dem vierten anonymen Briefe benützt worden
sei ; er habe jedoch mit den anonymen Zuschriften ebenso-
wenig zu tun, wie nach seiner festen Überzeugung seine
Frau und seine Ladnerin.
Auch Frau Jacobus und die Ladnerin bestritten die
Urheberschaft an den Briefen. In der Tat wiesen auch
ihre Schriftproben nicht die geringste Ähnlichkeit mit den
anonymen Briefen auf. Der Ladnerin hatte die Maria St.
einige Tage vorher mitgeteilt, daß auch ihrer Dienstherr-
schaft sehr viel Sachen verbrannt seien, der Wert ginge
über 5000 M. (Diese Angabe war auf das stärkste über-
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90
Held.
trieben.) Ebenso hatte die Maria St der Ladnerin gegen-
über bei einem Gespräch über die polizeilichen Erhebungen
geäußert, es sei eine verdammte Geschichte, wenn nur der,
der die Briefe schreibe, aufkäme, oder wenn nur derjenige,
der etwas wisse, es der Polizei selbst mitteilen möchte.
Die Ladnerin erzählte weiter, an dem Abend des 16. No-
vember, an dem die Maria St. nach dem Besuch bei dem
Polizeikommissär sich noch im Laden des Jacobus ein-
gefunden hatte, habe diese die Äußerung fallen lassen:
„Wenn sie mich wollen, sollen sie mich suchen!“ Dazu
habe sie auffallend gelacht Dagegen erklärte die Ladnerin,
daß andere in dem letzten anonymen Briefe enthaltene
Mitteilungen über angebliche Äußerungen der Maria St. bei
dem fraglichen Besuche nicht zutreffend seien.
Während sich diese Vernehmungen abspielten, lief am
24. November bei der Polizeidirektion München eine neue
anonyme Zuschrift ein, folgenden Inhalts:
„Gestern zwischen 6 und 7 Uhr abends machte das
der Brandstiftung beschuldigte Mädchen von Sonnen-
straße 24 wieder größeren Petroleumeinkauf; es wurde
mehrmals, drei- bis viermal, mit der Petroleumkanne,
von der Landwehrstraße kommend, gesehen.“
Am 28. November, morgens 8 Uhr, wurde der Unter-
suchungsrichter in das Anwesen Haus No. 24 an der
Sonnenstraße unter der Mitteilung gerufen, daß neuerdings
ein Brand in dem Anwesen entstanden war. Er erfuhr
an Ort und Stelle, daß der Brand im Kellerraum des
praktischen Arztes Dr. Sch., also des Dienstherrn der Maria
St., entstanden, aber sofort wieder gelöscht worden war.
Maria St. wurde sofort festgenommen. Die erste Ver-
fügung des Untersuchungsrichters war die Anordnung einer
vorläufigen Untersuchung derselben durch den Oberarzt
der Irrenanstalt. Die noch am gleichen Tage vernommene
St. stellte die beiden Brandlegungen hartnäckig in Abrede.
Sie war jedoch in dem letzten Falle, wie sich sofort heraus-
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Brandstiftungen einer Hysterischen.
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stellte, von einem im Hanse beschäftigten Arbeiter be-
obachtet worden, als sie an der zum Keller führenden Tür
stand und spähend gegen den Hof zu sich umsah. An
der Täterschaft konnte nach Lage der Sache ein Zweifel
nicht mehr bestehen, da eine dritte Person nicht unbe-
obachtet in den Keller und aus dem Keller hätte gelangen
können.
Die Erhebungen über den bisherigen Lebenslauf der
Maria St. führten zunächst, bis zu dem weiter unten zu
erwähnenden Brief ihrer Mutter, zu keinem schlüssigen Re-
sultat Noch vor Eintreffen dieser Erhebungen äußerte
sich jedoch der Oberarzt der Irrenanstalt dahin, daß das
Verhalten der St. einen entschieden hysterischen Zug zeige.
Das Motiv der Tat könne nach bisheriger Auffassung nur
der Haß gegen den Hausbesitzer Rechtsanwalt F. sein.
Dieser äußerst intensive Haß stehe jedoch mit der Ursache
in keinem normalen Verhältnis. Er begutachtete die Ein-
schaffung der Maria St. in die Irrenanstalt zu einer sechs-
wöchigen Beobachtung.
Maria St. war am 8. Dezember 1875 geboren und
in einem kleinen württembergischen Orte als Tochter eines
Straßenbaumeisters aufgewachsen.
Bei dem praktischen Arzt Dr. Sch. stand sie seit 1. Mai
1899 als Köchin in Stellung. Wie bereits oben erwähnt»
galt sie diesem als Muster eines Dienstmädchens. Im Alter
von 22 Jahren war sie als Dienstmädchen in Ludwigs-
hafen bei einem Fabrikdirektor gewesen; sie galt dort als
eine stille, ruhige Natur, die jedoch immer einen besonde-
ren Stolz und Zurückhaltung gezeigt habe. Ihr Verhalten
wurde als überaus lobenswert geschildert. Im Jahre vor-
her war sie einen Monat in einer Dienststellung gewesen;
ihre damalige Dienstherrin äußerte, sie habe sie nicht für
ganz normal gehalten, so habe dieselbe, auch wenn sie
nur einen anderen Rock anzog, die Schlüssellöcher ihrer
Kammer verstopft, damit sie von niemandem hätte beob-
Der Pitaval der Gegenwart. IV. 7
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Held.
achtet werden können. Sie sei sehr solid gewesen, sehr
viel in die Kirche gegangen und habe sich als sehr hoch-
mütig gezeigt; aus dem Dienst sei sie entlassen worden,
weil sie gegen die Kinder sehr roh gewesen sei und die-
selben wegen jeder Kleinigkeit geschlagen habe.
Ein Vetter der .Maria St., ein katholischer Geistlicher
im Württembergischen, bei dem die St vierzehn Monate
lang als Köchin tätig gewesen war, stellte ihr ebenfalls
das Zeugnis der größten Pflichttreue und des muster-
haftesten Verhaltens aus. Es sei ihm von einer früheren
Dienstherrschaft mitgeteilt worden, die Maria St sei in ge-
ringem Maße nervös.
Im übrigen erklärte er es für unmöglich, daß seine
Verwandte den Brand in beiden Fällen gelegt haben könne.
Die Untersuchungen zur zweiten Brandlegung ergaben
mit erdrückender Evidenz die Täterschaft der Maria St,
doch suchten die Angehörigen, welche an die Unschuld
derselben fest glaubten, immer noch die Untersuchungs-
behörden von der Haltlosigkeit des Verdachtes zu über-
zeugen. Die Angeschuldigte selbst schrieb aus dem Ge-
fängnis am 10. Dezember einen Brief an ihre bisherige
Dienstherrin, Frau Dr. Sch. In demselben kam folgender
Passus vor:
„Gestern wurde mir eröffnet, daß ich zur Beobach-
tung in den nächsten Tagen der Irrenanstalt übergeben
werde, zuvor aber die Aufstellung eines Rechtsanwaltes
notwendig sei, bezw. wurde mir ein Rechtspraktikant
Dr. Maier aufgestellt, wogegen ich aber ganz entschieden
protestiere, nachdem, wie mir mein Vetter mitgeteilt,
dem Herrn Untersuchungsrichter erklärt wurde, daß mir
von meinen Angehörigen ein Rechtsbeistand bezahlt
würde, mir darum auch die Wahl eines solchen zusteht.
Daß es zu einer Schwurgerichtsverhandlung kommt,
wurde mir früher nicht gesagt, es wurde darum auch
kein Rechtsanwalt gewählt.
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Brandstiftungen einer Hysterischen.
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Bitte Sie, verehrteste Frau Doktor, meinen Vetter
sofort, wenn möglich telegraphisch, hierherzurufen. Bitte
meinen Vetter, mich zu besuchen, ehe er sich zu einem
Rechtsanwalt begiebt, weil ich Wichtiges zuvor mit ihm
besprechen will. Sollte er nicht zu mir gelassen werden,
so bitte ich, ihm mitzuteilen, daß ich absolnt keinen
Juden als Beistand haben will.“
Am gleichen Tage richtete sie einen Brief an ihre
Eltern, in welchem folgende Stelle vorkam:
„ um Euch einiges von meiner schlimmen
Lage zu berichten, Euch zu schonen bezw. ohne Mit-
teilung zu lassen, würde doch wohl Eure Sorge ver-
größern. Eine Schwurgerichtsverhandlung steht mir be-
vor; Ende Januar oder März. In den nächsten Tagen
soll ich der Irrenanstalt zur Beobachtung meines Geistes-
zustandes übergeben werden, so wurde mir gestern er-
öffnet; daß ich kein Narr bin, wird sich sofort finden. ‘‘
Dieser letzte Brief an die Eltern rief wohl die folgen-
den Mitteilungen der Eltern hervor. Dieselben erklärten
nämlich unter dem 16. Dezember vor ihrem heimischen
Schultheißamt folgendes:
„Unsere jetzt 24 Jahre alte Tochter Maria St. ist mit
einem scharfen Verstände begabt und ist geistig sehr auf-
geweckt.
Sie hat in der Schule recht gut gelernt und hat immer
Neigung zu ernster, den Geist stark in Anspruch nehmen-
der Lektüre gezeigt.
Irgendwelche Abnormitäten an ihrem Geisteszustände
haben wir nie wahrgenommen.
In ihrem Charakter äußerte sich stets ein strenger
Rechtlichkeitssinn als Folge ihrer guten religiösen Er-
ziehung. Was sie nach ihrer individuellen Überzeugung
einmal als richtig erkannt hatte, suchte sie energisch durch-
zuführen. Umgang mit Altersgenossinnen hat sie nie ge-
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Held.
pflegt oder gesucht, ebenso vermied sie meistens den Be-
such öffentlicher Unterhaltungen und Lustbarkeiten.
Sie besitzt ein zartes, leicht empfängliches Gemüt,
namentlich war ein reges Mitgefühl für fremdes Leid an
ihr wahrnehmbar und war sie jederzeit bereit, ihren Neben-
menschen im Notfälle helfend beizuspringen. Ihr ganzes
Wesen war übrigens mehr zurückhaltend als offen.
In ihrem Verhalten konnte sie mitunter etwas Starr-
sinn an den Tag legen; sie war namentlich sehr beharr-
lich in ihren Plänen, die sie gefaßt und als heilsam er-
probt zu haben glaubte.
Im übrigen aber gab ihr Verhalten uns und anderen
keinen Anlaß zu Tadel.
Bis jetzt sind uns Klagen über sie von dritter Seite
nicht zugekommen.
Vorgelesen, genehmigt, unterschrieben.
gez.: A. St.
Die Ehefrau Straßenmeister St. wünscht ihrerseits noch
den Zusatz niederzuschreiben, daß ihre Tochter Maria,
welche sieb in einem nervösen Zustande befinde, zur
Schwermut hinneige, daß ihre Körperkräfte gering seien
und ihr Gesundheitszustand schon im frühesten Alter zu
allerlei Bedenken Veranlassung geboten habe.“
Am 28. Dezember wurde die Angeschuldigte zur Be-
obachtung in die Irrenanstalt eingeschafft. Noch bevor
am 7. Februar 1900 das Gutachten des Psychiaters er-
stattet wurde, lief von der besorgten Mutter des Mäd-
chens der folgende charakteristische Brief vom 31. Januar
1900 ein:
„Bei unserer Vernehmung hier glaubten wir wich-
tige, aber für unsere Tochter Maria demütigende und für
die ganze Familie traurige Umstände nicht angeben zu
sollen, da wir überzeugt waren, daß Marias Unschuld
auch ohnehin an den Tag käme.
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Brandstiftungen einer Hysterischen.
95
Wir halten Maria eines solch furchtbaren Ver-
brechens nicht fähig, doch ist es uns jetzt, nachdem uns
durch Maria die Mitteilung ihrer Verweisung an eine
Irrenanstalt wurde, unmöglich, über den Geisteszustand
Marias aus ihrer Kindheit und Jugendzeit zu schweigen.
Ich war bei meiner Vernehmung fest entschlossen,
dem Beamten alles mitzuteilen, aber das feste Vertrauen,
daß Marias Unschuld in kürzester Zeit sich herausstelle
und ich dann unnötigerweise Maria und die ganze Fa-
milie bloßstelle, veranlaßte mich, zu schweigen.
Maria hatte schon in der ersten Kindheit Anfälle,
die ich nicht anders als mit dem Volksausdruck Gichter
zu bezeichen weiß. Diese Krankheit soll, wie ich von
meiner Mutter bei diesem Anlasse erfuhr, in der Familie
meines Vaters unter den Kindern aufgetreten sein und
Todesfälle herbeigeführt haben. Ich selbst soll in den
ersten Kinderjahren diese Krankheit in leichtem Grade
gehabt haben. Mit 14 Monaten hatte Maria eine Brust-
und Rippenfellentzündung zu überstehen und, obwohl
vom Arzte schon aufgegeben, überstand sie die Krank,
heit, doch blieb ihr stets große Schwäche und Atemnot
zurück, dem ich hauptsächlich zuschrieb, daß Maria
häufig von den sog. Gichtern befallen wurde und noch
im Jahre 1889, wobei sie über plötzliche Rückenschmerzen
klagte, vorübergehend bewußtlos wurde.
Dann verletzte sich Maria durch einen Fall vom
Stuhl herab an der Kante eines eisernen Ofens schwer,
so daß sie lange Zeit, selbst nachdem die Schürfungen
an den Rückenwirbeln geheilt waren, noch über Schmer-
zen im Rücken klagte. Bei diesem Fall erhielt sie auch
eine mindestens 6 Zentimeter lange, tiefe Wunde unten
am Hinterkopf, die ungern heilte und sich noch bemerk-
bar machte, solange Maria noch bei uns zu Hause war,
bis gegen 95, wo sich das Haar an der Narbe verklebte
und sie sich öfters ganze Strähnen Haare an dieser
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96
Held.
Stelle ausschnitt, wenn sie nicht fremde Hilfe zum ordnen
nehmen mochte.
Diese Verletzung fällt in die Zeit von 1882 — 1883,
genauer vermag ich es nicht anzugeben, ich rechne nach
der Zeit, in der der Ofen in ein anderes Zimmer ver-
setzt wurde, was ums Jahr 1883 geschah, und 1881 be-
zogen wir diese WohnuDg.
Dieser Verletzung schrieb ich später vielmals Marias
krankhafte Aufgeregtheit und die Anfälle von Bewußt-
losigkeit zu. Maria hatte großen Lerneifer und gute Be-
gabung. Wir hofften, ihr durch gute Schulbildung eine
bessere Lebensstellung schaffen zu können, und schickten
sie von Frühjahr 1889 — 1891 in die höhere Töchter-
schule, wo sie nach einem Jahre die Aufnahmeprüfung
zur 3. Klasse machte. Sie lernte mit großem, fast krank-
haftem Eifer ; der Tag genügte ihr nicht, Nächte hindurch
las sie in ihren Schulbüchern, so daß wir dagegen ein-
schreiten und schließlich strafen mußten. Als ich ihr
das Licht entzog, verwendete sie jeden Kreuzer dazu,
sich selbst Öl oder Licht anzuschaffen.
Dies veranlaßte meinen Mann, sie aus der Schule zu
nehmen, denn er behauptete, ihr aufgeregtes Wesen und
der damit verbundene Eigensinn sei eine Folge ihres
unsinnig betriebenen Lernens. Ich nahm sie dann ins
Hauswesen, zu dem sie sich nicht bequemen wollte, um
dann schließlich in eine wahre Putz- und Scheuerwut,
wie es mein Mann oft nannte, auszuarten oder zu ver-
fallen. Sie besuchte auch 3 /i Jahre die hiesige Frauen-
arbeitsschule, wo sie trotz guten Willens nur wenig Ge-
schick hatte, worüber sie sich oft selbst anklagte.
Im Frühjahr 1893 schickten wir sie, um Kochen
zu erlernen, nach Beuren im Donautal. Dort verfiel sie
fast in Trübsinn; wir erhielten Nachrichten darüber und
holten sie heim, wohin sie nur ungern folgte. In diese
Zeit fällt eine Mitteilung des Benediktiner-Paters Johannes
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Brandstiftungen einer Hysterischen.
97
Blessing, jetzt in Maria-Laach am Rhein, dahingehend,
ein Pater, der früher Maria gekannt, sei bei ihrem An-
blick erschrocken und habe die Befürchtung ausge-
sprochen, Maria werde in nicht zu ferner Zeit in eine
Heilanstalt für Gemütskranke gebracht werden müssen.
Damals hegten wir schon Verdacht, Maria tue sich
selbst ein Leid an. Zu Beginn des Jahres 1894 wurde
Maria immer unruhiger und suchte sich ohne unser
Wissen durch die Zeitung eine Stelle als Dienstmädchen
in Metz. Alles Bitten, alle Vorstellungen, daß sie ja
besseres leisten und in einem Geschäft eine passendere
und besser bezahlte Stelle haben könne, wenn sie durch-
aus fort wolle, halfen nichts. Am 2. Februar 1894 trat
sie den Dienst an, traf es aber sehr schlecht; schon vor
ihr konnte in dieser Stellung kein Mädchen aushalten.
Auf Verwenden von bekannten Persönlichkeiten kam sie
in ein feines Haus zu Ingenieur U. nach L. Sie schrieb
zufrieden, und die Herrschaft war ebenfalls zufrieden
mit ihr. Plötzlich erhielten wir in den ersten Tagen des
April die telegraphische Anfrage der Herrschaft, ob Maria
heimgekommen sei. Briefe und Depeschen gingen hin
und her, bis man uns telegraphierte, sie sei in Sigols-
heim bei Kolmar, ich solle sie holen. Maria batte nach,
ihrer Entfernung aus dem Hause eine Nacht in der
Peterskirche zu Straßburg zugebracht, dann war sie nach
Sigolsheim und hatte sich dort, völlig erschöpft, bei dem
ihr bekannten, von hier gebürtigen Kapuziner -Pater
Ambrosius Langenstein eingestellt, der sie sofort zu
Schwestern in das Spital nach Kinzhcim verbrachte, uns
aber benachrichtigte, sie abzuholen, weil er für ihren
aufgeregten Zustand fürchtete. Damals fürchtete unser
Stadtpfarrer, Geistlicher Rat H., wie ihre Herrschaft mit
uns, sie habe sich ein Leid angetan.
Ich brachte Maria in trostloser Stimmung heim.
In diese Zeit fällt es, daß unser Stadtpfarrer, Geist-
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Held.
licher Rat H., wiederholt Bedenken über Marias
geistige Gesundheit aussprach. Es kam öfter zu pein-
lichen Auftritten in der Familie, und Maria kam außer
sich, wenn sie mein Mann einen Narren nannte, denn nur
in einem kranken Gehirn könne solcher Eigensinn und
solche Wut gegen sich selbst entstehen. Maria verschmähte
fast alle Speisen, sie aß stets ungenügend schon früher,
und Fleischspeisen hatte sie manches Jahr schon nicht
mehr genossen. All unser Bitten half nichts. Damals fiel
ihre geistige Verfassung auch andern Personen auf, und
nicht selten wurden uns Andeutungen gemacht. Dabei
arbeitete Maria rastlos und über ihre Kräfte, so daß
man nicht selten auch da Einhalt tun mußte. Als Maria
im Jahre 1894 darauf bestand, in den Dienst zu gehen,
sprachen wir mit unserm Arzt, Herrn Dr. W., jetzt in
Schwäbisch -Gmünd. Dieser riet uns: lassen Sie sie
ziehen, vielleicht wird’s besser; sie ist aber etwas hy-
sterisch.
Wir lebten in beständiger Angst um Maria. Im
Jahr 1894 beging Maria einen Selbstmordversuch in unse-
rer Wohnung. Ich hatte aus der Apotheke zum Töten der
Ratten Gift bezogen und einen Rest in einer Schatulle
in der meist versperrten Kommode aufbewahrt. Jeden-
falls habe ich den Schlüssel einmal, wie öfter, zur Ent-
nahme von etwas Notwendigem abgegeben und Maria hat
das Gift entnommen. Marias Unwohlsein fiel mir auf,
und bei Gelegenheit vermißte ich das Gift. Auf meinen
Vorhalt gestand sie es ein.
Sie war in der Zeit so schwermütig und unglück-
lich, daß es uns Mitleid abnötigte.
Im Jahre 1895 bestand sie darauf, wieder in Dienst
zu gehen, und trotzdem ihr in Nürnberg eine ihren Fähig-
keiten entsprechende, für sie passendere Stelle besorgt
worden wäre, nahm sie wieder eine Stelle als Dienst-
mädchen bei Pfarrer Sch. an.
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Brandstiftungen einer Hysterischen.
99
Dort war man mit ihr sehr zufrieden; überhaupt
sind uns nie aus ihrer Dienstzeit Klagen zugegangen.
Stets wurden ihre Treue, aufopfernder Fleiß und sittliches
Betragen betont Von 1895 ab war Maria hie und da
auf kurze Zeit zu Hause.
Mit Marias Dienstherrschaften stand ich nicht in
Verkehr und kann Uber die Zeit nach 1895 über Maria
wenig sagen. Mit Liebe sorgte sie für ihre Geschwister
und unterstützte sie kräftig von ihrem Lohn. Ich lebte
in beständiger Angst um Maria und versuchte immer
wieder, so auch ehe sie nach München ging, sie in
unsere Familie zurückzubringen. Aber sie wollte arbeiten
und zeigen, daß sie auf eigenen Füßen stehen könne.
Eines muß ich noch erwähnen. Wenn die Rede auf
ihre Krankheit in der Kindheit kam, konnte sie mir mit
Weinen sagen: o Mama, warum hast du mich auch da-
mals so gepflegt, warum hast du mich nicht lieber
sterben lassen. Ihr Trübsinn und ihre Schwermut machten
sie bedauernswürdig, umsomehr, da sie niemandem
etwas zu Leide tat, sondern überall zu helfen bestrebt
war; nur gegen sich selbst war sie hart.
Ich erlaube mir, hier die Namen der Zeugen zu
nennen, die mit Maria verkehrten, und bitte ebenso
dringend als ganz ergebenst, wenn es nötig erscheint, sie
an zugehöriger Stelle ganz gefälligst vernehmen lassen
zu wollen Ich fürchte allerdings, daß ich den
Persönlichkeiten bitteres Leid durch meine Heranziehung
zufüge, aber ich vermag mir ja nicht anders zu raten ;
bis jetzt hoffen wir täglich und stündlich, das entsetz-
liche Dunkel werde sich lichten, und Marias Unschuld,
an die wir fest und zuversichtlich glauben, werde sich
heraussteilen.“
Am 7. Februar 1900 wurde von dem Oberarzt der
Kreis-Irrenanstalt München ein abschließendes Gutachten
erstattet, aus welchem folgendes hervorgehoben sein mag:
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100
Held.
„Die Anamnese ist auf die in den Akten enthaltenen
Angaben angewiesen.
Über Erblichkeit ist nichts zü eruieren; die Eltern
leben und sind gesund; die Familie ist bigott; nach An-
gabe der Patientin befinden sich drei von sieben Geschwistern
im Kloster (zwei Brüder und eine Schwester); ein Bruder
trägt sich mit der Absicht, ins Kloster zu gehen.
Maria St. selbst war nach Angabe der Mutter stets
körperlich schwächlich, ihr Gesundheitszustand gab schon
in frühesten Jugendjahren zu vielerlei Bedenken Anlaß.
Sie war geistig geweckt, lernte in der Schule leicht; Um-
gang mit Altersgenossinnen hat sie nie gepflogen, vermied
öffentliche Lustbarkeiten, war immer zurückhaltend; sie sei
nervös und zu Schwermut geneigt, in ihrem Verhalten
konnte sie mitunter etwas Starrsinn an den Tag legen.
Pfarrer Sch., bei welchem sie diente, nennt sie gemüt-
lich nicht vollkommen normal, sie mache einen „melancho-
lisch-gedrückten Eindruck“.
Pfarrer St. (Cousin der Maria St.) bestätigt, daß sie
ein zurückgezogenes Leben geführt habe, zu Unbeständig-
keit und Launenhaftigkeit geneigt und nervös leicht erreg-
bar sei.
Die zu Protokoll genommenen Angaben einer früheren
Dienstherrschaft bestätigen, daß sie einen soliden zurück-
gezogenen Lebenswandel geführt, viel in die Kirche ge-
gangen sei und viel auf ihre Ehre gehalten habe; sie habe
sich auf ihre Person sehr viel eingebildet und sei sehr
hochmütig gewesen; aus dem Dienst sei sie entlassen
worden, weil sie gegen die Kinder roh war, diese bei ge-
ringfügigen Anlässen arg geschlagen habe.
Die ehemalige Dienstherrschaft Bl. gibt an, daß die
St. große Frömmigkeit gezeigt habe, alle 14 Tage bis vier
Wochen zur Beichte und Kommunion gegangen und keinen
Sonntag die Kirche versäumt habe; auffallend sei ihr
großer Ehrgeiz gewesen. Rechtsanwalt F. „weiß vom
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Brandstiftungen einer Hysterischen.
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Hörensagen, daß die andern Dienstmädchen in seinem
Hause sich über das hochmütige Benehmen der St. be-
klagten“.
Status bei der Aufnahme. 28. XII 1899.
St. wird vom Referenten auf der Abthlg. II an einem
Fenster, abseits von den andern Kranken, das Gesicht in
der Schürze verbergend, angetroffen; auf Anrede schreckt
sie heftig zusammen, bricht in Weinen aus, verhüllt sofort
wieder ihr Gesicht und gibt lange keine Antwort; schließ-
lich fertigt sie unter einer unwilligen Körperbewegung den
Arzt mit den gereizt und ungeduldig vorgebrachten Worten
ab : „Ich bin in unzähligen Verhören genug gemartert worden,
ich lasse mich jetzt nicht auch noch von einem Arzt maltrai-
tieren und kujonieren, ich sage kein Wort mehr, als ich
dem Richter angegeben habe;“ ist weiter zu keinem Wort
mehr zu bewegen.
St. ist eine sehr schmächtig gebaute und mangelhaft
entwickelte Person; der Schädel ist klein, das Gesicht sehr
schmal und abgehärmt; die Zähne sind unregelmäßig ge-
stellt, defekt, die Pupillen sind stark erweitert, reagieren
prompt auf Lichteinfall, die Gesichtsfarbe ist blaß. Einer
weiteren körperlichen Untersuchung, Prüfung der Reflexe,
Untersuchung der inneren Organe, ist sie, anscheinend aus
übertriebener Schamhaftigkeit nicht zugänglich, protestiert
entrüstet dagegen.
29. XII Sie vermeidet es, den Referenten
anzusehen, gibt mit niedergeschlagenen Augen und in
widerwilligem indignierten Tone Auskunft. Sie leugnet
entschieden die beiden Brände gelegt und die anonymen
Briefe geschrieben zu haben ; sie „müßte ja tatsächlich ver-
rückt sein, wenn sie das letztere getan hätte.“ Uber die
Person des Briefschreibers will sie keine Vermutung haben;
wahrscheinlich erscheine es ihr, daß Rechtsanwalt F., mit
dem sie einmal ein Renkontre gehabt, bei welchem sie ihn
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Held.
derb angelassen habe, diese Briefe habe schreiben lassen,
von ihm gehe die ganze Hetze gegen sie aus.“ Der Brand sei
jedenfalls durch Kurzschluß der elektrischen Leitung auf dem
Speicher entstanden; in diesem Falle werde dem Geschädigten
der Schaden nicht vergütet, er habe also ein Interesse daran,
einen Brandstifter aufzutreiben ; daß die Wahl auf sie fiel,
habe sie wohl seinem Haß gegen sie zu verdanken.“ Auf
Vorhalt der hauptsächlichsten Tatsachen, auf welchen sich
der Verdacht der Brandstiftung gegen sie stützt, schweigt
sie, wendet sich trotzig ab : „man soll mich dann nur ein-
sperren, mir ist es gleich, ich werde wissen, was ich zu
tun habe!“
30 „fühlt aus dem Tone des Referenten
Spott und Hohn heraus, repliziert oft in geringschätziger
gereizter Weise. Der Ref. habe sie vor den anderen Kranken
komprommitiert, weil er laut mit ihr über das ihr zur
Last gelegte Verbrechen gesprochen habe; die anderen
sähen sie jetzt darum an und machten beleidigende Be-
merkungen über sie.“
Sie würde aber dem Ref. auch unter vier Augen keine
Antwort mehr geben, jedem anderen eher, „weil sie nicht
mag.“
10. I. Dem Referenten gegenüber immer gereizt und
geladen, betrachtet ihn mit giftigen Blicken. Bricht mit
wenigen Worten unwillig die Unterredung ab, immer mit
der Äußerung: „Ich brauche keinen Spott!“ Verweigert
darauf eigensinnig auf alle Fragen die Antwort, läuft
zornig weg; hat Nachts sehr unruhig geschlafen. Die
Nahrungsaufnahme ist zur Zeit zufriedenstellend.
12. Äußerte einer anderen Kranken gegenüber, sie
werde sich umbringen, wenn sie verurteilt werde, die
Schande könne sie nicht ertragen; ihre Brüder müßten
jedenfalls aus den Ordensgemeinschaften austreten, wenn
sie als Brandstifterin gebrandmarkt würde
21. Hat nachts sehr unruhig geschlafen,
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Brandstiftungen einer Hysterischen.
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sich oft herumgeworfen; sieht blaß aus, ist gereizt, giftig
abweisend, stampft mit dem Fuße, als Ref. mit Fragen
in sie dringen will, läuft unwillig weg.
29. Hat wenig gegessen und wenig ge-
schlafen. Bleibt zu Bette, fühlt sich wohler, (die Diarrrhoen
haben aufgehört); Pat. klagt über stechende Schmerzen in
der rechten Ovarialgegend ; solche Schmerzen stellten sich
nach ihrer Angabe immer ca 8 Tage nach einer Menstru-
ation ein. Temperatur morgens 36,4 abends 36,5. Ist
gegenwärtig auffallend mild gestimmt, läßt sich aber trotz-
dem zu keinem Zugeständnisse herbei; verließ nachmittag
das Bett.
30. Jänner 1900.
Beim Beginn einer längeren Unterredung heute ge-
steht die St. auf Aufforderung, sich auszuspre-
chen und zu erleichtern, sofort die beiden Brand-
stiftungen unumwunden zu. ebenso die Abfas-
sung derbei den Akten befindlichen anonymen
Briefe. Sie erklärt jedoch, es sei nicht Rache gegen den
Rechtsanwalt F. gewesen, sondern ein ganz anderes Motiv,
das sie nicht nennen könne, sie hätte in jedem anderen
Haus angezündet, selbst bei ihren Eltern. Auf Eindringen
erklärt sie weiter : sie habe gewollt, daß die Sache schlimm
für sie ausgehe. Sie habe den zweiten Brand im Keller
gelegt in der Meinung, es könne vielleicht durch eine Gas-
explosion ein größeres Unglück geben; sie habe gedacht,
die Sache sollte recht unglücklich ausgehen, vielleicht
Menschenleben kosten. Wenn jemand das Leben dabei
verloren hätte, hätte ihr wohl die Person leid getan, der
Effekt wäre ihr aber recht gewesen, mit dem jetzigen
Effekt sei sie nicht zufrieden. Beim ersten Brande habe
sie im Auge gehabt, daß vielleicht die Hausmeisters, die
am Speicher wohnen sollten (damals allerdings noch nicht
eingezogen waren, wie sie später erfuhr) umkommen sollten,
auch habe sie gedacht, das Dienstmädchen der im vierten
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104
Held.
Stock wohnenden Familie 0., das mit zwei kleinen Kindern
zu Hause war, könnte dabei mit den Kindern, oder wenig-
stens einem von diesen um kommen.
Zögernd, aber doch mit aller Kälte und Ruhe macht
sie diese Angaben, aber erst nach längerem Zureden ist sie
zu weiterer Aussprache zu bewegen.
Sie habe sich schon oft etwas antun wollen, trage
sich seit Jahren mit Selbstmordgedanken, habe aber nie
den Mut dazu gehabt. Darum habe sie angezündet, damit
Menschen dabei zugrunde gingen und damit sie alsdann
zum Tode verurteilt würde.
Darum sei sie auch mit dem Effekte des ersten Brandes
nicht zufrieden gewesen, sie habe aber den Verdacht durch
anonyme Briefe auf sich gelenkt, damit nicht ein Un-
schuldiger verdächtigt würde. Sie habe auch eine Zeit
lang an Selbstanzeige gedacht, allein ihre Eltern hätten sie
gereut Als sie mit Sicherheit erfahren, daß Brandstiftung
mit Gefährdung von Menschenleben zu einem Todesurteil
nicht genüge, habe sie noch einmal angezündet Ihre
Großmutter, die noch in Nürnberg lebe, habe ein Testament
zu ihren Gunsten gemacht und dieses Geld habe sie den
etwaigen Hinterbliebenen beim Brande umgekommener
Opfer zuwenden wollen. Der Gedanke, daß sie Menschen
töte, hätte sie nicht abhalten können, das habe sie gewollt
und seit Jahren geplant.
An Selbstmord denke sie schon seit ihrem zwölften
Jahre. Mit zwölf Jahren habe sie schon einmal Phosphor-
zündholzköpfe hergerichtet, aber nur eine kleine Quantität
genommen, es sei ihr nicht recht ernst gewesen, sie kam
mit einer kleinen Magenverstauchung davon. Mit 16 Jahren
habe sie sich wirklich umbringen wollen und ihrer Mutter
ein Gläschen weggenommen, auf dem „Arsenik“ stand.
Sie habe davon getrunken, sei auch bewußtlos geworden.
Die Mutter, welche damals schon wußte, daß sie verstimmt
und lebensüberdrüssig sei, habe gleich vermutet, daß sie
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Brandstiftungen einer Hysterischen.
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etwas genommen habe, sie habe es aber nicht eingestanden.
Erst später habe die Mutter das fast geleerte Gläschen in
ihren Sachen gefunden und sei auf die Wahrheit ge-
kommen.
Mit 18 Jahren habe sie einen dritten Selbstmordver-
such mit Phosphorzündhölzern gemacht, aber nicht energisch
genug und sich nur den Magen verdorben.
Den Grund dieses Lebensüberdrusses will sie lange
nicht nennen, endlich beichtet sie weiter:
Sie habe immer gemeint, sie komme doch nicht in
den Himmel, werde verdammt und habe darum bald sterben
wollen, da nach dem katholischen Glauben ein Unterschied
in der Höllenstrafe besteht, die umso härter werde, je länger
einer in Sünden gelebt habe.
Auf solche Gedanken sei sie durch eine Mission ge-
bracht worden, der sie im 12. Lebensjahre beiwohnte.
Schon bei der ersten Beichte im Alter von 9 Jahren
habe sie schwere Gewissensskrupel gehabt; sie habe trotz
aller Mithilfe und allen Zuspruchs geglaubt, sie habe et-
was vergessen, der Geistliche habe sie nicht richtig ver-
standen, die Beichte sei nicht gültig gewesen. Sie habe
darum immer wieder, oft dreimal an einem Tage dieselbe
Beichte abgelegt, an der Richtigkeit der Absolution ge-
zweifelt und immer stärkere Skrupel bekommen. Die
Mission habe sie nun furchtbar aufgeregt und in ihr die
Überzeugung erweckt, sie sei doch verloren und sterbe
am besten recht bald; daher dann der erste Selbstmord-
versuch.
Den Eltern sei es nicht entgangen und sie hätten sie
scharf überwacht, nachts eingeschlossen.
In der Folgezeit habe sie nun Generalbeichte über
Generalbeichte abgelegt, stets mit demselben Erfolg, sie
seien alle unrichtig und ungiltig gewesen.
Schließlich im 16. Jahre hätten ihr die Geistlichen
die fortwährende Wiederholung der Generalbeichte (36
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106
Held.
seien es schon gewesen) verboten und sie einfach aus dem
Beichtstuhl fortgeschickt. Eine einfache Beichte habe sie
nicht für gültig ansehen können und darum habe sie seit
dem 16. Jahre nicht mehr gebeichtet, d. h. sie habe es
noch mehrere Ostern probiert, eine Generalbeichte abzu-
legen, sei aber abgewiesen und nur zur einfachen Beichte
zugelassen worden, habe diese aber als doch nichts helfend
unterlassen.
Zweimal habe sie sich entschlossen einfach zu beich-
ten, sei dann aber vor der Absolution davongelaufen, denn
sie wäre doch unrichtig gewesen und hätte nichtB geholfen.
Seit 3 Jahren habe sie keinen Versuch mehr gemacht, zu
beichten.
Sie sei protestantisch getauft, wenn auch katholisch
erzogen. Die Mutter sei protestantisch und sie und ihre
Geschwister seien in der protestantischen Schweiz geboren.
Als nun vor 8 Jahren die eine Schwester ins Kloster
ging, kam die protestantische Taufe auf und sie (die
Schwester) mußte sich katholisch nachtaufen lassen. Das
taten auch die andern Geschwister, sie selbst aber nicht,
da sie fürchtete, es könne wieder nicht recht gemacht
werden und abermals ein Sakrament bei ihr falsch ange-
wendet werden. Dieser Umstand habe natürlich viel dazu
beigetragen, daß sie meinte, sie sei nun doch einmal von der
Kirche ausgestoßen, und daß sie auch nicht mehr zur Beichte
ging. Sie habe gemeint und meine heute noch, ein Mord
sei nicht so schlimm, würde in der Hölle nicht so gestraft,
als wie 80 Jahre etwa in Sünden leben, 80 Jahre lang
nicht beichten und kommunizieren. Sie spi von ihren
früheren Beichtvätern oft gezankt worden, weil sie diesen
nicht glaubte was sie sagten, und dieselben hätten ihr
prophezeit, sie käme noch ins Irrenhaus oder verkomme
noch in Sünde.
Mit dem Gedanken, Brand zu legen, dabei jemand zu
töten, um hingerichtet zu werden, habe sie sich schon
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Brandstiftungen einer Hysterischen.
107
seit 8 Jahren getragen, sie habe aber auch andere Mord-
gedanken gehabt und zwar diese zuerst und dann ab-
wechselnd mit Brandstiftungsabsichten.
In ihrem 16. Jahre habe sie den Plan gefaßt, eine
in ihrem Hause lebende alte Frau zu vergiften, sie habe
gewartet, bis dieselbe sich wegen ihres körperlichen Leidens
mit den Sterbesakramenten versehen ließ. Sie wollte die-
selbe dann mit einem Phosphortrunk vergiften, fand aber
nicht den Mut zur Ausführung; dann dachte sie das Haus
in Brand zu stecken wenn die Alte allein zu Hause sei;
„die hätte sich nicht retten können.“ Zufällig habe sie er-
fahren, daß die Hausleute nicht versichert seien, und das
habe sie abgehalten.
Später habe sie in einigen Diensten gedacht, mit dem
Gas etwas anzufangen und dadurch Menschen zu ersticken,
diesen Plan aber wegen der schwierigen Ausführung wieder
fallen lassen. Immer habe sie gedacht, sie wolle ein todes-
würdiges Verbrechen begehen, weil sie den Mut zum Selbst-
mord nicht finde. Sie habe nur den Mut zum Giftnehmen,
„aber zu sonst nichts anderes“, und auch für die Selbst-
vergiftung konnte sie zu keinem Entschlüsse kommen;
habe auch immer gefürchtet, es könne vielleicht zum Tode
nicht genügen und sie könnte wieder davonkommen.
Ihre Mutter sei gewiß überzeugt, daß sie den Brand
gestiftet, denn diese wüßte, wie es um sie stehe. Sie habe
der Mutter selbst schon gesagt „sie fange noch was an,
damit sie ins Zuchthaus komme“, dabei habe sie gedacht,
das Leben im Zuchthaus würde sie doch nicht aushalten
und dort würde sie schon den Mut zum Selbstmord finden.
Selbstmord und Verbrechen sei gewiß nicht so schlimm
als jahrelang immer mehr sündigen, nicht beichten, nicht
kommunizieren.
Seit 8 Jahren sei sie immer damit umgegangen, „um
so weit zu kommen.“
Sie habe schon bei ihrem Vetter (bei dem sie 10 Mo-
Der Pitaval der Gegenwart. IV. 8
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Held.
nate Haushälterin war, einem Pfarrer) anziinden wollen,
dort hatten neben nnd um die Pfarrersscheune herum in
alten schlechten Häusern alte Leute gewohnt, so daß leicht
eines hätte verbrennen können. Es habe sie nur der
Vetter gereut. Sie habe aber auch geplant, den Vetter
mit seinem eignen Revolver zu erschießen; er habe aber
auf einmal, als ob er etwas gemerkt hätte, den Revolver
weggeräumt. Eigentlich könne sie mit blanker Waffe nicht
morden, sie habe nie daran gedacht, jemand zu erstechen,
aber unzähligemal zu morden mit Gift, durch Brandstiftung.
Ihrem Vetter, dem Pfarrer, habe sie ihre religiösen
Gewissensskrupel geoffenbart, dieser aber habe sie nicht
beseitigen können. Derselbe habe sie in München auf
der Durchreise einmal in den Beichtstuhl gezwungen, sie
sei hineingegangen, aber vor der Absolution wieder fort,
d. h. sie habe eigentlich gar nicht gebeichtet Trotzdem
habe sie ihn angelogen und gesagt, sie habe gebeichtet,
und habe am anderen Tag sogar bei ihrem Vetter kom-
muniziert, ohne Beichte und mit der Lüge auf dem Ge-
wissen. Sie habe gemeint, es müsse ihr da etwas pas-
sieren, wenn sie unwürdig kommuniziere, sie müsse tot
Umfallen. Nachdem nichts passiert sei, habe sie erst recht
Mordgedanken bekommen, um ihr sündiges Leben so
wenigstens bald zu enden.
Sie hätte den Vetter nicht angelogen, nicht unwürdig
kommuniziert, wenn sie nicht guten Grund gehabt hätte.
Ohne Beichte und Kommunion hätte sie nicht mehr in
seinem Pfarrhaus bleiben können, das hatte er ihr bereits
eröffnet und sie wollte dort bleiben, weil es dort nach den
obengeschilderten Verhältnissen so leicht möglich war,
etwas anzustellen, was Menschenleben kostete.
Das Pfarrhaus mußte sie dann doch verlassen, weil
sie nicht mehr zur Beichte ging. Sie ging gegen das
Wissen und Wollen ihrer Eltern nach München und trat
bei Dr. Scb. in den Dienst.
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Brandstiftungen einer Hysterischen.
109
Gerade in den letzten Monaten sei sie voller Wut ge-
wesen, daß alles verfehlt gegangen und sie noch zu keinem
Resultat gekommen sei und immer noch lebe. 8 Tage
vor dem ersten Brand habe sie noch einmal den Ge-
danken gehabt, es in 14 Tagen noch einmal mit einer
Beichte zu probieren, diesen Plan aber als unnütz ver-
worfen. Am Freitag habe sie dann den Plan gefaßt, an-
zuzünden und zwar am Sonntag abends. Sie habe Pe-
troleum gekauft, mit 2 Litern an drei verschiedenen Stellen
getränkt und alle drei Punkte angezündet; als erstes Ob-
jekt ein altes Sopha in der Speicherabteilung der „Trit-
scheller“, das sie an einer zerrissenen Stelle mit Petroleum
tränkte. Der Brand sei viel rascher ausgebrochen und
entdeckt worden als sie wollte; darum sei auch nichts
passiert. Sie habe gemeint, die Hausmeisters kommen
nicht mehr heraus, die müssen ersticken. Diese hätten
aber noch gar nicht in der Speicherwohnung gewohnt.
Den zweiten Brand habe sie gelegt, als sie gehört
hatte, daß nur dann Todesstrafe erfolgt, wenn Menschen-
leben dabei zugrunde gehen. Sie habe den Keller ge-
wählt, weil sie auf eine Gasexplosion hoffte. Sie machte
im Keller ihrer Herrschaft ein Häufchen kleines Holz
gleich neben den Holz- und Kohlenvorräten, tränkte es mit
Petroleum und zündete an. Der Effekt sei leider nicht
genügend gewesen. Sie sei unglücklich gewesen, ihren
Zweck nicht erreicht zu haben. Sie habe im Gefängnis
schon an Selbstmord gedacht und werde schon Gelegen:
heit finden, wenn sie in die Angerfrohnfeste zurückkomme;
hier habe sie keine Gelegenheit. Nach ihrer Verhaftung
habe sie sich allerdings aufgeregt, weil sie ihren Zweck
nicht erreicht habe, sie habe geleugnet, um wieder frei zu
werden, und gleich beschlossen, dann gehe sie wieder in
den Dienst und vergifte jemand, irgend jemand, es sei ihr
gleich wen.“
Vorstehende Mitteilung über die Vorgeschichte ihrer
8 *
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110
Held.
Tat und die Tat selbst machte St. genau in der einge-
baltenen Reihenfolge und mit den angegebenen, nach-
stenographierten Worten. Sie läßt sich allerdings Stück
für Stück zu den einzelnen Mitteilungen drängen, zeigt
aber eisige Ruhe bei Enthüllung ihrer Mordgedanken und
nur wenn sie von ihrer religiösen Verdammnis, ihrer jahre-
langen Gewissenspein spricht, kommen manchmal Tränen.
Allgemein anamnestisch äußerte sie folgendes:
Es habe nie jemand sie gemocht und auch sie habe
nie jemanden gemocht außer die Eltern. Sie habe sich
immer isoliert, nie eine Freundin gehabt, auch in der
Schule nicht. Die Leute hätten gesagt, sie hätte einen
Sparren zuviel im Kopf. Bis zur ersten Beichte sei sie
ganz ruhig gewesen, dann gingen die Skrupel an. Sie
habe schon damals gern ins Kloster gehen wollen, aber
immer die Skrupel gehabt, sie sei dazu nicht fromm genug,
sie komme nicht ins Kloster, sie werde nicht selig.
Seit jener Mission im zwölften Lebensjahre habe sie
sich den Tod gewünscht; fortwährend während all der
zwölf Jahre seither; sie habe alles mögliche getan, um
krank zu werden, sei aber nie gefährlich krank geworden.
Sie habe oft nachgedacht, ob in ihrer Familie etwas vor-
gekommen sei, ob jemand nicht fromm gewesen sei, ob ein
Fluch auf ihr laste; sie habe zeitweise gemeint, es sei
vielleicht ein Fluch, weil ihre Eltern in konfessioneller
Mischehe leben, sie glaube das aber nicht mehr, sie sei ge-
wiß selbst an allem schuld, daß es so gekommen.
Sie habe sich oft ausgemalt, wie es sei, hingerichtet
zu werden; habe gerne Hinrichtungsberichte gelesen, um
zu hören, wie es geht und ob es rasch geht; sie habe
über Hinrichtungen im Konversationslexikon gelesen. Habe
einmal in Stuttgart durch Vermittelung des ihr bekannten
Gefängnispfarrers die Aufschlagung des Schaffots sehen
dürfen. Sie sei in den letzten Jahren allerdings noch in
die Kirche gegangen, aber nur zum Schein, gebetet habe
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Brandstiftungen einer Hysterischen.
111
sie nicht, nie zu Hause, denn sie habe gemeint, es sei ja
doch umsonst, sie sei schon verstoßen und ausgeschlossen
von der Kirche.
Ihr könne niemand helfen, sie sei nicht geisteskrank,
man solle sie ins Gefängnis zurücklassen, sie wolle ver-
urteilt werden, dann werde sie den Mut schon finden, der
ihr bisher gefehlt, vor dem Zuchthaus grause ihr. Nein
— nein, kein Pfarrer könne ihr helfen, sie sei verstoßen
für immer, sie könne nur daran denken, ihre Höllenqualen
zu lindern.
Körperlich will St außer zeitweiligen heftigen Kopf-
schmerzen vollkommen gesund sein. Nervös? ja, das sei
sie, aber durch das böse Gewissen!
Mit 11 Jahren menstruiert, bis zum 16. Jahre regel-
mäßig, immer viel Schmerzen, seit 16 Jahr dauert Men-
struation oft 14 Tage und setzt nur auf kurze Zeit aus.
Nie bleichsüchtig.
Magenübel nur auf die Vergiftungsversuche; sonst nie.
Alle übrigen körperlichen Störungen in Abrede gestellt
Zwangsvorstellungen anderer Art werden in Abrede
gestellt, nur in der Richtung habe sie auch noch Skrupel
gehabt, daß sie bei jeder Arbeit meinte, sie habe ihre Pflicht
nicht recht erfüllt, die Arbeit nicht rasch, nicht gründlich,
nicht sauber genug gemacht; sie habe nie mit sich zu-
frieden sein können.
Die Frage, ob denn an ihren Skrupeln doch vielleicht
irgend welche Verfehlungen besonderer Art schuld seien,
verneinte St. wiederholt mit aller Bestimmtheit Nein —
nur sie selbst sei an den Skrupeln schuld und weil sie
niemandem geglaubt, sei sie soweit gekommen.
31. I. Hat abends wenig gegessen, nachts schlecht
geschlafen, weicht heute dem Referenten lachend aus;
wurde abends nach einer Unterredung mit dem Referenten,
in welcher ihr derselbe Vorhalt über die Abenteuerlichkeit
und Unwahrscheinlichkeit des gestern von ihr angegebenen
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112
Held.
Motivs gemacht hatte, sehr erregt, schimpfte, drohte nichts
mehr zu essen, die Fenster hinauszuschlagen, sich umzu-
bringen.
3. II. Hat sehr mangelhaft geschlafen,
gedroht, sie wolle den Referenten ins Gesicht schlagen,
wenn er sie mit seinem „Spott“ nicht in Ruhe lasse. Ißt
wieder.
Hat körperlich abgenommen; das Gewicht sank vom
22. I. — 29. I. von 50.50 K. auf 49.20.
Hetzt zur Zeit die Kranken durch Lügen und Ver-
leumdungen hintereinander; einer seit dem 16. I. auf der
gleichen Abteilung befindlichen zur Beobachtung eingewie-
senen Hysterica begegnet sie mit unversönlichen Hasse, hat
wiederholt mit ernstlichen Gewalttaten gegen dieselbe ge-
droht, weil diese sie „in gemeiner verlogener Weise bei
den andern Kranken heruntersetzte.“ .......
Gutachten.
Der Verdacht, daß es sich bei der pp. St. um eine
hysterische Geistesstörung handelt, ist durch ihre eigenen
Angaben, durch die Mitteilungen ihrer Mutter und durch
die Beobachtungen in unserer Anstalt vollauf bestätigt
worden. Erblich belastet hat sie schon von Jugend auf
ein abnormes Verhalten gezeigt. In der Kindheit litt sie
an Fraisen, war immer schwächlich, häufig krank. In der
Schule lernte sie gut, verkehrte aber nie mit Altersgenos-
sinnen. Schon mit der ersten Beichte begannen religiöse
Skrupel, die sich mehrten nach einer Mission, der sie bei-
wohnte. In der Folgezeit entwickelten sich Zwangsvor-
stellungen, Grübelsucht, Selbstanklagen über ihr religiöses
Leben, sie machte mehrere Selbstmordversuche, zeigte aus-
gesprochene Hysterie und allgemein fürchtet man für ihren
Verstand. Sie gewann zwar nach einigen größeren Auf-
regungen die äußere Selbstbeherrschung wieder, diente
sogar zur größten Zufriedenheit ihrer Dienstherrschaften,
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Brandstiftungen einer Hysterischen.
113
die geistige Störung nahm in ihrem Innenleben aber immer
mehr überhand. Während die einzelnen Dienstherrschaften
nur bemerkten, daß sie hochmütig, ehrgeizig und reizbar
war, mit niemandem verkehrte, traten schon in diesem
Jahre fortwährend Mordgedanken neben der früheren Selbst-
mordneigung auf. Die Grübelsucht und die Zwangsvor-
stellungen hatten sich bereits zu fixen Wahnvorstellungen
entwickelt und seit Jahren trug sie sich wohl zwangs-
mäßig mit dem Gedanken, der unleidlichen Situation durch
eine Gewalttat ein Ende zu machen.
Die Mutter der Angeschuldigten hat die Angaben ihrer
Tochter bezüglich der religiösen Skrupel, Zwangs- und
Wahnvorstellungen, soweit sie ihr bekannt sein konnten,
vollkommen bestätigt. Nach dem Geständnisse der Rub-
rikatin können dieselben auch von ihrem Cousin, dem
Pfarrer St in Irfersnorf, welcher sich in seinem Bericht
— aus begreiflichen Gründen — nur sehr reserviert ge-
äußert hat bestätigt werden.
Die Angaben der St. bezüglich dieser Dinge erscheinen
auch glaubwürdig sowohl durch die Art und Weise der
Vorbringung als auch durch die ganze psychologische
Entwicklung der krankhaften Symptome, die mit der Er-
fahrung übereinstimmt Trotzdem mag dahingestellt bleiben,
ob das von der St. angegebene Motiv der Brandstiftung
vollkommen der Wahrheit entspricht.
Ein derartiges Motiv ist bei einer Hysterischen wohl
möglich, es mag aber auch die Sucht, durch ein Ver-
brechen sich auszuzeichnen oder die Rache wegen der
durch den Hausbesitzer erlittenen, vermeintlich schweren,
für eine Hysterische überaus empfindlichen Kränkung
beim Entschluß zur Tat als mitbestimmend oder ausschlag-
gebend mitgewirkt haben.
Jedenfalls aber handelt es sich um die Tat einer
Geisteskranken, denn es hat, ganz abgesehen von den er-
haltenen Berichten die Beobachtung in unserer Anstalt aus
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114
Held.
dem oben ausführlich geschilderten Verhalten der Rubri-
katin mit Sicherheit das Vorhandensein einer hysterischen
Geistesstörung nachweisen können.
Ich gebe daher mein Gutachten dahin ab, daß die
Maria St. geisteskrank ist, seit Jahren an hysterischer
Geistesstörung und religiösen Wahnvorstellungen leidet und
bei Begehung der inkriminierten Brandstiftungen in einem
Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit sich be-
fand, durch welchen ihre freie Willensbestimmung ausge-
schlossen war.
Da der Gemütszustand der Rubrikatin Selbstmord oder
eine neuerliche andere Gewalttat befürchten läßt, muß ihrer
Rückverbringung ins Untersuchungsgefängnis dringend
widerraten werden.
Wegen ihrer hochgradigen Gemeingefährlichkeit ist
sie im Falle der Aufhebung des Haftbefehls der k. Poli-
zei-Direktion zur weiteren Verwahrung gemäß Art 80
P.StG.B. zu überweisen.
Auf Grund dieses Gutachtens wurde Maria St. von
der Anklage zweier Verbrechen der Brandstiftung außer
Verfolgung gesetzt und ihre Haftentlassung angeordnet
Von der Kreisirrenanstalt München weg wurde sie,
ohne nochmal in das Untersuchungsgefängnis zu gelangen,
sofort in die Irrenanstalt ihrer Heimat als gemeingefähr-
liche Irre eingeschafft.
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Müller Thomas and seine Familie.
Von
Staatsanwalt Dr. Schneider in Mainz.
Müller Thomas und seine und seiner Angehörigen
Taten haben schon wiederholt die Öffentlichkeit beschäftigt,
doch trat bei der Erörterung des Falls stets die Rücksicht
auf das öffentliche Wohl oder das Mitleid mit der Familie
oder ihrem Schicksal in den Vordergrund. Die „Affäre“
vom juristischen oder vielmehr kriminalistisch-psychiatrischen
Standpunkt zu betrachten, bietet aber ein mindestens ebenso
großes Interesse, zumal es dem unbefangenen Beurteiler
dann eher möglich sein wird, sich ein klares Bild von
diesen Personen zu machen, die 1 l h Jahrzehnt lang für
alle Behörden und friedliebenden Bürger ein Schrecken
waren, die Gerichte vom Amtsgericht bis Reichsgericht, die
Verwaltungsbehörden vom Bürgermeister biszurn Ministerium
fortgesetzt beschäftigten, Eingaben an die gesetzgebenden
Körperschaften, an den Landesfürsten und den Kaiser
richteten, trotz aller Fehlschläge immer wieder von Neuem
ihr vermeintliches Recht zu erkämpfen suchten, und sich
dadurch finanziell nahezu ruinierten — schätzt doch der
eipe Thomas seinen Schaden auf 20 000 M.: eine Angabe,
die allerdings stark übertrieben sein dürfte.
Der Fall Thomas bietet ein geradezu klassisches Beispiel
für das induzierte Irresein: die Geisteskrankheit, hier der Que-
rulantenwahn, einer Person, überträgt sich unter dem Einfluß
einer besonderen Anlage, eigenartiger Milieuverhältnisse, der
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116
Schneider.
sozialen Stellung und besonderer Umstände, wie hier der Pro-
zeßangelegenheit, auf dritte, nahestehende Individuen. Die
■Gutachten aller psychiatrischen Sachverständigen, die in der
unglückseligen Affaire tätig waren, beschäftigen sich ein-
gehend mit der Frage des induzierten Irreseins und kommen
einmütig zu dem Schluß, daß diese Erkrankungsform die
Ursache des „Falles Thomas“ ist. Leider können die hoch-
interessanten Darlegungen ihres erheblichen Umfangs wegen
nur auszugsweise und auch nur zum Teil im Kähmen der
Arbeit verwertet werden.
Den Ausgangspunkt der schier endlosen Kette von
Straftaten, der schwersten zum Teil, die unser Strafgesetz-
buch kennt, bildet ein Zivilprozeß: Wert des Streitgegen-
standes 51 Mark 10 Pfennig. Müller Thomas besaß in der
Gemarkung Nieder-Saulheim einen an einem Berghang be-
findlichen Weinberg, der einen Gemeindeweg entlang zog. An
diesen Weinberg stieß ebenfalls längs des Wegs ein anderer
des Landwirts Brückner. Das Grundstück des Thomas lag
höher, das des Brückner tiefer als der Weg. Grade der Punkt,
in dem beide Grundstücke zusammenstießen, war der tiefste
des Wegs. Um das Brückner’sche und die anderen weiter
unten am Berg liegenden Felder vor dem Regenwasser zu
schützen, das in der Furche zwischen dem Briickner’schen
und Thomas’schen Feld seinen natürlichen Abfluß gehabt
hätte, befand sich längs des ersteren ein Gemeindedamm,
der noch zum Teil in den Thomas’schen Weinberg hinein-
ragte, zum Teil auch auf dem Weg lag. Das Regen wasser
pflegte sich an dem tiefsten Punkte des Wegs zu sammeln
und, da es durch den Damm am Abfließen verhindert
wurde, zu versickern. Dies konnte ohne Schaden geschehen,
da der Weg sehr wenig benutzt wurde. Die erwähnte
Ackerfurche lief direkt in ein weiter unten am Berge liegendes
Feld eines gewissen Franz Thörle.
Im Jahre 1889 war ein Sohn des erwähnten
Brückner Zeuge in einer Strafsache gegen Thomas. Da
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Müller Thomas und seine Familie.
117
er ungünstig für Thomas aussagte, trat zwischen beiden
Familien eine Entfremdung ein, die auch darin ihren Aus-
druck fand, daß Brückner sein Mehl nicht mehr bei Thomas
mahlen ließ. Dies verdroß den alten Thomas. Aus Hache
durchstach er den Damm gerade an der Furche, so daß das
Regenwasser über das Brlickner’sche Gebiet abfloß und, was
Thomas zunächst wohl nicht beabsichtigt hatte, sich in den
Thörle’schen Weinberg ergoß. Thörle stellte den Thomas
zur Rede; mehrfache Aufforderungen, den Durchstich zu
beseitigen, ließ letzterer unbeachtet. Er wurde darauf von
dem Flurschützen Raab angezeigt, erhielt im Feldrüge-
verfahren einen Strafbefehl, gegen den er keinen Einspruch
erhob, „was er, wenn er unschuldig gewesen wäre, seiner
ganzen Natur nach nicht unterlassen hätte“ 1 . (Urteil I. Inst.)
Der geschädigte Thörle hackte den Durchstich öfters wieder
zu, Thomas öffnete ihn stets von neuem. Am 26. und
28. Juni 1891 gingen nun schwere Regengüsse über die
Gemarkung Nieder-Saulheim nieder, durch den erwähnten
Durchstich strömten starke Wassermassen und richteten
in dem Thörle’schen Weinberg erheblichen Schaden an,
schwemmten Grund und Dung hinweg, legten Rebenwurzeln
bloß und rissen tiefe Gräben.
Nun erhob Thörle gegen Thomas Klage auf Schaden-
ersatz, die er später noch auf Wiederherstellung des früheren
Zustandes au dem Dammdurchstich erweiterte. Am 25. Sep-
tember 1891 fand der erste Termin statt. Thomas erschien
selbst, er bestritt den Durchstich gemacht zu haben. Nach
Einnahme des Augenscheins und Vernehmung verschiedener
Zeugen erging Urteil am 28. Oktober 1891: Thomas wurde
verurteilt, den früheren Zustand an dem Dammdurchstich
wiederherzustellen, 51 M. 10 Pf. Schadensersatz zu bezahlen
und die Kosten zu tragen.
Das Urteil führte aus, selbst wenn nicht nachgewiesen
sei, daß Thomas den Damm durchstochen habe, müsse er
die Schließung des Durchstichs dulden, da Thörle das Recht
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118
Schneider.
auf Gestattung dieser ihm vorteilhaften und den Beklagten
nicht schädigenden Anlage ersessen habe; da aber die
Täterschaft des Thomas bewiesen sei, so habe er auch
Schadensersatz zu leisten.
Gegen dieses Urteil legte Thomas Berufung ein. Viel-
leicht hätte sich der Prozeß nur zu einem gewöhnlichen
Bauernprozeß ausgewachsen, der mit dem erforderlichen
Aufgebot von Zeugen, unter Durchlaufung aller Instanzen,
mit zäher Hartnäckigkeit, mit Meineidsanzeigen gegen nicht
genehm aussagende Zeugen oder die das Gegenteil be-
schwörende Gegenpartei geführt worden wäre, vielleicht
wäre es gelungen, nach einem tüchtigen finanziellen Ader-
laß die ja sicher damals schon geistig nicht ganz intakte
Familie Thomas im Zaume zu halten und größere Exzesse
zu vermeiden, wenn nicht durch die Rückkehr einer Tochter
aus Amerika, die damals schon geisteskrank war, Wahn-
ideen in die Familie eingepflanzt worden wären. Diese
Tochter Anna war Ende der achtziger Jahre nach Amerika
ausgewandert und hatte sich dort mit einem Verwandten,
einem gewissen Philipp Huber, verheiratet. Die kinderlose
Ehe war zunächst eine glückliche, Ende 1892 erkrankte
Frau Huber, sie mußte sich einer Operation unterziehen
und begab sich anfangs 1893 nach Deutschland zu ihrer
Erholung. Bei ihrer Rückkehr in das Elternhaus äußerte
sie bereits Wahnideen: ihr Mann stelle ihr nach, habe sie
vergiften wollen, er wolle sie los sein. Nun erschien plötzlich
unangemeldet am 26. August 1893 ihr Ehemann in der
elterlichen Mühle. Er machte ihr heftige Vorwürfe, daß
sie ihm nicht ein einziges Mal nach Amerika geschrieben
und daß sie ihn sr. Zt. bei Eingehung der Ehe über ihr
Vorleben getäuscht habe. Es kam zu einem heftigen
Disput, schließlich riß der Ehemann einen Revolver her-
aus, die Angehörigen, Vater, Bruder Philipp und Schwester
Elise sprangen herbei. Noch bevor diese zugegriffen,
krachte ein Schuß, den Huber auf seine Ehefrau abgegeben,
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Müller Thomas und seine Familie.
119
der aber sein Ziel nicht erreichte, sondern in die Wand
ging. Die Angehörigen entrissen Huber den Revolver und
warfen den Täter zur Mühle hinaus. Huber hielt sich nur
noch kurz in Deutschland auf und kehrte dann wieder nach
Amerika zurück.
Dieses Vorkommnis mußte natürlich die Anna Huber
in ihren Wahnideen über die Mordgedanken ihres Ehe-
mannes und bei ihren Angehörigen den Glauben an die
Wahrheit der Angaben ihrer Tochter und Schwester be-
stärken. —
Auf der idyllisch bei dem Orte Nieder-Saulheim in
Rheinhessen gelegenen Mühle lebte damals außer den
Eltern Franz Thomas, damals 70 Jahre alt, und dessen
4 Jahre jüngeren Frau Barbara geb. Huber, sein Sohn
Philipp, 36 Jahre alt, ledig, die Anna Huber, geb.
Thomas, 34 Jahre alt, und eine ledige Schwester Elise,
38 Jahre alt. Ein verheirateter Sohn, Melchior, wohnte im
Ort Nieder-Saulheim und eine weitere Tochter, das älteste
Kind, war schon lange an einen Beamten verheiratet.
Thomas, der in die Mühle hineingeheiratet hatte, hatte
sich schon eigentlich etwas vom Geschäft zurückgezogen
und seinem Sohn Philipp die Geschäfte übertragen, die in
einer nicht unbedeutenden Landwirtschaft und einer ein-
träglichen Müllerei bestanden. Die Familie Thomas galt
als kerngesund, neigte aber zu Widerspenstigkeiten, besonders
der Sohn Philipp galt als brutaler, gewalttätiger Mensch.
Geisteskrankheiten waren in der Familie niemals vor-
gekommen, nur soll die Mutter manchmal infolge der Miß-
handlungen durch ihren Mann und Söhne geistig verwirrt
gewesen sein. Erbliche Belastung war nur auf der
mütterlichen Seite nachweisbar: Der Vater der Frau
Thomas soll dem Trunk ergeben gewesen sein. Die
Familie Thomas lebte sehr zurückgezogen auf der Mühle,
sie unterhielt keinen Verkehr mit den Ortseinwohnern von
Nieder-Saulheim. Die Söhne waren zwar Soldaten gewesen,
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120
Schneider.
waren aber nie in die Welt hinausgekommen, sondern
hatten sich sofort nach der Dienstzeit wieder in die elterliche
Mühle zurückbegeben. Sie gingen fast nicht ins Wirtshaus,
besuchten aber die Kirche ziemlich regelmäßig. Die Söhne
haben alle erst in späten Jahren geheiratet, ihre Heirats-
pläne waren manchmal der Anlaß zu Zwistigkeiten in der
Familie. Auch die letzte Tochter Elise hat sich erst spät
verehelicht. Nach dem allgemeinen Urteil boten die Thomas
das Bild von eigensinnigen, rechthaberischen, zu Brutalitäten
neigenden Bauern, die nur sich und ihren Geldbeutel
kan uten, denen tiefere Gefühle abgingen und denen es
nicht darauf ankam, um sich und ihr „Recht“ durch-
zusetzen, auch einmal „Gewalt vor Recht“ gehen zu
lassen.
Aus diesem Milieu entstanden, kehrt nun die Anna
Huber wieder in denselben Kreis zurück. Ihre Wahn-
ideen passen sich der neuen Umgebung an, und sie
beeinflußt ihre Angehörigen, besonders ihren tatkräftigen
Bruder Philipp, der es natürlich nicht verschmerzen kann,
daß der Prozeß für die Familie in erster Instanz verloren
gegangen ist. Sie beschäftigt sich, Zeit dazu hat sie ja,
mit großem Eifer mit dem Prozeß des Vaters, der nun im
wesentlichen von ihr und ihrem Bruder Philipp geführt
wird — der Prozeßbevollmächtige der Partei Thomas hat
z. B. nie den Franz Thomas, sondern nur den Philipp
Thomas kennen gelernt — sie sucht, überzeugt von ihrem
und ihres Vaters „Rechte“, nach Zeugen, die in dem
Prozeß für sie günstig aussagen könnten und scheut auch
nicht davor zurück, Zeugen zur falschen Aussage verleiten
zu wollen. In dem sich in der Berufungsinstanz 4 Jahre
hinschleppenden Prozeß werden Zeugen auf Zeugen benannt
und vernommen, es gelingt aber nicht, das vermeintliche
Recht zu beweisen, auch in zweiter Instanz wird der
Prozeß im wesentlichen verloren, nur der Schadenersatz-
anspruch wird als verjährt abgewiesen, den größten Teil
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Müller Thomas und seine Familie.
121
der Kosten hat Thomas zu tragen. Das Urteil in dem
Prozeß, in dem Thomas dreimal seinen Vertreter gewechselt
hatte, da ihm die Rechtsanwälte die Sache nicht „ordentlich“
betrieben, erging am 19. Dezember 1895.
Schon anfangs 1893 hatte Thomas senior eine Mein-
eidsanzeige gegen die Zeugen Brückner, seinen Nebenlieger,
und den Flurschützen Raab, die für ihn am ungünstig-
sten ausgesagt hatten, bei der Staatsanwaltschaft erstattet.
Das Verfahren war eingestellt worden. Thomas hatte darauf-
hin ein „Rechtshülfegesueh“ an das Ministerium der Justiz
gerichtet, das ebenfalls abschlägig beschieden worden war.
Es ist charakteristisch für den Fall Thomas und
wurde oben schon hervorgehoben, daß die Beteiligten stets
den ganzen Instanzenzug, ob zulässig oder nicht, erschöpften,
sich in jedem Falle zum mindesten an das Ministerium
wandten, daß sie trotz aller ablehnenden Bescheide nicht
nachließen, sondern in derselben Sache ihre Beschwerden
mit krankhafter Hartnäckigkeit, meist sogar mit denselben
Worten wiederholten, so daß den beteiligten Behörden eine
große Last durch die fortwährenden Berichte erwuchs, die
zusammengenommen nach hunderten zählen dürften. Die
Schreibwnt und Schreiblust der Mitglieder der Familie
Thomas geht ins Ungemessene: gedruckt würden ihre
Eingaben etc. einen stattlichen Band ausraachen. An den
geeigneten Stellen wird der Wortlaut mitgeteilt werden.
Die Meineidsanzeige von 1893 wurde wiederholt kurz
nach Beendigung des Prozesses, anfangs 1896, und zwar
mittels einer Anzeige an das Justizministerium. Die Anzeige
wurde als jeder Begründung entbehrend zurückgewiesen.
Nun ließ Thomas am 8. November 1896 eine neue
Anzeige durch einen Rechtskonsulenten in Nieder-Saul-
heim machen, des gleichen Inhalts wie die früheren,
als Angezeigter erscheint aber noch sein Prozeßgegner
Thörle (der gar keinen Eid geleistet hatte !) Diese Anzeige
hatte das gleiche Schicksal wie die früheren.
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122
Schneider.
Gegen den ablehnenden Bescheid verfolgte Thomas
Beschwerde an den Generalstaatsanwalt, gegen dessen
zurückweisende Verfügung Beschwerde an den Landes-
fürsten, die ebensowenig Erfolg hatte. Da sie nach ihrer
Ansicht bei den Behörden kein Recht bekamen, so verschaffte
sich Philipp Thomas aber selbst sein „Recht“. Sowohl
im Jahre 1894 als auch 1896 nach den ablehnenden
Bescheiden der Staatsanwaltschaft etc. ließ sich Philipp
Thomas hinreißen, den Feldschützen Raab und den Bürger-
meister Brückner, auf die er einen besonderen Haß geworfen
hatte, bei Dritten, auch in einer Wahlversammlung —
1894 fand Bürgermeisterwahl in Nieder-Saulheim statt —
wiederholt auf das schwerste zu beschimpfen, indem er
sie öffentlich des Meineids, der Urkundenfälschung etc.
bezichtigte, was ihm laut Urteil des Schöffengerichts Nieder-
Olm insgesamt eine Geldstrafe von 185 Mark eintrug. Die
erste Sache aus 1894 war bis zur Erledigung des Zivil-
prozesses ausgesetzt gewesen. Ein Gnadengesuch wurde
abgeschlagen. Strafe und Kosten wurden bezahlt.
Nun sollten die Kosten des Zivilprozesses beglichen
werden. Dagegen sträubten sich die Angehörigen der
Familie Thomas ganz entschieden, da ihnen Unrecht
geschehen sei, und nun beginnen die ersten offensichtlichen
Anzeichen des unheilvollen Einflusses der Anna Huber,
dem der Philipp Thomas in stärkerem Maße, der Franz
Thomas zunächst weniger unterlegen war. Am 3. November
1896 batte der Gerichtsvollzieher im Auftrag Thörles für
dessen Kostenrechnung bei Thomas eine Kuh gepfändet.
Als der Beamte am 24. November das Tier z.ur Versteigerung
abholen wollte, traten ihm Franz Thomas und Anna Huber
entgegen, griffen ihn an und hinderten ihn am Fortbringen
des Pfandobjekts. Anna Huber beschimpfte ihn und seine
Begleiter als Lumpen und Meineidige u. a. m.
Bei ihrer richterlichen Vernehmung verweigerten beide
Beschuldigte jede Auskunft, unterschrieben aber wenigstens
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Müller Thomas und seine Familie.
123
ihre Erklärung. In erster Instanz am Schöffengericht
Nieder-Olm wurden beide zu Freiheitsstrafen verurteilt;
Anna Huber erhielt „wegen ihres fortwährend frechen
unverschämten Benehmens“ eine Ordnungsstrafe von drei
Tagen Haft, die sofort verbüßt wurde; beide Angeklagte
legten Berufung ein, in der Berufungsinstanz wurde auf erheb-
liche Geldstrafen erkannt — zusammen 110 Mark — die
die Verurteilten ohne Widerrede bezahlten.
Das Urteil war am 29. April 1897 ergangen.
Unterdessen war aber auch Philipp Thomas mit dem
Strafgesetz in Konflikt geraten.
Des Thomas Prozeßbevollmächtigter hatte ihm im März
1896 eine Kostenrechnung zugehen lassen. Die Antwort
war folgender Brief:
Nieder-Saulheim den 1. 4. 96.
Herrn Dr.
Danke bestens für die von Ihnen erhaltene Rechnung.
Die Proceßangelegenheit ist an Großhl. Ministerium und
direkt bei seiner Kl. Hoheit Ernst Ludwig V. Angezeicht.
Wegen falscher Gerichtsverhandlung und Meineid Re-
speckdif Uhrkundfälschung Diese Sachen werden nicht
bezahlt sondern bestraft.
Franz Thomas
Philipp Thomas.
Im Oktober 1896 erhielt der Rechtanwalt die Gerichts-
kostenrechnungen, die er seiner Partei zugehen ließ. Hierauf
erhielt er folgendes Schreiben:
Nieder-Saulheim, den 25. 10. 96.
Herr Dr.
Wie können Sie sich erlauben noch einmal solche
Rechnungen anzunemen und uns zuzuschicken als
Zentrumsmann. Indem Sie wie ich zum erstenmale bei
Ihnen gewesen bin haben Sie zu mir gesacht Sie gäben
sich nicht dafür her den Leuten das Geld aus der Tasche
Der Pitaval der Gegeuwart. IV. 9
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124
Schneider.
zu stehlen und däten nur das Rechte vertreten. In dem
ich es Ihnen ja schon früher geschrieben habe und nun
wollen Sie es auch noch einmal Deutsch gesagt haben
Uhrkundenfälschung bezahlen wir nicht. Sie wollen in
den Reichstag gewählt sein, das können sie in den
Versammlungen zum Vortrag bringen
Achtungsvoll
Ph. Thomas.
Dieser Zuschrift folgte, ohne daß der Beleidigte irgend
etwas unternommen hätte, folgender Brief:
„Nieder-Saulheim 30. 10. 96.
Herr Dr.
Teile Ihnen hier kurz mit die von mir am 25ten
d. M. gemachte Mitteilung gebe ich von Morgen den
31ten d. M. noch acht Tage Zeit zur Abfindung wo
nicht erfolgt Weiteres.
Achtungsvoll
Ph. Thomas.“
Nunmehr legte der Rechtsanwalt diese Zuschriften der
Staatsanwaltschaft Mainz vor zur Entscheidung, ob nicht
wegen Beleidigung und Erpressungsversuchs gegen den
Verfasser der Schmähbriefe vorzugehen sei. Das Verfahren
wurde eingeleitet. Bei der richterlichen Vernehmung bestritt
Franz Thomas die Urheberschaft, Philipp Thomas ver-
weigerte jede Auskunft, da die Sache bei der Oberstaats-
anwaltschaft in Darmstadt anhängig sei und bei einer
zweiten Vernehmung ebenfalls, da die Sache noch am
Ministerium anhängig sei, und er noch keine Antwort
habe.
Die Ermittlungen ergaben, daß unzweifelhaft Philipp
Thomas der Urheber der drei Briefe war. Es wurde
daraufhin Anklage wegen Erpressungsversuchs gegen ihn
erhoben und dieserhalb auch das Hauptverfahren eröffnet.
Termin sollte am 7. April anstehen. Am 27. März 1897
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Müller Thomas und seine Familie.
125
lief folgendes Schreiben (eingeschriebener Brief) bei der
Staatsanwaltschaft Mainz ein:
An Großh. Staatsanwaltschaft Mainz.
Ich mache die Großherzogliche Staatsanwaltschaft
aufmerksam von der Anzeige vom 15. März 1897 von
meiner Schwester Anna Huber geb. Thomas von Nieder-
Saulheim nach § 158 St.P.O.
Mir wurde die Mitteilung gemacht des Beschlusses
der Strafkammer des Großhl. Landgerichts Mainz vom
15. Februar 1897.
Da ich mich keine, und auch keinem anderen
keinen rechtswiedrigen, Vermögensvorteil zu verschaffen
vermochte. Die keinen Anfang und auch keine Aus-
führung des Vergehens der Erpressung nicht enthalten.
Ich mache an Großhl. Staatsanwaltschaft Anzeige,
daß B’ranz Thörle 1 und dessen Sohn Wendel Thörle III
aus Nieder-Saulheim in dieser Proceßangelegenheit einen
rechtswiedrigen Vermögensvorteil geschaffen hat, die
den Anfang und auch die Ausführung der Erpressung
endhalten und gemacht hat §. 253 St.G.B.
Herr Dr. S. hat sich in der Prozeßangelegenheit
von Thörle - Thomas im § 356 St. G. B. schuldig
gemacht.
Die an mich gerichtete Verhandlung den 7. April
gehe ich auf keine Umstände nicht ein § 344, § 345
St.G.B.
Indem ich mich garnicht genötigt fühle, mich in
meinem Geschäfte stören zu lassen, ich lehne diese
Verhandlung ab.
Nach Gesetz
Nieder-Saulheim, 25. März 1897
Ph. Thomas.“
Verfaßt und geschrieben war diese Eingabe von der
Anna Huber.
9 *
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126
Schneider.
Trotz Verwarnung und Hinweis auf die Folgen seines
Ausbleibens kam Thomas am 7. April nicht, sondern
„flüchtete in die Öffentlichkeit“. Wie dies geschah, darauf
wird später noch eingegangen werden.
Auch an die Staatsanwaltschaft Mainz richtete er
noch Eingaben, von denen folgende vom 22. April —
die ebenfalls die Huber geschrieben hat — noch inter-
essant ist :
„An Großhl. Staatsanwaltschaft Mainz.
Durch den Beschluß von Großhl. Staatsanwaltschaft
vom 19. März t Ladung zur Hauptverhandlung) habe
ich bereits der Großhl. Staatsanwaltschaft, durch zwei
Anzeige am 25. März und 3te April (vergl. unten) nebst
den betreffenden Paragrafen in Kenntniß. Deß ungeachtet
erlaubt sich, Großh. Staatsanwaltschaft einen zweiten
Beschluß, vom 14. April an mich ergehen zu lassen.
(Ladung zum zweiten Termin vom 3. Mai.)
Den ich nach Deutsches Reich Gesetz unter keinen
Umständen eingehe.
Indem ich kein Versuch gemacht habe Erpressung
auszuüben. In dem betreffenden Briefe ist ausdrücklich
bemerkt, durch die von mir gemachte Mitteilung 25. d. M.
die Mitteilung ist folgende, daß wir keine Urkunden-
fälschung begehen.
Der zweite Beschluß vom 14. April gehe ich so
wenig nach Deutschem Reichsgesetz ein als wie der
erste.
Indem ich der Großh. Staatsanwaltschaft vom 25. März
1897 Anzeige gemacht habe, daß nicht ich, sondern Franz
Thörle I und dessen Sohn Wendel Thörle III Erpressung
ausgeübt haben.
Noch zu bemerken 1. daß ich eher nichts eingehe
als bis die mehrfach gemachten Anzeige nach §. 164
St.G.B. wegen falscher Anschuldigung erledigt ist.
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Müller Thomas und seine Familie.
127
2. Wegen Mißbrauch der Amtsgewalt nach § 339
St.G.B.
3. nach § 344, § 345 St.G.B. wegen Unschuldiger Ver-
urteilung.
4. nach § 346 St.G.B. wegen Vergehen im Amte
5. nach § 257 St.G.B. wegen Begünstigung,
Der Großh. Staatsanwaltschaft
Indem die Großh. Staatsanwaltschaft doch Juristen
sind und noch nicht einmal verstehen wollen was in der
Klageschrift, und Urteilen enthalten sind.
Nieder-Saulheim 22. April 1897
Pb. Thomas.“
Natürlich war im Termin vom 7. April 1897 Vor-
führungsbefehl ergangen, der zum Termin vom 3. Mai 1897
vollstreckt wurde. Thomas wurde in der Hauptverhandlung
vom 3. Mai 1897 zu 3 Wochen Gefängnis wegen Erpressungs-
versuchs verurteilt; ein Antrag auf Erlaß eines Haftbefehls
wurde abgelehnt.
Wie nicht anders zu erwarten, stellte sich Thomas
nicht auf Ladung zur Strafverbüßung, er brachte die
Ladung der Frau des Polizeidieners zurück mit dem
Bemerken, die sei schon vor 3 Tagen ausgestellt, die
nehme er nicht an.
Er wurde daraufhin am 25. Mai verhaftet, ins Haft-
lokal Nieder-Olm gebracht und verbüßte dort bis 15. Juni
1897 seine Strafe.
Inzwischen war, wie erwähnt, die Öffentlichkeit auf eine
mehr als merkwürdige Weise mit der Affäre Thomas befaßt
worden.
Am 4. April 1897 wurden an verschiedenen Stellen
in Mainz an Plakatsäulen, in Nieder-Saulheim, Nieder-Olm,
Kastei, Koßheim, Stadecken und einer Reihe anderer bei
Mainz bezw. Nieder-Saulheim belegener Orte morgens
Pasquille folgenden Inhalts angeheftet gefunden, die zum
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128
Schneider.
großen Teil entfernt und der Staatsanwaltschaft Mainz zur
«'eiteren Veranlassung vorgelegt wurden:
„Zur Aufklärung dem Publikum nach § 346 St.G.B.
enthalten.
An Großh. Staatsanwaltschaft in
Mainz !
Durch die von Großh. Staatsanwaltschaft am
9. November 1896 erhielt mein Vater die Rückandwort,
daß neue Tatsachen und Beweismittel nicht angegeben
worden seien.
Im Jahre 1891 gingen Wolkenbruch artige Regen,
in der Gemarkung Nieder-Saulheim nieder, worauf sich
ein gewisser Wendel Thörle III Landwirth veranlaßt
fühlte eine falsche Klageschrift an Großh. Amtsgericht
Nieder- Olm zu erheben.
Nieder-Olm 9. Juli 1891.
Durch die Wolkenbruchartige Regen sei seines
Vaters Weinberg beschädigt worden, wofür Thörle
60 Mark Entschädigung verlangte. Weiter berif er
sich darauf, mein Vater Franz Thomas sei vor drei
Jahren wegen Gemeinde Damm bestraft worden,
und der Damm habe den Zweck, das vom Berge
kommende Regenwasser aufzuhalten und ins Thal zu
leiden.
gez. Wendel Thörle III
Proceß Bevollmächtigter
Der bestimmte Termin wurde Freitag den 25. Sep-
tember 1891. zur mündlichen Verhandlung bestimmt.
Auf dies hin trug mein Vater dem Amtsrichter vor,
daß die Angabe von Thörle falsch sei, sich die Sache
in Augenschein nehme, worauf der Amtsrichter einging.
Am Tage der Ortsbesichtigung sachte der Amtsrichter
wo eigendlich das Wasser hinlaufen soll, da er
sehe, daß der Weinberg des Klägers eine Vertiefung
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Müller Thomas und seine Familie.
129
bilde. Darauf erwiederte der anwesende Kläger
wenn da keine Abhülfe geschaffen würde, müsse
er sich einen Graben durch seinen Weinberg machen.
Daraufhin nahm der Amtsrichter des anwesenden Feld-
schützens Strik und sachte anzunehmen. 60—65 cm.
auf Thomas’sche Eigentum, weiter fragte er um Zeugen
Angabe, und bemerkte, daß bis Sonntag noch Zeugen
nachgeladen werden könnten.
Wo wir auch zugestellt bekamen Joh. Raab Feld-
schützen und Wilhelm Brückner als weitere Zeugen.
Am 21. Oktober wurde die Sache abermals ver-
handelt und die beiden genannten Zeugen standen auf
und sagten aus, der der Damm habe den Zweck das vom
Berge kommende Regenwasser abzuhalten und im Ge-
meinde-Wege almählig zu versikem.
Wie kommen diese beiden genannten Zeugen dazu,
solche Aussage zu machen, da der Kläger doch behauptet,
in der Klageschrift, dort sei ein Gemeinde-Damm, der
den Zweck habe das Regenwasser ins Thal zu leiden.
In dem sie den Kläger doch vollständig widersprechen.
Da kein Gemeinde Damm sich dorten befindet, nahm
der Amtsrichter an, als hätte mein Vater ein Protogoll
im Jahre 1889 wegen seinem Eigentum erhalten. Da
der Kläger doch behauptet in der Klageschrift im Jahre
1888 ein Protogoll wegen Gemeinde Damm erhalten zu
haben. Indem der Kläger Vater Franz Thörle I den
Zeugen Wilhelm Brückner Anstößer von Thomassche
Weinberg veranlaßte ein Protogoll zu machen. Er Franz
Thörle wolle gesehen haben wie mein Vater Franz
Thomas den Wilhelm Brückner 15 cm. dessen Damm
weggehauen hätte was vollständig aus der Luft gegriffen
war, da der Brücknersche Damm heute noch unmittelbar
bis an die Grenze des Thomasschen Weinberg sich
befindet Und mein Vater im Jahre 1889 ungerechter
Weise ein falsch Protogoll bezahlte. Indem Landrath
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130
Schneider.
Pf. bei der Ortsbesichtigung und Augenschein Nähme,
ausdrücklich erklärte, es würde Bezug genommen
auf das Protogoll, Großh. Amtsgericht Nieder-Olm und
der Brücknersche Damm geht noch unmittelbar bis an
die Grenze des Tbomassche Weinberg und das Wasser
sein nathürlichen Lauf dorthin habe. Wie konnte auf
dies Augenscheinsprotogoll noch weitere Verhandlung
noch stattfinden und Zeugenverhör vorgenomraen werden,
da doch aus dem ganzen Inhalt zu ziehen ist.
t. daß Wendel Thörle falsche Angabe gemacht hat
2. daß Amtsrichter X. Urkundenfälschung gemacht hat
3. daß Feldschütz Raab Wilhelm Brückner u eonsort
sogar der Großh. Bürgermeister Brückner von
Nieder-Saulheim haben diese falsche Angabe und
Urkundenfälschung beschworen haben diese Herren
Ausnahme Gesetze, daß denen nichts geschehen
darf §
Sind diese befreit davon §. Werden diese in Schutz
genommen §
Nieder Saulheim 15. März 1897.
für richtige Abschrift Anna Huber
Ph. Thomas geb. Thomas“
Ein komisches Gemisch von Auszügen aus amtlichen
Schriftstücken, mißverstandenen Aussagen und eigenen
widersinnigen Ansichten !
Wie festgestellt wurde, hatte Philipp Thomas die
Schmähschrift auch in einer Versammlung eines Konsum-
vereins vorgelesen und Unterschriften zu sammeln gesucht,
er hatte aber keine erhalten.
Plakate ähnlichen Inhalts wurden in den folgenden
Tagen, insbesondere am 11., 19. und 29. April, eine ganze
Reihe angeschlagen, darunter eines mit nachstehendem
Wortlaut:
„Oh Ihr traurige Nieder Saulheimer die Ihr Euch
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Müller Thomas und seine Familie.
131
von einem Meineidigen Bürgermeister und Meineidigen
Feldschützen müsset rechiren lassen.
Anna Huber
Ph. Thomas
Der Vorladung zur verantwortlichen Vernehmung in
dem wegen Beleidigung eingeleiteten Verfahren vor das
zuständige Amtsgericht Nieder-Olm leisteten beide, Philipp
und Anna Thomas, wie vorauszusehen, keine Folge, sondern
„lehnten sie ab, da sie nach § 177 St.P.O. nicht die ge-
setzlichen Vorschriften bezeichne“.
Die Antwort auf die Vorführung des Philipp Thomas
zum Termin vom 3. Mai 1897 vor die Strafkammer Mainz
waren neue Pamphlete vom 6. und 13. Mai. In dem
letzteren hieß es:
„Zur Mitteilung dem Publikum!
Unschuldig verurteilt.
Ihr Bürger Niedersaulheimer man soll es nicht
glauben, noch länger mitansehen zu können, einem
Unschuldigen Menschen seine Ehre so zu ruiniren, solche
Schurkenstreige, auszuüben da ganz Gesetzwiedrig Aus-
übungen, wird mit Zuchthaus bestraft.
Darum auf Ihr Bürger, nur nicht mehr länger
mitansehen, da eine solche Ortsobrigkeit, die des Mein-
eids beschuldigt ist, desgleichen von einem solchen
Feldschützen kann und darf ihres Amtes nicht länger
walten.
Nieder Saulheim 13. Mai 1897
Ph. Thomas.“
Am 15. Mai 1897 wurden die beiden Beschuldigten
dem Amtsgericht zur Vernehmung vorgeführt, da wegen
ihres Nichterscheinens im ersten Termin Vorführungsbefehl
ergangen war; Ph. Thomas gab zu, daß die Unterschrift
„Ph. Thomas“ auf den Plakaten von ihm herrühre und
behauptete, was darin stehe, sei richtig.
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132
Schneider.
Die Huber erklärte auf Vorzeigen der Plakate: Es ist
geschrieben und unterschrieben, alles was darin steht ist
richtig und wahr.
Beide Beschuldigten verweigerten die Unterschrift.
Da die Beteiligten, die Beamten und deren Vorgesetzte
Dienstbehörden, Strafantrag wegen Beleidigung gestellt
hatten, wurde zunächst am 18. Mai 1897 gegen Philipp
Thomas und seine Schwester Anklage wegen Beleidigung
erhoben.
Alle Plakate waren von der Anna Huber geschrieben
und von ihr und ihrem Bruder, zum Teil auch von
letzterem allein, wie dies oben ersichtlich, unterschrieben.
Wer für die Verteilung in den verschiedenen Orten gesorgt,
war nicht zu ermitteln. Daß die Familie Thomas allein
die Plakate angeklebt hätte, ist bei der räumlichen
Entfernung der Orte der Verbreitung der Schmähschriften
ausgeschlossen.
Den Schluß der ersten drei Serien der Plakate bildete
folgende am 18. Mai in Nieder-Saulheim angeschlagene
Schmähschrift:
„Zur Benagrichtigung.
Ihr Nieder Saulheimer geht beschämt nach Hause,
der Nürnberger Trichter ist unterwegs, kommt mit
nächstem an, dann bekommt ihr es richtig Eingetrichtert,
daß ihr ein Meineidigen Bürgermeister und ein Mein-
eidigen Feldschützen habt, denn so was hat man in ganz
Deutschland nicht mehr.
Nieder Saulheim 18. Mai 1897.
Anna Huber
geb. Thomas
Ph. Thomas.“
In der Nacht vom 26./27. Mai wurden abermals, als
Antwort auf die Verhaftung des Ph. Thomas, zahlreiche
Plakate in Mainz, Koßheim und anderen Orten angeheftet,
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Müller Thomas und seine Familie.
133
die ebenfalls von der Anna Huber geschrieben und mit
ihrem und des Ph. Thomas Namen unterschrieben waren.
Bei dem Antrag auf verantwortliche Vernehmung der
Täter wegen der in den Schriftstücken enthaltenen Be-
leidigungen zahlreicher Beamter stellte die Großhl. Staats-
anwaltschaft zugleich das Ersuchen an das Amtsgericht
Nieder-Olm die Huber, die Schreiberin und Urheberin der
Schmähschriften wegen Kollusionsgefahr zu verhaften und
beide Beschuldigte durch den zuständigen Kreisarzt auf
ihren Geisteszustand untersuchen zu lassen. Das Amts-
gericht entsprach dem Ersuchen. Die Verhaftung der Huber
erfolgte unter großen Schwierigkeiten, die Gefangene legte
sich auf die Erde und war zum Fortgehen nicht zu be-
wegen. Sie mußte per Wagen in das Haftlokal verbracht
werden. Bei der Vernehmung verweigerte sie jede Aus-
kunft und die Unterschrift. Philipp Thomas, der gerade
seine Strafe wegen Erpressungsversuchs im Haftlokal Nieder-
Olm verbüßte, erklärte, von nichts zu wissen, auch er ver-
weigerte die Unterzeichnung des Protokolls.
Am 5. Juni wurde erneut Anklage wegen Beleidigung
erhoben. Die Strafkammer eröffnete zwar unterm 18. Juni
1897 auf die beiden Anklagen hin das Hauptverfahren,
hatte aber am 12. Juni die Freilassung der Huber verfügt.
Da auch inzwischen die Strafzeit des Phil. Thomas ab-
gelaufen war, konnte der Sachverständige kein abschließen-
des Urteil abgeben. Er teilte aber am 23. Juni mit, daß
beide Angeklagte wahrscheinlich geisteskrank seien, und
es sich bei ihnen um einen Fall von induziertem Irresein
handele, dessen Urheberin die Ehefrau Huber sei. Sein
Gutachten vom 1. Juli 1897 begründet diese Auffassung
eingehender. Er weist darauf hin, daß die von beiden
Beschuldigten geäußerten Wahnideen, gegen sie könne
überhaupt kein Verfahren anhängig gemacht werden, keine
Verhandlung stattfinden, sie brauchten keine Kosten zu
bezahlen etc., ehe nicht über ihre Meineidsanzeige vom
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134
Schneider.
15. März entschieden sei, wohl bei beiden gleich seien,
daß sie beide trotz aller Vorstellungen unbelehrbar seien,
daß bei der Ehefrau Huber, die mit Paragraphen nur
gerade so um sich werfe, aber alles mit größerem Affekt
und größerer Originalität geäußert werde. Er beantragte
zunächst Unterbringung der Ehefrau Huber, der Urheberin
der Schmähschriften, in eine Irrenanstalt gemäß § 81
St.P.O.
So lange die beiden Geschwister inhaftiert gewesen,
war alles still, kaum war die Frau Huber entlassen, als
wieder vier Plakate von ihr erschienen. Sie bekam aber
Reue, erschien bei dem Amtsrichter in Nieder-Olm, bat knie-
fällig um Verzeihung und gelobte Besserung. Doch hielt
diese nicht lange vor.
In der Nacht vom 26./27. Juni 1897 erschienen in
Mainz, Kastei, Koßheim, Nieder-Saulheim und Stadecken
wieder zahlreiche Pamphlete von der Hand der Geschwister
Thomas.
Das Großhl. Amtsgericht Nieder-Olm wurde erneut
um Vernehmung der beiden Beschuldigten wegen Beleidi-
gung ersucht. Natürlich erschienen beide Beschuldigte
nicht, so daß Vorführungsbefehl erging. Es gelang aber
nicht, der Beschuldigten habhaft zu werden, da sie sich,
wie ermittelt wurde, in Fruchtäckern in der Gemarkung
Nieder-Saulheim versteckten.
Am Morgen des 15. Juli glückte es, die zu Verhaftenden
zu stellen. Die drei Gendarmen der Sektion Wörstadt
und der Polizeidiener von Nieder-Saulheim erschienen in
der Mühle, um die Vorführungsbefehle in Vollzug zu setzen.
Der Vater Thomas trat ihnen entgegen und forderte sie
zum Verlassen der Hofraite auf. Seine Aufforderung unter-
stützte sein Sohn Philipp, der aus der Mühle heraussah.
Als der Wachtmeister erklärte, vom Großhl. Amtsgericht
Nieder-Olm mit Festnahme der zwei Beschuldigten beauf-
tragt zu sein und vor Erledigung seines Auftrags den
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Müller Thomas und seine Familie.
135
Platz nicht zu räumen, rief ihm Phil. Thomas zu: „Ich
werds Euch weisen.“ Unmittelbar darauf erschien er an
einem Fenster im Obergeschoß und gab einen scharfen
Schuß auf die Beamten ab, der den Wachtmeister streifte.
Während nun die Beamten nachsahen, ob ihr Vorgesetzter
verletzt sei, gab Thomas aus einem anderen Fenster
einen zweiten Schuß ab, der den Wachtmeister in die
Brust traf und den Polizeidiener an Arm und Bein
verletzte.
Der Beschuldigte hatte, wie später festgestellt wurde,
aus einer doppelläufigen Jagdflinte mit Schrotpatronen
geschossen. Die Beamten zogen sich mit ihrem lebens-
gefährlich verletzten Wachtmeister zurück, bewachten aber
die Mühle, um ein Entrinnen des Täters zu verhindern
und setzten die Staatsanwaltschaft telegraphisch in Kenntnis.
Alsbald erschien auch ein Staatsanwalt mit mehreren
Gendarmen, drang in die Mühle ein und verhaftete Philipp
Thomas und seine Schwester, die sofort dem Amtsgericht
Nieder-Olm zugeführt wurden.
Bei der Vernehmung über die Beschuldigung der
Beleidigung durch das letzte Pamphlet gaben beide Be-
schuldigte die Täterschaft zu, behaupteten aber, der Inhalt
der Plakate sei wahr; die Unterschrift des Protokolls
wurde verweigert.
Über die Mordtat gehört, erklärte Thomas vor dem
Amtsgericht, es sei richtig, daß er geschossen habe, er
habe nicht die Absicht gehabt, die Gendarmen zu erschießen,
er habe sie nur aus dem Hause haben wollen, es habe
Niemand etwas in seinem Gebiete zu tuen, er müsse
wissen, warum er vor Gericht geladen werde. Thomas
wurde noch am gleichen Tage ins Provinzialarresthaus
Mainz abgeführt, seine Schwester entlassen.
Verfolgen wir nun zunächst deren Schicksal weiter.
Dem Antrag der Sachverständigen entsprechend wurde
zunächst die Unterbringung und Beobachtung der Huber
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136
Schneider.
gemäß § 81 St.P.O. bei der Strafkammer beantragt, in-
zwischen am 24. Juli auch wegen der letzten am 26/27. Juni
verübten Beleidigung Anklage erhoben. Unterm 7. August
1897 wurde die Unterbringung der Huber in eine Irren-
anstalt durch Gerichtsbeschluß angeordnet. Die Ausführung
dieses Beschlusses machte aber wieder unendliche Schwierig-
keiten. Das Großhl. Amtsgericht Nieder-Olm versuchte
vergeblich, die Huber auf gütlichem Wege zur Reise in die
psychiatrische Klinik nach Gießen zu veranlassen. Briefe
ließ die Huber zurückgehen, die Vermittlung des Geistlichen
scheiterte, er wurde schroff abgewiesen. Die Bemühungen
des Bruders Melchior, eines, wie das Amtsgericht schreibt,
ruhigen und besonnenen Mannes, fruchteten nichts. Es
mußte deshalb zur Gewalt geschritten werden. Zwei in
Zivil erscheinende Gendarmen fanden das Haus verschlossen,
sie wurden bedroht und mußten sich unverrichteter Dinge
zurückziehen. Erst einem verstärkten Gendarmeriekommando
gelang es, die Huber teils in Güte, teils mit Gewalt fortzu-
bringen. Unterwegs machte sie an verschiedenen Eisenbahn-
stationen die erregtesten Szenen, sie legte sich auf den Boden,
rührte sich nicht von der Stelle und mußte von den Beamten
getragen bezw. gefahren werden. Natürlich beschäftigte
sich die Presse mit der Angelegenheit, auch 32 Einwohner
von Nieder-Saulheim versuchten, „Licht in die Sache zu
schaffen“, da die Huber „so klar bei Verstand sei, wie
jeder der Unterzeichneten“. Bereits einige Zeit vor Ablauf
der Beobachtungszeit teilte die Direktion der Klinik mit,
daß die Huber an einem vorgeschrittenem Stadium der
Paranoia leide, daß ihre Detention in einer Anstalt zunächst
aber nicht nötig erscheine, für Abholung sei zu sorgen.
Die Abholung erwies sich aber als unausführbar. Die
Huber selbst weigerte sich wegzugehen, sie riß, sowie man
sie anzukleiden versuchte, sich alle Kleider vom Leib.
Der Vater erklärte, wer sie hingebracht habe, solle sie
auch wieder holen, das gehe ihn nichts an. In der Tat
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Müller Thomas und seine Familie.
137
erübrigte sich auch ihre Wegführung, da nach Gutachten
der Sachverständigen die Huber als gemeingefährlich geistes-
krank angesehen werden mußte.
Aus dem Gutachten seien folgende Sätze hervor-
gehoben :
„Somit ist anzunehmen, daß Frau Huber schon im
Jahre 1893 bei der Rückkehr nach Deutschland im
Beginn der jetzt ausgeprägten Geistesstörung gestanden
hat und daß ihre Verfolgungsideen schon bei dem Ver-
halten gegen den Ehemann eine bestimmte Rolle gespielt
haben. Im Hause der Eltern beginnt alsbald nun die Um-
wandlung der Wahnideen unter Anpassung an die neue
Umgebung und zugleich wahrscheinlich die Beeinflussung
der Angehörigen durch den Verfolgungswahn der Anna
Huber.“
In der Klinik paßten sich ihre Wahnideen sofort
auch der neuen Umgebung an, wie die zahlreichen Be-
schwerden und Zuschriften (einmal 16 an einem Tag) be-
wiesen.
Die Frage der Unzurechnungsfähigkeit im Sinne des
§51 St.G.B. wurde daher von den Sachverständigen un-
bedingt bejaht.
Bei der Frage der Gemeingefährlichkeit wurde zwar
erwogen, daß die Entziehung der Frau aus dem häuslichen
Wirkungskreise einen Schaden für die Familie bedeute,
daß die Erkenntnis und das Bekanntwerden ihres Geistes-
zustandes für die angegriffenen Personen wohl das Gefühl
des Beleidigtsein aufheben, daß aber andererseits an-
zunehmen sei, daß die Huber, bei der sich in der letzten
Zeit mächtige Erregungszustände gezeigt hatten, in denen
sie Gewalttätigkeiten gegen Personen und Sachen beging,
in der Freiheit ihren Federkrieg fortsetzen und wohl auch
sich zu Gewalttätigkeiten im Falle eines Konflikts mit
Beamten hinreißen lassen würde. Vor allem aber sei zu
befürchten der verhängnisvolle Einfluß der Frau auf ihre
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138
Schneider.
Umgebung durch Induktion der Verfolgungsideen. Frau
Huber sei die wesentliche Triebkraft für die Handlungen
ihres Vaters und Bruders gewesen.
Dieses Gutachten veranlaßte die Behörde, die dauernde
Unterbringung der Huber anzuorden. Da ihres Zustandes
wegen eine andere Verbringung nicht möglich war,
wurde sie mit durch Pflegeschwestem in leichter Narkose
in die Irrenanstalt Hofheim im Dezember 1897 übergeführt.
Durch Beschluß Großhl. Amtsgerichts Nieder-Olm vom
14. Februar 1898 wurde die Huber entmündigt. Gegen
ihre Verbringung in die Anstalt führte der Vater Franz
Thomas „Beschwerde“ bei der Staatsanwaltschaft, Kreis-
amt und Ministerium „auf Grund der §.§. 234, 239 St.G.B.“,
die alle abschlägig beschieden wurden. In der Anstalt
bekam die Huber zunächst noch starke Erregungsanfälle,
verhielt sich dann aber ganz ruhig und gesittet (dissimulirte).
Auf dringenden Wunsch ihres Vaters und auf einen Bericht
der Bürgermeisterei Nieder-Saulheim hin wurde sie am
1. Juni 1898 aus der Anstalt nach Haus entlassen. Von
dort entwich sie am 29. Dezember 1898, in der Absicht
nach Amerika zu reisen, wurde aber in Frankfurt a. M.
als geistesgestört auf dem Bahnhof aufgegriffen und in
die Irrenanstalt verbracht. Ein von dem Ortsarmenverband
Frankfurt a. M. gegen den Ortsarmenverband Nieder-
Saulheim angestrengter Prozeß wegen Übernahme der
p. Huber wurde zu Ungunsten des ersteren entschieden.
Die Huber wurde nun in die Irrenanstalt Weilmünster
überführt. Sie ist jetzt gänzlich schwachsinnig und ver-
blödet, dabei sehr unruhig und erregt und wird meist im
Dauerbad gehalten. Das Schicksal ihrer Vormundschaft ist
unten noch zu erörtern.
Die Untersuchung der Huber hatte natürlich auch
wertvolles Material zur Beurteilung ihres wegen Mord-
versuchs in Untersuchungshaft befindlichen Bruders Thomas
ergeben. In der gegen ihn eröffneten Voruntersuchung
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Müller Thomas und seine Familie.
139
wurde er wiederholt eingehend vernommen. Das Alpha
und Omega seiner Angaben blieb: er habe nicht Unrecht
getan, er habe sich gegen einen rechtswidrigen Angriff
verteidigt, die Gendarmen hätten bei ihm nichts zu tun
gehabt, er habe ja den Gendarmen zwei Tage vor der
Tat den Postschein gezeigt, daß die Sache beim Ministerium
angezeigt sei, bevor nicht seine Prozeßangelegenheit bezw.
Anzeige vom 15. März entschieden sei, könne gegen ihn
nichts gemacht werden. Auf seiner Ladung habe nicht
gestanden, warum er geladen sei, er w r olle nur sein Recht.
Trotz der eingehenden Belehrungen blieb er dabei, er
er habe kein Unrecht getan, seine Anzeige müsse erst
erledigt werden. Unterschriften gab er aber prinzipiell
nicht ab.
Der Großhl. Kreisarzt in Mainz hielt in seinem Gut-
achten vom 20. Oktober 1897 den Beschuldigten für geistes-
gestört ; die Direktion der psychiatrischen Klinik in Gießen
hielt es nach Einsicht der Akten für wahrscheinlich, daß
Thomas unter § 51 St.G.B. falle, doch wurde eine Beob-
achtung in einer Irrenanstalt empfohlen. Diese wurde an-
geordnet und Thomas am 6. Dezember 1897 nach Gießen
übergeführt. Am 18. Februar 1898 erstattete der Sach-
verständige sein Gutachten in folgendem Sinne:
1. Thomas zeigte in der Klinik, abgesehen von einer
Anzahl abnormer Ideen über sein vermeintliches Recht,
über seinen Zustand von Notwehr bei Begehung der
Handlung und über Anfeindungen und Hintergehungen
von Seiten des Gerichts kein sonstiges Symptom von
Geisteskrankheit. Insbesondere ist es unwahrscheinlich,
daß er im Beginn einer fortschreitenden und allmählich
zu geistiger Schwäche führenden Geisteskrankheit steht,
welche bei der Schwester klar erwiesen ist (Paronoia).
2. Diese Ideen sind unter Ausschluß derjenigen
Krankheiten, welche sonst solche Zustände bedingen (an-
geborener Schwachsinn, epileptischer Blödsinn), als
Der Pitevel der Gegenwert IV. 10
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140
Schneider.
wesentlich auf Induktion von Seiten der geisteskranken
Schwester bei einer vorhandenen Familienanlage und
begünstigenden äußeren Umständen (Prozeßangelegenheit)
zurückzuführen.
3. Es ist wahrscheinlich, daß Thomas infolge
der langanhaltenden und intensiven Beeinflussung durch
die geisteskranke Schwester sich zur Zeit der Begehung
der Handlung in einem Zustand krankhafter Störung der
Geistestätigkeit befunden hat, durch welche seine freie
Willensbestimmung ausgeschlossen war.“
Der Fall war wichtig genug und hatte die Öffentlichkeit
in einem Maße beschäftigt, daß eine Entscheidung durch
das Schwurgericht geboten erschien, besonders auch, da
sich die Gutachter widersprachen. Anklage wurde am
28. Februar 1898 erhoben. Am 10. März fand die Haupt-
verhandlung statt.
In derselben näherte sich der Gießener Psychiater jetzt
mehr dem Gutachten der Mainzer Sachverständigen, die
Thomas für geisteskrank erklärten. Offenbar dieserhalb
und trotzdem fast alle vernommenen Zeugen aus Nieder-
Saulheim den Beschuldigten für geistig gesund erklärt
hatten, wurde Thomas vom Schwurgericht freigesprochen.
Der Staatsanwalt hatte die Entscheidung in das Ermessen
der Geschworenen gestellt. Ausschreitungen nach der Ver-
handlung, die zu befürchten gewesen, kamen weder in
Mainz noch in Nieder-Saulheim vor.
Die wegen Beleidigung eingeleiteten Strafverfahren
gegen Phil. Thomas und seine Schwester wurden nunmehr
durch Beschluß der Strafkammer eingestellt, da die Be-
schuldigten zum mindesten nach Verübung der Tat in
Geisteskrankheit verfallen waren.
Auf Anordnung der Vorgesetzten Behörde wurde auch
gegen Phil. Thomas Antrag auf Entmündigung gestellt.
Dieser Antrag wurde vom Amtsgericht Nieder-Olm zurück-
gewiesen, da wohl Thomas strafrechtlich nach § 51 StG.B.
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Müller Thomas und seine Familie.
141
nicht verantwortlich sei, aber Art. 489 C. c. auf ihn nicht
zutreffe; denn nach den erhobenen Gutachten sei er zur
Besorgung seiner Vermögensangelegenheiten wohl imstande.
Die von der Staatsanwaltschaft eingelegte sofortige Be-
schwerde wurde verworfen.
Während der Beobachtungszeit in Gießen hatte Phil.
Thomas erklärt, „er sei jetzt klug geworden, er werde
nichts mehr machen“. Daß er nicht Wort halten würde,
nach der Art seiner Erkrankung ja auch nicht Wort halten
konnte, war vorauszusehen. Dies geschah denn auch. Er
beschimpfte bei jeder Gelegenheit die Mitglieder der
gegnerischen Prozeßpartei und die Zeugen, die im Zivil-
prozeß zu seinen Ungunsten ausgesagt hatten auf das
gemeinste mit: Schuft, Meineidige, Urkundenfälscher etc.,
ja er wußte jetzt sogar seinen Bruder Melchior, den „gut-
mütigen, ruhigen und besonnenen Mann“, in den Strudel
der Konflikte hereinzuziehen.
Die Folge war, daß auch dieser sich in gröblichen
Beleidigungen der Gegner erging und sich auch hinreißen
ließ, den Bürgermeister Brückner zu beschimpfen.
Da der besonders belästigte und beleidigte Wendel
Thörle III, der Sohn des Prozeßgegners, der seinen Vater
im Prozeß vertreten hatte, und der Großhl. Bürgermeister
Strafantrag stellten, wurde erneut ein Strafverfahren und
zwar gegen die Brüder Philipp und Melchior Thomas
anfangs 1899 wegen Beleidigung cingeleitet.
Zur Vernehmung vor Großhl. Amtsgericht Nieder-Olm
erschienen beide nicht, Melchior sandte aber folgendes
Schreiben :
„Durch die Mir am 13. März zugestellten Ladung
setze ich Sie nach §. 357 St.G.B. in Kenntniß, daß
wenn ein Amtsvorgesetzter, welcher seine Untergebenen
zu einer strafbaren Handlung im Amte vorsätzlich ver-
eitet
io*
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142
Schneider.
Außer dem setze ich Sie noch in Kenntniß, daß
der Großhl. Bürgermeister wegen Meineid innerhalb
drei Monaten, desgleichen Wendel Thörle III wegen
Öffentlicher Urkundenfälschung angeglagt sind, um
sich einen Vermögensvorteil zu verschaffen. Sie aber
von der Staatsanwaltschaft nach § 346, 357 St.G.B.
Begünstigung gemacht bekommen um ihre Verbrechen
zu sichern “
Er bezeichnet das Vorgehen als reinste Büberei, be-
mängelt die Ladung, die nicht § 177 St.P.O. entspreche
und erklärt schließlich, daß er nicht komme.
„Da könnten Sie mir jeden Tag eine Ladung
schicken, und ich jeden Tag nach Nieder-Olm laufen
könne Das wöhre mir sauber.
Melchior Thomas. 1-
Er wurde zwangsweise vorgeführt, gab die Beschuldi-
gung zu, erklärte aber, die Auslegung erst vor Gericht
machen zu wollen.
Bevor der Vorführungsbefehl gegen Philipp Thomas
in Kraft gesetzt wurde, erschien er freiwillig. Er gab die
Beschuldigung zu, behauptete aber, er sei sehr aufgeregt
gewesen, da der von ihm beleidigte Thörle in einem
Zivilprozeß unrichtige Angaben gemacht und ihn auch
gereizt habe.
Das zur Erstattung eines Gutachtens über den Geistes-
zustand der Beschuldigten aufgeforderte Kreisgesundheits-
amt Oppenheim erklärte Melchior für normal, bezüglich
Philipp Thomas kam es zum Schluß, daß sich sein
Befinden gegen den im seinerzeitigen Gutachten der
psychiatrischen Klinik geschilderten Zustand nicht geändert
habe.
Ara 9. Juli 1899 wurde Anklage gegen beide wegen
Beleidigung des Wendel Thörle und des Bürgermeisters
Brückner erhoben. Das Schöffengericht sprach sie in der
Sitzung vom 24. Oktober 1899 frei, da sie beide geistes-
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Müller Thomas und seine Familie.
143
krank seien. Der Amtsanwalt legte gegen das Urteil
Berufung ein.
In der ersten Sitzung der Berufungsinstanz, Straf-
kammer I in Mainz erschienen beide nicht, weshalb Vor-
Haftbefehl gegen sie erging. Bevor man zu dessen
Vollstreckung schritt, versuchte man die beiden Thomas
auf gütlichem Wege zum Erscheinen zu bringen. Ihre
Schwäger und Schwestern versuchten vergeblich, auf sie
einzuwirken; sie erklärten, nur der Gewalt zu weichen
und von ihren Schußwaffen Gebrauch zu machen, sobald
sich ein Gendarm in ihrer Mühle sehen lasse.
Man mußte deshalb versuchen, mit List der Verfolgten
habhaft zu werden; eine Festnahme war nur auf freiem
Felde, auf dem Weg zur Kirche oder bei der Feldarbeit
möglich.
Am 6. April gelang es dem Wörrstadter Gendarmerie-
Wachtmeister, den Philipp Thomas bei der Feldarbeit zu
überraschen und zu verhaften. Er legte gegen den Haft-
befehl Beschwerde ein, die aber vom Oberlandesgericht
verworfen wurde.
In der neuen Hauptverhandlung, zu der die Fest-
nahme des Melchior Thomas noch nicht gelungen war,
ordnete das Gericht die erneute Begutachtung des Philipp
Thomas gemäß des § 81 St.P.O. an. Die von Thomas
bezw. seinem Verteidiger eingelegte sofortige Beschwerde
wurde verworfen und Thomas in die Landesirrenanstalt
Hofheim übergeführt. Erwähnt sei nur, daß Ph. Thomas
in seiner Beschwerdeschrift dem Gießener Sachverständigen
Meineid, seinem Anwalt Einverständnis mit der Gegen-
partei vorwirft und das Verfahren als ungesetzlich be-
zeichnet.
Der Gutachter der Landesirrenanstalt kam bald zu
dem bestimmten Resultat, daß Ph. Thomas geisteskrank
sei. Das Großh. Kreisamt Oppenheim ordnete sodann an,
daß Thomas wegen seiner Geisteskrankheit in der Irren-
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144
Schneider.
anstalt zu verbleiben habe. Über sein weiteres Schicksal
wird weiter unten zu sprechen sein.
Inzwischen gaben sich die Gendarmen in Wörrstadt
die größte Mühe, den Melchior Thomas zu fassen. Ihre
Anstrengungen wurden aber, abgesehen von den schon
erwähnten Umständen, dadurch wesentlich erschwert, daß
Melchior Thomas seine Wohnung in Nieder - Saulheim
verlassen hatte und in die Mühle geflüchtet war, und daß
wiederholt gute Freunde die Familie Thomas warnten,
sie sollten ihre Behausung nicht verlassen, die Gendarmen
seien da. 1 )
Am 5. August 1900 wäre beinahe die Festnahme des
Thomas gelungen. Er befand sich auf dem Feld beim
Fruchtmachen. Als die Gendarmen in die Nähe kamen,
war er gerade im Begriffe heimzufahren. Kaum ward er
derselben ansichtig, als er seinen Wagen bestieg und
versuchte, in scharfem Tempo vorbeizufahren. Der eine
Gendarm hielt jedoch sein Pferd an und erklärte ihm
wiederholt die Verhaftung. Thomas peitschte aber auf
das Tier los, so daß es durchzugehen drohte, der Beamte
hielt es fest, da er hoffte, daß die anderen Gendarmen in
der Zwischenzeit herankommen und Thomas festnehmen
würden. Als diese nicht kamen, gab der Gendarm einen
Schreckschuß ab, Thomas peitschte erneut aufs Pferd und
während der Beamte am Pferde hing, sprang er vom
Wagen, entfloh und konnte trotz sofortiger Verfolgung
nicht gefaßt werden. Endlich am 11. September 1900
gelang die Festnahme. Die Wörrstadter Gendarmen über-
raschten Melchior Thomas und seinen Vater im Felde.
Als man Miene machte, den Melchior Thomas zu fassen,
schlug er sofort einen sechsläufigen Revolver an, flüchtete
aber, als der Wachtmeister einen Schuß auf ihn abgab.
1) Es schwebte diescrhalb auch ein Verfahren bei der Staats-
anwaltschaft Mainz wegen Begünstigung, das aber mit Einstellung
endigte.
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Müller Thomas und seine Familie.
145
Im Laufen drehte er sich noch wiederholt um und legte
auf den Beamten an. Als man ihn eingekreist hatte, blieb
er schußfertig stehen, sein Vater eilte mit erhobener Hacke
zur Hülfe herbei. Der Aufforderung die Waffe nieder-
zu legen, leistete er keine Folge, besonders da sein Vater
fortwährend an ihm hetzte.
Man versuchte nun, ihn abermals in Güte zum Mit-
gehen zu bewegen. Nach langem Zögern und namentlich
da die erbetene Gendarmerieverstärkung von Nieder-Olm
bald einzutreffen drohte, gab Melchior Thomas nach und
ließ sich nach Mainz abführen.
Bei seinen Vernehmungen über die am 5. August und
11. September begangenen Straftaten (Widerstand) bestritt
er, sich strafbar gemacht zu haben und gab eine ganz
vernünftige, allerdings von der Wahrheit erheblich ab-
weichende Darstellung, sein Vater verweigerte jede Auskunft,
beide, wie auch stets früher, ihre Unterschriften.
Die Anklage vom 11. Oktober 1900 lautete gegen
Melchior Thomas auf Widerstand, begangen am 5. August
1900 und außerdem gegen Melchior und Franz Thomas auf
Vergehen gegen § 1 14 St.G.B. begangen am 11. Septbr. 1900.
Charakteristisch ist die Erklärung des Franz Thomas
auf die Anklageschrift, aus der folgender Passus hier ein-
gefügt sei.
„ Da Wendel Thörle III, sowie der Bürger-
meister Brückner von Nieder - Saulheim bei unserer
königlichen Hoheit, Ministerium und bei der Staats-
anwaltschaft Mainz wegen Urkundenfälschung und Mein-
eid angezeigt sind. Da aber Thörle seine Klageschrift
vom 9. Juli 1891 als Wahrheit bezeichnet und als
Beweis anführt daß in der Gemarkung Nieder-Saulheim
Gewanne zu höllen sich neben dem Thomas’ sehen Wein-
berg ein Gemeinde-Damm hinzieht, der den Zweck hat,
das vom Berge kommende Wasser aufzufangen und ins
Thal zu leiten u
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146
Schneider.
In der Hauptverhandlung vom 27. Oktober 1900, in
der auch gegen Melchior Thomas in der Berufungsinstanz
wegen Beleidigung verhandelt wurde, wurden beide An-
geklagte verurteilt. Das Gericht nahm zwar auch bezüglich
des Vorfalls vom 11. September an, daß nur Vergehen
gegen § 113 vorliege, erkannte aber mit Rücksicht auf die
Gemeingefährlichkeit der Angeklagten gegen Melchior
Thomas auf eine Gesamtstrafe von 1 Jahr 8 Monaten,
gegen Franz Thomas auf 5 Monate Gefängnis.
Die Frage der Zurechnungsfähigkeit bezügl. Melchior
Thomas wurde nach den Ausführungen der Sachverständigen
bejaht, bei Franz Thomas ein Zweifel daran gar nicht
erhoben.
Melchior Thomas legte zwar zunächst Revision ein,
nahm sie aber alsbald wieder zurück. Er wurde zur
Verbüßung seiner Strafe nach der Zellenstrafanstalt Butz-
bach übergeführt, wo er sich ruhig, geordnet und fleißig
benahm.
Aus dem schriftlichen Gutachten bezüglich Melchior
Thomas, das der Sachverständige vor dem Termin erstattet
hatte, sind folgende Ausführungen bemerkenswert, um so
mehr, als sie von dem Anstaltsarzt in Butzbach bezweifelt,
ihre Bestätigung durch ein Gutachten der psychiatrischen
Klinik in Gießen fanden: „Er ist der Belehrung zugängig
Als ich ihm sagte, die ganze Sache ist die richtige
Bauerngeschichte, stimmte er lebhaft zu: allweil sagen
Sie das rechte Wort, Herr Doktor, so ist es. Man
vergleiche damit die Ausdrücke der Huber und des Ph.
Thomas
Nachdem er die Erfahrung gemacht hat, daß er
schließlich doch den kürzeren zieht und daß er und seine
Familie erheblichen materiellen Schaden davon haben, ist
ihm alles, was er getan, leid er gibt auch
bezüglich des dem Bürgermeister gemachten Vorwurfs
des Meineids zu: im Zorn redet man manches
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Müller Thomas und seine Familie.
147
Also kein fortwährend erweitertes System von un-
begründeten Vorstellungen, dagegen Einsicht in die Zweck-
widrigkeit und Strafbarkeit seiner Handlungen, der feste
Vorsatz, sich in solche Dinge nicht mehr zu mischen
und Vater und Bruder treiben zu lassen, was sie wollen.
Ich fasse mein Gutachten dahin zusammen, daß
Melchior Thomas nicht geisteskrank ist oder war, daß der
geistig beschränkte Mensch die Beleidigungen unter dem
Eindruck selbst beleidigt worden zu sein, begangen hat
und daß er zu dem Widerstand gegen die Staatsgewalt
wesentlich unter dem Einfluß seines Bruders und seines
Vaters gekommen ist.“
Mit großen Schwierigkeiten war die Festnahme des
Franz Thomas, der sich natürlich nicht zur Strafverbüßung
stellte, verbunden. Erst am 21. Juni 1901 gelang es, ihn
in der Nähe seiner Mühle zu überrumpeln und ihn in die
Strafhaft nach Mainz zu überführen.
Alsbald nach seiner Inhaftierung äußerte sich der
Anstaltsarzt dahin, daß Franz Thomas zweifellos geistes-
krank und nach Internierung der Huber und des Philipp
Thomas die Triebfeder aller Konflikte gewesen sei und
seinen Sohn Melchior in die unglückliche Affäre herein-
gezogen habe. Etwas später berichtet er: „In geistiger
Beziehung stellt Franz Thomas das völlige Spiegelbild
seines Sohnes Philipp dar. Seitdem die Thomas’schen
Prozesse spielen, fiel er durch seine Hartnäckigkeit und
Dickköpfigkeit auf, man vermißte bei ihm jeden Versuch,
mäßigend auf seine Kinder einzuwirken
Die Frage der Zurechnungsfähigkeit des alten Thomas
ist gerichtlicherseits noch nicht angeregt worden, dem Unter-
zeichneten drängt sie sich zum ersten Male auf, als ihm
gelegentlich im Gespräch Thomas eine einfache Zeugen-
vorladung als wichtige Urkunde und Beweismittel dafür
angab, daß das berüchtigte Streitobjekt kein Gemeinde-
damm sei. Das völlig wertlose Aktenstück gab er um
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148
Schneider.
alles in der Welt nicht aus der Hand „dann könnten sie
überhaupt nichts mehr wollen ....
Die Urteilslosigkeit, die völlige Unbelehrbarkeit und
die Verknüpfung jeder Person, die ihren Rechtsstandpunkt
nicht teilt, in das Netz ihrer verkehrten Rechtsbegriffe,
bilden den Grundzug der Krankheitserscheinung bei Franz
Thomas genau ebenso wie bei Philipp Thomas. Und da
Franz Thomas unter der Herrschaft dieser krankhaften
und unkorrigierbaren Vorstellungen die Straftat begangen
hat, so ist hierfür die freie Willensbestimmung bei ihm
ebenso ausgeschlossen, wie bei seinem Sohne Philipp.“
Auf Grund dieses Gutachtens, und da er körperlich
in der Haft zusehends hinschwand, wurde Franz Thomas
am 10. August 1901 unter der Bedingung fünfjährigen
Wohlverhaltens begnadigt.
Wie oben schon angedeutet, hatte sich während der
Strafverbüßung ein Dissens zwischen dem Mainzer Kreis-
arzt und dem Butzbacher Anstaltsarzt insofern ergeben, als
letzterer den Melchior Thomas für hochgradig schwach-
sinnig und unzurechnungsfähig erklärt hatte. Deshalb wurde
im Einverständnis mit Großh. Ministerium Thomas noch-
mals in der psychiatrischen Klinik eingehend beobachtet,
das Gutachten kommt zu dem Schlüsse:
„1. Thomas zeigt eine gewisse geistige Beschränktheit
und leichte Beeinflußbarkeit.
2. Durch die genannten Eigenschaften werden unter
Berücksichtigung aller Verhältnisse die jetzt noch bestehen-
den Rechtsideen bei ihm genügend erklärt.
3. Thomas ist auf Grund der klinischen Unter-
suchung und Beobachtung nicht als geisteskrank zu
erachten.“
Unterm 16. April wurde er unter dergleichen Bedingung
wie sein Vater begnadigt. Er begab sich aber unglück-
seligerweise nicht zu seiner Familie, sondern in die väterliche
Mühle. Welch' unheilvollen, verwirrenden Einfluß der Alte
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Müller Thomas uud seine Familie.
149
auf den Sohn ausübte, beweist ein Schreiben an den Gerichts-
vollzieher, der mit Beitreibung der Kosten aus den letzten
Strafprozessen beauftragt war.
„ Auf die Mitteilung vom 17. Juli vordere
ich Sie zum zweiten mahl schriftlich auf nach §. 164
St.G.B. gehender Titel als Beamter, daß gegen das Urteil
vom 27. Oktober 1900 Anzeige gemacht ist wegen
Urkundenfälschung valsche Anschuldigung und Meineid
da uns das fervahren eingestellt worden ob diese Anzeigen
falsch sind oder nicht nach §. 191 St.G.B “
Deutlich ist hier schon der Einfluß der hirnverbrannten
Ideen des Alten zu spüren. Melchior spielt dabei auf eine
Anzeige an, die er während der Untersuchungshaft gegen
Thörle und Genossen gemacht hatte, die aber zurück -
gewiesen worden war.
Die Kostenbeitreibung verursachte auch unendliche
Schreibereien und Scherereien, da der Vollziehungsbeamte
wohl Schonen des Thomas pfändete, bei der Versteigerung
aber niemals Gebote abgegeben wurden, da niemand mit
dem gefürchteten Thomas etwas zu tun haben wollte.
In diesen Akt des Dramas fällt auch die Verhandlung
der Sache in der zweiten hessischen Kammer.
An diese war folgendes Schriftstück abgesandt worden :
„Vorstellung des Franz Thomas und dessen Sohn
zu Nieder-Saulheim betreffend Rechtsverweigerung.
An die
hohe zweite Kammer der Stände des Groß-
herzogtums.
Endesunterzeichneter ersucht der zweiten hessischen
Ständekammer wegen Rechtsverweigerung folgendes zu
unterbreiten :
Im Jahre 1891 erhielt ich von Wendel Thörle III.
Nieder-Saulheim eine Anklageschrift, worin Thörle ein
Erpressungsversuch, Urkundenfälschung machte, um sich
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150
Schneider.
ein Vermögensvorteil zu verschaffen. Am Amtsgericht
Nieder-Olm wurde ich gegen alles Aufbieten gewaltsam
in diese Ungerechtigkeit verurteilt und noch als ein
Akt der Bosheit, ein Racheakt dergestalt, alsdann ging
ich an das Landgericht Mainz, wozu ich vier Rechts-
anwälte brauchte, welche sämtlich im Einverständnis
mit der Partei handelten. Schon während des Prozesses
erhob ich Anzeige bei der Staatsanwaltschaft und am
Großhl. Ministerium, wurde aber abgewiesen
Überdies erhob ich sofort bei Großhl. Ministerium zum
zweiten Mal Anzeige, wo aber nichts geschah, auch keine
Antwort erhielt. Auf das hin warf mein Sohn dem
Betreffenden Meineid vor, man stellte ihn ans Schöffen-
gericht verurteilte ihn zu 200 Mark Geldstrafe nebst den
Kosten, worauf Herr Rechtsanwalt Dr. • . . die Kosten-
rechnung zusandte. Wo mein Sohn ihn mittelst Briefe
die Spitzbüberei vorwarf, was geschah, er erhob Anzeige
an der Staatsanwaltschaft, als hätte mein Sohn Erpressungs-
versuch gemacht, worauf er die Staatsanwaltschaft in
Kenntnis setzte, daß Herr Dr im Einverständnis
mit der Gegenpartei gehandelt habe, man holte ihn mit
3 Gendarmen, brachte ihn an die Strafkammer nach
Mainz, wo er ohne ein Wort zu vertheidigen mit drei
Wochen Gefängnis verurteilt wurde. Dann hat mein
Sohn nebst meiner Tochter durch Plakaten die Spitz-
büberei veröffentlicht, dann ging es aber los mit Verhaften
und Vorführen
Auf dies hin erhielt mein Sohn und Tochter von
der Staatsanwaltschaft Anklageschriften als hätten sie
durch Plakaten Beamtenbeleidigung gemacht. Mein Sohn
hat sich aber dieser falschen Anklage widersetzt und
darauf gesessen. Da kam aber die Staatsanwaltschaft
mit unwiderstehlicher Gewalt, schlossen mein Sohn und
Tochter, führten sie vor nach Nieder-Olm
Nun folgt eine verworrene Darstellung der Festnahme
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Müller Thomas und seine Familie.
151
und Verbringung der Anna Huber in die Irrenanstalt,
ihre Entlassung und weiteren Schicksale. Zum Schluß hieß
es dann:
Einer unschuldigen Frauensperson, welcher nicht
das geringste nachzuweisen ist, so matem, das ist ein
trauriges Dasein in Hessen und was gedenkt Großhl.
hessisohe Regierung weiter zu tuen, um mir in dieser
Sache, die ich als Wahrheit weiter beweisen kann, zu
meinem Rechte zu verhelfen.
Ich bitte hochgeehrte zweite hessische Ständekammer
oben erwähnte Sache genau zu prüfen und Großhl.
Regierung unterbreiten zu wollen.
Nieder-Saulheim, den 7. Februar 1900
Hochachtend
Franz Thomas, Philipp Thomas Sohn.“
Zur Besprechung gelangte die Vorstellung in der
Sitzung der zweiten Kammer vom 20. Dezember 1900.
Die Beschwerde wurde dem Antrag des 3. Ausschusses
entsprechend, der schriftlich in der Sache Bericht erstattet
hatte, für erledigt erklärt.
Für den Müller Thomas ergriff eigentlich nur der
Abgeordnete des Wahlkreises, zu dem Nieder-Saulheim
gehört, das Wort und empfahl, den Fall Thomas in
schonender Weise aus der Welt zu schaffen. Geschehe
das nicht, so werde der letzte Akt des Dramas noch nicht
gespielt sein, der werde Mord und Selbstmord heißen. Aus
den Bemerkungen anderer Abgeordneten ergab sich, daß
sich die Angehörigen der Familie Thomas, auch die Anna
Huber, an sie gewandt hatten (also schon vor 1898), um
sie zum Eingreifen in die Prozesse zu bewegen, was aber
von ihnen abgelehnt worden war. Im Anschluß hieran
sei bemerkt, daß später von verschiedenen Mitgliedern der
Familie Thomas noch wiederholt Eingaben an die zweite
Kammer gerichtet wurden, auch Se. Königliche Hoheit der
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Schneider.
Großherzog erhielt Zuschriften, denen aber mit Rücksicht
auf den Geisteszustand der Antragsteller keine Folge gegeben
wurde. — Hierher gehören besonders die Eingaben des
Melchior Thomas vom 20. November 1902, des Philipp
Thomas vom 4. Oktober 1903, die von Beleidigungen
geradezu wimmelt, und des Melchior Thomas vom
25. Oktober 1903 an die zweite Ständekaramer betr. Rechts-
verweigerung.
Nachdem Philipp Thomas dauernd in der Irrenanstalt
interniert worden, wiederholte die Staatsanwaltschaft am
19. September 1900 ihren im Jahre 1898 abgelehnten
Antrag auf Entmündigung desselben. Diesem Antrag wurde
auf Grund des ausführlichen Gutachtens des Oberarztes im
Philippshospital durch Beschluß des Amtsgerichts Nieder-
Olm vom 3. Januar 1901 entsprochen.
Gegen diesen Beschluß erhob Philipp Thomas „nach
§ 664 Abs. 2, 668 Abs. 1 C P.O.“ Klage. Das Gericht
bestellte ihm einen Anwalt, Thomas wurde nochmals von
verschiedenen Kapazitäten der Psychiatrie untersucht, die
aber einstimmig zu dem Schluß kamen, daß Thomas ein
typisch Querulantenwahnsinniger sei und im Sinne des
§ 6 B.G.B. wegen Geistesschwäche außer Stande sei, seine
Angelegenheiten zu besorgen. Es ist unmöglich hier die
gesamten Gutachten vorzutragen, interessant ist aber das
Verhalten des Thomas bei seiner Vernehmung. Er begegnete
dem anwesenden Richter und den Sachverständigen mit
größtem Mißtrauen und erklärte: Medizinische Sach-
verständige dürfen nicht zugezogen werden, hier kommen
nur Richter in Frage, außerdem muß es mir 14 Tage
vorher zugestellt werden, damit ich meine Beweismittel in
Händen habe. Trotz seines WiderstrebenB gelang doch eine
Unterhaltung, die den Sachverständigen genügendes Material
für ihr Gutachten bot.
Unter diesen Umständen wurde natürlich die Klage
durch Urteil vom 2. März 1904 abgewiesen.
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Müller Thomas und seine Familie.
153
Dagegen reichte Thomas bei der Staatsanwaltschaft
nnd beim Landgericht eine „Revision“ ein, die nicht weniger
als 24 eng beschriebene große Bogenseiten umfaßt und
nochmals die ganze Geschichte seines „Rechtes“ enthält,
und in „Tatbestand" und „Gründe“ zerfällt. Eine weitere
Folge wurde dieser Eingabe nicht gegeben.
Eine wahre Leidensgeschichte für den betreffenden
Richter war die Vormundschaft über die Anna Huber und
den Philipp Thomas.
Nach der Entmündigung der ersteren war der nach
französischem Recht erforderliche Familienrat, der aus den
nächsten Angehörigen bestehen mußte, auf Ersuchen des
Amtsrichters wiederholt zusammengetreten, er hatte sich
aber stets geweigert, einen Vormund zu wählen, so daß
die Huber zunächst ohne Vormund blieb. Da sie kein
Vermögen besaß, entstand dadurch kein weiterer Schaden.
Nach Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches wurden
die Bemühungen des Richters, einen Vormund zu gewinnen,
wieder aufgenommen, jedoch anfänglich vergeblich.
Es würde zu weit führen, alle Phasen des Verfahrens im
einzelnen anzuführen, als Charakteristikum sei nur erwähnt,
daß die umfangreichen Vormundschaftsakten (Phil. Thomas
hat schon zwei Bände) fast ausschließlich bestehen aus Vor-
schlägen des Ortsgerichts von Vormündern, Weigerungen
der Ausgewählten, Strafandrohungen, Straffestsetzungen, Be-
schwerden, weiteren Beschwerden, Beschlüssen über Un-
zulässigkeit oder Grundlosigkeit der Beschwerden, Kosten-
rechnungen etc. Der materielle Inhalt ist äußerst gering.
Im einzelnen ist folgendes zu bemerken:
Bezüglich der Anna Hub er wurden folgende Personen
zur Vormundschaft herangezogen:
1 . Der Schwager, der schon genannte Beamte. Er
erhielt nicht die erforderliche Erlaubnis seiner Vorgesetzten
Behörde.
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Schneider.
2. Der Schwager Adam Schlösser in Sörgenloch, der
die Elise Thomas geheiratet hatte.
Auf seine Weigerung erhielt er Ordnungsstrafen von
50, 100 und 300 Mark.
3. Karl Thomas in Nieder-Saulheim.
Er weigerte sich und erhielt Ordnungsstrafen von 50,
100 und 300 Mark.
4. Peter Thomas in Vendersheim.
Auch er weigerte sich und erhielt Ordnungsstrafen von
100, 300 und 300 Mark.
5. Der Bruder Melchior Thomas.
Er weigerte sich und erhielt Ordnungsstrafen von 100
und 150 Mark.
6. Der Landwirt Melchior Thomas in Vendersheim.
Er weigerte sich ebenfalls.
Schließlich wurde, da kein anderer Ausweg blieb, ein
Bechtspraktikant in Nieder-Olm am 22. Juli 1904 zum
Vormund bestellt.
Ähnlich war der Verlauf der Sache bei Philipp
Thomas:
Als Vormünder waren ausersehen:
1. Seine Ehefrau (Philipp Thomas hat während der
Prozesse geheiratet).
Sie weigerte sich, hat übrigens auch Ehescheidungs-
klage eingereicht.
2. Melchior Metzler in Vendersheim.
Er weigerte sich, seine Weigerung wurde als berechtigt
anerkannt.
3. Melchior Thomas, der Bruder.
Auf seine Weigerung hin wurden Strafen von 20, 50
und 100 Mark ausgesprochen.
4. Adam Schlösser III, der Schwager.
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Müller Thomas und seine Familie.
155
Auf seine Weigerung wurde er mit 150 Mark bestraft,
eine weitere Strafe von 200 Mark angedroht.
Die ausgesprochenen Strafen wurden fast alle anstands-
los bezahlt. Melchior Thomas und Schlösser schickten die
Zuschriften des Amtsgerichts einfach zurück, versehen
mit völlig mißverstandenen Zitierungen von Paragraphen
der C.P.O. Der Inhalt ihrer Erklärungen war meist der, daß
sie keinen Antrag auf Entmündigung der Angehörigen
gestellt hätten, und bevor ihnen nicht der Antragsteller
mitgeteilt sei, sie auch nichts annehmen könnten (obschon
ihnen dutzendmal die erforderliche Aufklärung gegeben
worden war).
Da auch hier kein anderer Ausweg blieb, wurde eben-
falls der genannte Rechtspraktikant zum Vormund bestellt.
Diese Bestellung war umso nötiger, als dem Philipp Thomas
eine Klage wegen seiner Verpflegungskosten im Philipps-
hospital drohte.
Unterdessen hatte aber Melchior Thomas einen neuen
Konflikt mit dem Strafgesetz bekommen.
Am 30. September 1903 hatte der Nieder-Olmer Gerichts-
vollzieher zwecks Beitreibung einer in der Vormundschafts-
sache erkannten Ordnungsstrafe bei dem Melchior Thomas
eine Creszenzenpfändung vorgenommen. Thomas sandte
die Abschrift des Protokolls mit folgender Aufschrift auf
der Rückseite zurück:
„Gegen die Pfändung vom 30. September 1903. im
Auftrag des Amtsgerichts Nieder-Olm erhebe ich Einspruch
aus dem Grunde, weil ich Ihnen mitgeteilt habe auf den
4. 8. 1903 So wie auch dem Amtsgericht Nieder-Olm
auf den 8. 8. 1903.
Ich fortere Sie auf als Beamter nach § 253 § 255
und nach § 257 St.G.B. weil ich der Staatsanwaltschaft
Mainz Anzeige gemacht habe wegen Urkundenfälschung
Falscheanschuldigung und Meineid nach § 164 und nach
§ 191 St.G.B.
Der Pitaval der Gegenwart. IV. 11
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Schneider.
Ich verbitte mir alle weitere Erpressungsversuche
und trohungen nach § 656 C P.O.
Der ich nicht bin
Hochachtungsvoll Melchior Thomas.“
In einem Schreiben vom 23. Oktober 1903 warf er
dem Gerichtsvollzieher vor: „er habe ihm das Rind (das
er gepfändet hatte!) gestohlen und belochen und fordert
ihn nochmals nach § 253, 255, 257 St.G.B.“ auf.
Man sieht genau dieselbe Ausdrucksweise, dieselben
Zitate wie bei Phil. Thomas!
Man dachte zunächst daran, um weitere Verwicklungen
zu vermeiden, die Sache durch Einstellung nach Zurück-
nahme des Strafantrags zu erledigen, man hielt es aber
schließlich doch für zweckentsprechend, zumal auch da-
durch Handhaben für seine Behandlung, insbesondere
Strafsachen gegeben wurden , Melchior Thomas noch-
mals auf seinen Geisteszustand begutachten zu lassen.
Aus dem Gutachten des Kreisgesundheitsamts Mainz,
das auf Grund der neuerlichen Entwickelung der Sache
erstattet wurde, sei folgendes hervorgehoben:
Die Familie Thomas bildet ein ausgezeichnetes Bei-
spiel für das sogenannte induzierte Irresein. Den indu-
zierenden Faktor bildet die Ehefrau Huber, die höchst-
wahrscheinlich geisteskrank aus Amerika zurückkam und
jedenfalls längere Zeit, bevor die Familie Thomas die
Öffentlichkeit beschäftigte, an chronischer Verrücktheit er-
krankt war. Sie bemächtigte sich der Führung des be-
kannten Prozesses ....
Daß die Familie Thomas von ihrem Recht überzeugt
ist, ist für den Kenner bäuerlichen Charakters ebenso selbst-
verständlich, als der Umstand, daß das Recht bis in die
letzten Instanzen verfolgt wird. Das Krankhafte liegt darin,
daß für das Unterliegen im Prozeß ein ganzer Ratten-
könig von Vorstellungen bei der Familie Thomas Platz
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Müller Thomas und seine Familie.
157
greift. Die Wahnsysteme der Verfolgung überträgt die
Geisteskranke Huber auf den Prozeß:
Das sonnenklare Recht trug nur deshalb nicht den
Sieg davon, weil nicht bloß die Prozeßgegner, sondern
auch die Richter und Anwälte sich der schlimmsten Ver-
brechen, des Meineids, der Urkundenfälschung, der Er-
pressung, Freiheitberaubung etc. schuldig machten. Es
liegt hier das Wahnsystem einer chronisch Verrückten klar
zu Tag . . . .“
Es wird nun ausgeführt, daß zuerst Philipp, dann
Franz und jetzt auch Melchior Thomas in diesen Ideen-
kreis verstrickt worden ist.
„Mit Bezug auf diesen Vorstellungskreis muß Melchior
Thomas als induziert „geisteskrank angesehen werden 1 -
daß er sich einer Beamtenbeleidigung schuldig macht, da-
für fehlt ihm jede Einsicht; seine Willensbestimmung
innerhalb dieses Ideenkreises ist gebunden durch die un-
korrigierbaren falschen Vorstellungen von seinem Recht
Die Beamtenbeleidigung ist der unmittelbare Einfluß der
induzierten Vorstellung.“ Das Verfahren wurde daraufhin
wegen Geisteskrankheit des Beschuldigten eingestellt.
Das Gutachten fand insbesondere eine Stütze in den
zahllosen Eingaben des Franz und Melchior Thomas, zu
denen neuerdings auch der Schwager Schlösser trat, in
den Vormundschaftsakten, die fast alle denselben oder doch
ähnlichen Inhalt haben. Bemerkt sei dazu, daß die Ein-
gaben Schlossers zum Teil von Thomas geschrieben oder
mindestens doch von ihm abgefaßt scheinen.
Als Probe sei eine Eingabe Schlossers hier eingefügt:
Sörgenloch, den 22. März 1904.
Ich fordere Großhl. Amtsgericht Nieder-Olm wieder-
holt auf die Beschwerde vom 16. März 1904 auf An-
ordnung von Großhl. Amtsgericht Nieder - Olm vom
17. März 1904.
11 *
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Schneider.
Gründe:
Mit dem Bemerken nach § 656 O.PO. mit Zustimmung
des Antragssteilere kann das Gericht anordnen der ich
nicht bin Indem es dem Landgericht Mainz Civil-
kammer III festgestellt wurde, daß wir kein Antragsteller
sind. Ich verbitte mir alle weiteren Erpressungsvereuche
und Drohung nach § 253 St.G.B.
Hochachtend !
Adam Schlösser III.“
Melchior Thomas schreibt am 8. 8. 1903:
, Und nur von Ruchloß und Gewissen-
lose Menschen, am Kreisamt Oppenheim eine Falsche An-
trag gestehlt, Anna und Philipp Thomas suchen Geistes-
krank und Gemeindegefährlich Trotzdem vordere
ich Sie auf nach § 253, 255, 257 St.G.B. und nach § 556
C.P.O
Ich vortere sie auf als Beamter nach § 340,
341, 344, 345 St.G.B.
Ich verbitte mir alle weiteren Erpressungsversuche,
da wier der Staatsanwaltschaft Mainz Anzeige gemacht
haben wegen Urkundenfälschung, valsche Anschuldigung
und Meineid nach § 164 und nach § 191 St.G.B “
Auch an die Staatsanwaltschaft in Mainz richteten
Thomas und Schlösser Anzeigen wegen Beleidigung, Amts-
verbrechens und forderten sie nach §§ 253 ff. auf, eine Folge
wurde den Zuschriften nicht gegeben.
Auf die obenerwähnte Klage der Provinzialdirektion
Starkenburg wegen Erstattung der Kosten der Verpflegung in
der Irrenanstalt wurde Philipp Thomas dem Klageantrag
gemäß verurteilt. Da der alte Thomas am 30. Juni 1898
sein gesamtes liegendes Vermögen an die Kinder verteilt
hatte, wobei Phil. Thomas den größten Teil, besonders die
Mühle erhalten hatte, wurde Einschreibung genommen und
trotz verschiedener Beschwerden und Eingaben des Philipp,
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Möller Thomas lind seine Familie.
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Franz, Melchior Thomas und des Schlösser das Zwangs-
versteigerungsverfahren betrieben.
Bei der Versteigerung vom 7. Dezember 1904 wurden
nur auf drei von 1 5 ausgebotenen Parzellen Gebote abgegeben,
bezgl. zweier Grundstücke fand am 28. Februar 1905 eine
Nachgebotsversteigerung statt. Die abgegebenen Gebote,
zu denen auch der Zuschlag erfolgte, blieben hinter
der Schätzung zurück. Niemand wollte mit den An-
gehörigen der Familie Thomas etwas zu tun haben. Hatten
doch in der Vormundschaftsangelegenheit die Leute lieber
hohe Strafen bezahlt, als sich in die Gefahr begeben, den
Zorn der Thomas zu reizen.
Es braucht wohl nicht noch besonders bemerkt zu werden
daß in allen diesen Angelegenheiten Dutzende von Berichten
an Vorgesetzte Behörden infolge der Beschwerden der An-
gehörigen der Familie Thomas nötig wurden.
Die Erwerber der drei Thomas’schen Grundstücke
sollten ihres Besitzes nicht froh werden. Da die Zwangs-
versteigerung natürlich von Franz Thomas und Cons. nicht
anerkannt wurde, betrachteten sie sich immer noch als
Eigentümer.
Am 3. April 1905 wollte der Landwirt Bruner nach
einem der gesteigerten Äcker gehen, wohin er Mist gebracht
hatte. Als er hin kam, breiteten Franz und Melchior
Thomas den Mist aus, als ob er ihr Eigentum wäre und
erklärten, sie wollten Hafer säen. Daselbe passierte den
beiden anderen Steigerern Kröhle und Thörle.
Bruner ließ sich den Eingriff in sein Eigentums-
recht nicht gefallen und setzte Kartoffeln in das Feld,
am 24. Juni 1905 waren sie sämtlich ausgepflügt.
Am 12. Juli 1905 w T ollte Thörle sein Korn, das ihm
die beiden Thomas abgeschnitten hatten, wenigstens ein-
fahren. Während er auflud, erschienen Franz und Melchior
Thomas, griffen ihn an, Melchior Thomas stach ihm mit
einer Heugabel in die Seite. Das gleiche Geschick hatte
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Schneider.
Kröhle, dessen Gerste am 21. Juli von den beiden Thomas
unter Zuhilfenahme dritter Personen abgeemtet und ein-
getan wurde. Im November 1905 endlich wurde dem
Thörle das Korn, das er in den ersteigerten Acker eingesäet
hatte, von den Thomas umgepflügt, das gleiche erlebte der
Landwirt Bruner noch mit seinem Acker am 18. April
1906.
In dem von der Staatsanwaltschaft Mainz wegen Sach-
beschädigung eingeleiteten Verfahren, das sich hauptsächlich
gegen die Teilnehmer richtete und ein Bild über den Geistes-
zustand des Melchior Thomas geben sollte, dessen Geistes-
krankheit noch nicht völlig einwandfrei festgestellt schien,
wurde auf Antrag des Sachverständigen die Verbringung
des Melchior Thomas nach § 81 St.P.O. in eine Irren-
anstalt angeordnet.
Nach vielen Mühen — das Verfahren war im Juli
bezw. Oktober 1905 eingeleitet worden — , gelang am
23. Januar 1906 die Festnahme des Melchior Thomas,
der alsbald die Überführung in die Gießener Klinik folgte. 1 )
Das ausführliche Gutachten vom 13. März 1906 kam
zu dem Schlüsse, daß Melchior Thomas jetzt geisteskrank
geworden sei, seine Internierung sei nicht nötig, wenn
der alte Thomas dauernd in einer Irrenanstalt verwahrt
werde.
Das Verhalten des Melchior Thomas trage alle Merk-
male der als querulierende Form der Paronoia den Irren-
ärzten wohlbekannte Geistesstörung, im Jahre 1901 sei
Thomas nicht geisteskrank gewesen, jetzt aber unter dem
Einfluß des geisteskranken Vaters selbst geisteskrank ge-
worden. Melchior Thomas wurde aus der Klinik entlassen,
1) Hier ist einzuschalten, daß Melchior Thomas im Mai 1905
auch an den Kaiser ein Gesuch um Wiederaufhebung der Ent-
mündigung seines Bruders gerichtet hatte, das aber durch die Kgl.
Preuß. Gesandtschaft Darmstadt unter Hinweis auf die gesetzlichen
Vorschriften der C P.O. zurückgewiesen wurde.
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Müller Thomas und seine Familie.
161
sämtliche Angeschuldigte wurden außer Verfolgung gesetzt
(Beschluß vom 18. 7. 1906.) Aufgabe der Verwaltungs-
behörde war es nun, um weitere. Exzesse zu vermeiden,
die Internierung des gemeingefährlichen Franz Thomas
herbeizuführen.
Seit April 1906 bemühte sich nun die Gendarmerie,
des Franz Thomas habhaft zu werden, indem sie ihn
auf dem Felde zu überraschen suchte. Alles war aber
vergebens. Nunmehr sollte am 8. Juni unter Aufgebot zahl-
reicher Gendarmerie Thomas unter allen Umständen aus
der Mühle gebracht und verhaftet werden. Man versuchte
die Türen der Mühle zu erbrechen; gerade gelang es dem
Wachtmeister R. aus Bodenheim eine Füllung einzustoßen,
als ein Schuß krachte und der Beamte tot zurücksank.
Thomas hatte ihn mittels eines Schrotschusses getötet.
Unter dem Eindruck dieses Ereignisses wurde an
diesem Tage von weiterem Vorgehen Abstand genommen.
Am nächsten Tag — 9. Juni — verließ zuerst Frau
Thomas die Mühle, um Vieh zu füttern. Durch Schreck-
schüsse eingeschüchtert, wagte sie nicht mehr, die Mühle
zu betreten, bald darauf kam auch der alte Thomas her-
aus, durch seinen 1 1 jährigen Enkel aufgefordert, und ließ
sich willenlos festnehmen und in die Irrenanstalt verbringen;
den gleichen Weg nahm der Melchior Thomas, der sich
in der Nähe der Mühle aufgehalten und seinen Vater durch
Zeichen von den Maßnahmen der Gendarmerie in Kenntnis
gesetzt hatte. Die Besichtigung der Mühle ergab, daß
Thomas sich durch Sprießen am Balken, Vorlegen von
Pflügen, Eggen etc. vor die Türen in der Mühle vollständig
verbarrikadiert gehabt batte.
Das Gutachten des Oberarztes der Irrenanstalt Heppen-
heim vom 30. Januar 1907 bezw. 2. Februar 1907 spricht
sich dahin aus, daß beide, Franz und Melchior Thomas,
geisteskrank sind und an ausgesprochenem Querulanten-
wahnsinn leiden. Das Amtsgericht Nieder-Olm sprach
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162
Schneider.
daraufhin durch Beschlüsse vom 22. Februar 1907 die
Entmündigung beider aus. Ihre bewiesene Gemeingefähr-
lichkeit rechtfertigte ihre dauernde Internierung:
Die im Laufe des Jahres 1906 angeordnete vorläufige
Vormundschaft 1 ) wurde in eine definitive umgewandelt.
Vormund des Melchior Thomas ist seine Ehefrau, des Franz
Thomas ein Rechtspraktikant in Nieder-Oim.
Kurz vor Ostern 1907 entwich aber Melchior
aus der Anstalt, in der man ihn mit Gartenarbeit be-
schäftigt hatte, und kehrte zu seiner Familie zurück.
Da der Einfluß seines Vaters gebrochen ist, er auch
mehr passiv sich verhalten hatte, wohl infolge seiner
geringen Intelligenz, ist von ihm wohl weniger zu befürchten.
Er soll in Freiheit bleiben, um seine Familie erhalten
zu können; nur wenn er sich wieder zu Widerspenstigkeiten
gegen Beamte hinreißen lassen sollte, soll seine erneute
Internierung erfolgen.
Doch ist sein Schwager Schlösser zu der alten Mutter
auf die Mühle gezogen, dessen Verhalten in den Vor-
mundschaftsangelegenheiten auch schon bedenklich die
Einflüsse der Querulanten erkennen ließ; auch die Mutter
hat schon einmal eine von den gleichen Wahnideen
erfüllte Eingabe, wie sie ihr Ehemann und ihre geistes-
kranken Kinder äußern, an die Irrenanstalts - Direktion
gerichtet.
Ob da der letzte Akt dieses Dramas schon gespielt
ist? Ob die Gemeinde Nieder-Saulheim und ihr schwer-
geprüfter Bürgermeister jetzt zur Ruhe kommen werden?
Wer kann es sagen?
1) Eine solche schien damals geboten, da die Landwirte Bruner
u. Kons., denen die Thomas die Früchte verdorben oder eingeheimst
hatten, Entschädigungsklagen anhängig machten.
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Der Lnstmörder Dittrich.
Von
Staatsanwalt Brendler in Dresden.
Im Jahre 1905 wohnte in einer Villa der malerisch
am Fuße des Papststeins in der Sächsischen Schweiz ge-
legenen vielbesuchten Sommerfrische Gohrisch die Eentiere
Alma gesch. Opitz, eine stattliche Dame von etwa 40 Jahren,
die sich mit der Verwaltung ihres Vermögens beschäftigte
und fast allwöchentlich nach Dresden reiste, um ihre Grund-
stücke zu beaufsichtigen und die sonst notwendig werdenden,
mit der Vermögensverwaltung zusammenhängenden Ge-
schäfte zu besorgen. Am 17. Oktober 1905 verließ sie
ihre Wohnung gegen i /*l Uhr nachmittags, um sich nach
dem eine gute halbe Stunde von Gohrisch entfernten Bahn-
hofe von Königstein zu begeben und (mit dem 1 Uhr
4 Minuten abgehenden Personenzuge nach Dresden zu
fahren. Sie war beim Fortgehen mit einem schwarzen
Rocke, roter Bluse mit goldenen Knöpfen, schwarzem
Strohhute und neuen eleganten Schnürstiefeln bekleidet,
hatte über dem Arme ein schwarzes Jakett mit schwarz
und weißem Futter und führte eine mittelgroße, schwarze
Ledertasche bei sich, die außer einer schwarzen Taille,
etwas Frühstücksbrot und einer Anzahl Zigaretten, einen
Hundertmarkschein, ein Zweimarkstück und mehrere Nickel-
mtinzen enthielt. Außerdem trug sie einen ziemlich langen,
wertvollen schwarzen Spitzenschal, eine goldene Uhr, einen
goldenen Ring mit einem Brillanten und goldene Ohrringe.
Der Pitaval der Gegenwart IV. 12
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164
Brendler.
Ein Sträußchen Gartenblumen und einige Kiefemzweige
hielt sie in der Hand.
Sie ist nicht auf dem Bahnhofe in Königstein au-
gekommen, sondern unterwegs ermordet worden.
Es fiel zunächst ihren Verwandten in Dresden, bei
denen sie regelmäßig Dienstags vorzusprechen pflegte ,
nicht sonderlich auf, daß sie gerade am 17. Oktober —
das war eben ein Dienstag — nicht bei ihnen erschien;
sie mutmaßten, daß sie aus irgend einem Grunde ihren
Besuch verschoben habe. Als aber mehrere Tage ver-
gingen, ohne daß eine Nachricht von ihr einging, er-
kundigten sie sich in Gohrisch und erfuhren hier, daß Frau
Opitz bereits am 17. Oktober nach Dresden abgereist und
seitdem noch nicht wieder zurückgekehrt sei. Man hatte
angenommen , sie sei länger in Dresden zurückgehalten
worden, als ursprünglich beabsichtigt war, und hatte des-
halb ihrem Fernbleiben keine Bedeutung beigelegt. Nun-
mehr mußte man aber befürchten, daß ihr ein Unglück
widerfahren sei, und es wurden sofort Nachforschungen
nach ihrem Verbleibe angestellt, die zuerst erfolglos waren,
bis man sich entschloß, den Wald auf beiden Seiten der
Gohrisch-Königsteiner Landstraße absuchen zu lassen. Am
22. Oktober nachmittags gegen 5 Uhr wurde in einem
Dickicht, etwa zwei Minuten von der Straße und vier Mi-
nuten von dem an der Straße liegenden Restaurant Louisen-
hof entfernt, der Leichnam der Frau Opitz aufgefunden. Er
lag lang ausgestreckt da und war bekleidet mit Hemd,
Korsett, zwei Unterröcken und weißen Beinkleidern. Ein
Bein war nackt, das andere mit einem Strumpfe bekleidet.
Die Arme waren entblößt, der linke lag dicht am Ober-
körper, der rechte ruhte leicht gekrümmt auf dem Leibe;
sie wiesen weder Kratz- noch sonstige Wunden auf, die
auf einen Kampf hätten schließen lassen. Der Kopf war
etwas nach der Seite gewendet, der Gesichtsausdruck fried-
lich und ohne Spuren eines schmerzhaften Todeskampfes.
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Der Lustmörder Dittrieh.
165
Der obere Unterrock war aufgeschlagen und bedeckte
das Korsett und einen Teil der Arme. Taille, Oberrock,
Hut, Schuhe, ein Strumpf und sämtliche Wertsachen, wie
auch der Schal und die Tasche fehlten und waren auch
in der Umgebung nicht aufzufinden. Dagegen lagen etwa
acht Schritte von dem Fundorte entfernt die Kiefernzweige,
die Frau Opitz heim Verlassen ihrer Wohnung in der
Hand getragen hatte. Das Blumensträußchen war schon
am 17. Oktober auf der Landstraße in der Nähe einer
am Wegrande stehenden Bank von einer Frau aus Gohrisch
aufgefunden worden, ohne daß damals diesem Funde ein
Gewicht beigemessen worden wäre.
Blutspuren waren weder am Fundorte, noch in dessen
Umgebung zu sehen, Wunden wies der Körper nicht auf;
nur am Halse zeigte sich ein etwa 10 bis 15 cm langer
Strangulationsstreifen.
Von der Landstraße, die in ziemlich steiler Böschung
nach dem Walde abfällt, führte eine etwa 40 cm breite
Spur nach dem Fundorte, auf der das Gras niedergedrückt,
das Erdreich zum Teil aufgeschürft und der Boden, so-
weit er unter den Fichten mit Nadelstreu bedeckt war,
wie gekehrt erschien; offenbar war der Körper der Frau
Opitz von der Landstraße nach dem Fichtendickicht ge-
schleppt worden und hatte diese Spur hinterlassen. Das
bewies auch ein dreizinkiger Fraueneinsteck kämm, der
auf der Schleppspur lag und der Frisur der Toten ent-
glitten war.
Die Sektion der Leiche ergab Blutunterlaufungen im
Gehirn und Anfüllung der Kehlkopfhöhle und der Luftröhre
mit größeren Mengen Speisebrei, und das Gutachten der Ob-
duzenten lautete: Der Tod der Frau Opitz ist eingetreten
durch Erstickung infolge von Verstopfung der Luftröhre
und ihrer Verzweigungen durch Aspiration von Magen-
inhalt. Die Annahme daß vor dem Tode der Frau von
dritter Hand Angriffe auf ihr Leben stattgehabt haben, ist
12 *
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166
Brendler.
nach dem Leichenbefunde nicht ausgeschlossen. Nament-
lich ist anzunehmen, daß schwere Schläge mit einem harten,
stumpfen Gegenstände gegen ihren Kopf geführt worden
sind und daß manuelle Angriffe an ihrem Halse und Würg-
versuche stattgefunden haben.
Außerdem aber ergab die mikroskopische Untersuchung
eines dem Scheidenkanal der Leiche entnommenen Tropfens
Schleim das Vorhandensein zahlloser, wohlerhaltener mensch-
licher Samenfäden und stellte damit außer Zweifel, daß
an der Frau Opitz kurz vor oder nach ihrem Tode der
Geschlechtsakt vollzogen worden war.
Nach diesem Befunde leuchtete es ohne Weiteres ein,
daß die Tote das Opfer eines Mörders, und zwar eines
Lustmörders geworden war. Es war anzunehmen, daß der
Täter die Opitz auf der Landstraße getroffen, sie an-
gehalten, gewürgt, ins Waldesdickicht geschleppt und sie
dort gebraucht hatte. Der Tod war entweder infolge des
Würgens und der Schläge vor oder während des Bei-
schlafs eingetreten, oder die aus der Speiseröhre auf-
steigenden Speisereste hatten gleich nach dem Geschlechts-
akte die Erstickung des durch die Behandlung bewußtlos
gewordenen Opfers herbeigeführt. Dann hatte der Täter
die Leiche beraubt und war geflohen.
Aber wohin hatte er sich gewandt? Wer konnte in
Frage kommen?
Eine Frau aus Königstein, die am 17. Oktober vor-
mittags kurz vor 12 Uhr von Gohrisch nach Königstein
gegangen war, hatte am Straßenrande auf einer Bank
einen Mann sitzen sehen, der auf sie einen furchterweckenden
Eindruck gemacht hatte. Er war etwa 35 Jahre, über-
mittelgroß, hatte dunkles Haar, dunklen Schnurrbart, un-
rasiertes Gesicht und war mit langem schwarzen Kock
und Mütze oder eingedrücktem Hute bekleidet gewesen.
Das konnte möglicherweise der Täter gewesen sein.
Anscheinend denselben Menschen hatte gegen 1 Uhr
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Der Lu stm örder Dittrich.
167
ein Gohrischer Gutsbesitzer gesehen. Er batte um Essen
gebettelt und war ihm besonders wegen seiner stechenden
Augen im Gedächtnis geblieben.
Beide, die Frau aus Königstein und der Gutsbesitzer
hatten in der Hand des Unbekannten einen derben Spazier-
stock bemerkt, womit er recht gut der Opitz mehrere
wuchtige Schläge auf den Kopf beigebracht haben konnte.
Dieser Unbekannte wurde alsbald in der Person des
Karusselldrehers Paul Richard Händler ermittelt und fest-
genommen.
Die Erörterungen ergaben, daß Händler, ein herunter-
gekommener, arbeitsscheuer Bummler, sich schon seit Sep-
tember 1905 in der Umgegend von Königstein umhertrieb,
vom Bettel lebte und teils im Freien, teils in Scheunen
oder Ställen nächtigte. Er führte in der Regel einen starken
Stock bei sich und hatte sich besonders dadurch verdächtig
gemacht, daß er am 20. Oktober in der Wohnung eines
Invaliden in Königstein, mit dem er verkehrte, zu dessen
Sohne, der den Stock besichtigen wollte, gesagt hatte:
„Du, den Stock greifst Du mir nicht an, das ist mein
Glücksstock. Mit diesem Stocke gebe ich einer Person eins
auf den Kopf, dann ist sie weg und steht nicht wieder
auf. Ist sie noch nicht ganz weg, so mache ich einen
Kniff mit der Hand, dann ist's alle!“ Dabei hatte er eine
bezeichnende Bewegung nach dem Halse gemacht.
Das war doch gerade, als hätte der Mörder der Frau
Opitz gesprochen, denn anders konnte es bei ihrer Tötung
nicht zugegangen sein: erst ein Schlag auf den Kopf,
und weil sie davon noch nicht ganz weg war, der „Kniff u
mit der Hand um den Hals! Das entsprach genau dem
Obduktionsbefunde, wie er in dem Gutachten der Sach-
verständigen nach der Sektion niedergelegt war.
Dazu kam, daß Händler schon wiederholt Uhren und
Kleider versetzt hatte und daraus kein Hehl machte j
und daß er mit einem Messer renommierte, mit dem er
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168
Brendler.
jeden, der sich ihm widersetzen würde, erstechen wollte.
Bei seiner gerichtlichen Vernehmung bestritt er, die Opitz
ermordet zu haben. Er habe bis zum 15. Oktober in
Rathewalde bei einem Karussellbesitzer gearbeitet, und sei
am 16. Oktober früh über Königstein, wo er den er-
wähnten Invaliden besucht habe, nach Schandau gewandert,
um seine in Hinterhermsdorf wohnende Tante aufzusuchen.
Zwischen Schandau und Hinterhermsdorf habe er im
Freien genächtigt, sei dann am 17. Oktober früh nach
Hinterhermsdorf gegangen, habe aber freilich seine Tante
nicht besucht, sondern sich nach Böhmen gewendet. In
einem böhmischen Orte, dessen Name ihm entfallen sei,
habe er die Nacht vom 17. zum 18. Oktober zugebracht
und sei dann über Rosendorf nach Tetschen gewandert,
um sich dort Arbeit zu suchen. Er habe aber keine ge-
funden und sei deshalb am 19. Oktober wieder nach
Sachsen zurückgekehrt. Einen Stock führe er schon seit
3 bis 4 Wochen nicht mehr. •
Er habe, so erzählte er weiter, im Jahre 1904 von
seiner Mutter 300 Mark erhalten, die nebst einer Geige in
einer Höhle des Bärensteins versteckt seien.
In dieser Höhle, die unter seiner Führung aufgesucht
und genau untersucht wurde, fand sich aber nichts als
eine alte Hacke und zwei alte Kopfkissen. Händler stellte
nunmehr die Ansicht auf, das Geld sei ihm gestohlen
worden.
War dies alles in hohem Grade verdächtig, so er-
klärten doch die beiden oben erwähnten Personen, die
den unheimlichen Menschen um die Zeit, wo der Mord
begangen wurde, in Gohrisch und auf der Landstraße ge-
sehen hatten, auf das bestimmteste, Händler sei mit diesem
Manne nicht identisch. Seine Angaben darüber, wo er sich
am 17. und 18. Oktober aufgebalten haben wollte, ließen
sich nicht widerlegen, wurden vielmehr durch die polizei-
lichen Recherchen zum Teil bestätigt.
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Der Lustmörder Dittricb.
169
Dazu kam, daß Händler, als er am 28. Oktober 1905
aufgegriffen wurde, völlig mittellos war. Wäre er der
Täter gewesen, so würde er sicher von den 100 Mark,
die er der Opitz geraubt hatte, noch etwas gehabt haben.
Endlich wurde noch Folgendes ermittelt. Am 15. Ok-
tober 1 905 batte die Kellnerin in dem Gasthause zur Senn-
hütte in Gohrisch zu Angehör der Gäste erzählt, daß sie
Dienstag, den 17. Oktober mit dem Ein-Uhr-Zuge nach
Dresden abreisen werde und ihre in Gohrisch gemachten
Ersparnisse mitnehme. Dieses Gespräch hatte ein Fremder
im Havelock, der als Gast anwesend war, mit angehört.
Es bestand große Wahrscheinlichkeit, daß dieser Fremde
den Entschluß gefaßt hatte, die Kellnerin zu berauben und
die Opitz, die mit Tasche und Blumenstrauß des Weges kam,
für die Kellnerin gehalten und überfallen hatte.
Dieser Fremde war aber, das stand fest, mit Händler
nicht identisch.
Aus diesen Gründen wurde das Verfahren gegen
Händler eingestellt.
Obwohl Polizei und Gendarmerie ihre Nachforschungen
auf das eifrigste fortsetzten, und obwohl durch die Aus-
setzung einer Belohnung von 1000 Mark für die Er-
mittelung des Täters das Interesse des Publikums an der
dunklen Affaire beständig wach erhalten wurde, gelang
es doch nicht, den Mörder ausfindig zu machen. Zwar
lenkte sich noch einigemal der Verdacht auf eine be-
stimmte Persönlichkeit — sogar der berüchtigte Berliner
Baubmörder Hennig kam in Frage — und wiederholt
schien es, als ob der Mörder gefunden werden sollte, aber
immer wieder erwies sich die Annahme als unbegründet
und die Spur, die so sicher auf den Täter hinzuweisen
schien, als trügerisch.
Im April 1906 ging bei der Polizeidirektion in Dresden
eine Anzeige über einen größeren Einbruchsdiebstahl ein,
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170
Brcndler.
der in der Wohnung eines Kunstmalers ausgeführt worden
war. Bei den Erörterungen wurde ermittelt, daß der mehr-
fach vorbestrafte Lederarbeiter Max Otto Aloisius
Dittrich eine Kiste, die zwei seit dem Diebstahle vermißte
Anzüge enthielt, nach Berlin an den Schneidermeister
Sauter, Sebastianstraße 2, hatte absenden wollen und sie
zu diesem Zwecke nach dem Wettiner Bahnhofe in Dresden
geschafft hatte. Sie war aber nicht befördert worden, weil
Dittrich die Fracht nicht zahlen konnte. Da Dittrich bis
dahin bei seiner Schwester, der Arbeitersehefrau Damaschke
in Dresden, gewohnt hatte, so wurde diese veranlaßt, die
Kiste vom Bahnhofe abzuholen. Dabei erzählte sie dem
mit den Ermittelungen beauftragten Kriminalbeamten
Folgendes:
Etwa Ende Oktober 1905 habe sie bei ihrer Schwester,
der Arbeitersehefrau Bau geb. Dittrich einen auffallend langen
und breiten schwarzen Spitzenschal bemerkt, und da sie
damals in den Zeitungen gelesen habe, daß bei dem an
der Frau Opitz in Gohrisch verübten Morde u. a. ein
solcher Schal geraubt worden sei, so habe sie zu ihrer
Schwester gesagt, daß ihr Bruder Max, von dem die Bau
den Schal geschenkt erhalten hatte, vielleicht gar mit dem
Baubmorde in Verbindung zu bringen sei. Ihre Schwester
habe dem Bruder bei seinem Nachhausekommen davon
Mitteilung gemacht, worauf er sehr ungehalten geworden
sei und den Schal mit [den Worten: „Wenn ihr mir so
etwas zutraut, brauche ich Euch ja nichts mehr mit-
zubringen,“ in den Ofen gesteckt und verbrannt habe.
Zu der Zeit, wo der Mord verübt worden sei, sei ihr
Bruder Max drei Tage lang von Dresden abwesend ge-
wesen. Als er zurückgekommen sei, habe er ein Paar fast
neue Damenschnürstiefel, einen schwarzen Kostümrock
und den Schal sowie einen Karton und eine Handtasche voll
Frauensachen mitgebracht und der Kau geschenkt.
Die Bau mußte das bestätigen und fügte hinzu, der
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Der Lustmörder Dittrieh.
171
Karton habe eine rote und eine schwarze Bluse und ein
schwarzes, anscheinend mit Seide gefüttertes Damenjakett
enthalten. Außerdem habe ihr Bruder damals eine goldene
Damenuhr und einen goldenen Damenring mit kleinem
Steinchen besessen. Er habe erzählt, diese Sachen hätte
ihm sein Freund „Kurt Walter“ gegeben, der sie ur-
sprünglich seiner Geliebten hätte schenken wollen, dann
aber diese Absicht aufgegeben hätte.
Der schwarze Rock sei, als er ihn nach Hause ge-
bracht habe, stark beschmutzt und mit Fichtennadeln be-
hängen gewesen.
Dem erörternden Beamten war es selbstverständlich
sofort klar, daß Dittrieh der lange gesuchte Mörder der
Opitz war, zumal da er sich erinnerte, daß Dittrieh, den
er persönlich kannte, im Jahre 1905 einen grauen Have-
lock getragen hatte, wie er von der Kellnerin in der Senn-
hütte zu Gohrisch bei dem Fremden, der am 15. Oktober
1905 ihre Bemerkung über ihre bevorstehende Abreise mit
angehört hatte, wahrgenommen worden war.
Es wurde sofort auf Dittrieh gefahndet und besonders
die Polizei zu Berlin telegraphisch ersucht, ihn festzunehmen,
falls er sich, wie zu erwarten war, bei dem Schneider-
meister Sauter, an den er die gestohlenen Anzüge hatte
abschicken wollen, einfinden sollte.
Diese Erwartung traf denn auch zu. Dittrieh hatte kein
Geld, um nach Berlin zu fahren, stahl deshalb am 25. April
in Dresden aus dem Erdgeschosse der Dreikönigsschule,
wo die Schüler ihre Räder aufbewahren, ein Fahrrad, und
fuhr auf demselben nach Berlin, wo er am 28. April ver-
haftet und, weil er dem Berliner Polizeipräsidium bereits
als gemeingefährlicher Geisteskranker bekannt war, in die
Irrenanstalt Herzberge eingeliefert wurde.
Von da wurde er am 30. April 1906 an die Polizei-
direktion Dresden ausgeliefert und von dieser am 2. Mai
dem Dresdner Amtsgerichte zugeführt, nachdem er zuvor
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172
Brendler.
an Polizeistellc sich zu folgendem Geständnisse herbei-
gelassen hatte:
„Ich gebe zu, die Frau Opitz ermordet und beraubt
zu haben. Ich fuhr gleich nach der Tat mit der Eisen-
bahn nach Dresden. Die geraubten Sachen schenkte ich
zum Teil meiner Schwester, der Kau, und zwar ein Paar
Schuhe, einen schwarzen Rock, einen seidenen Schal. Den
Ring und die Ohrringe habe ich einige Tage später bei
dem Händler G. auf der Ziegelstraße verkauft. Die Bluse,
die Ledertasche, den Hut, Taschentücher, Handschuh und
verschiedene Kleinigkeiten habe ich noch an demselben
Abende in der Nähe der Karolabrücke in die Elbe ge-
geworfen. Die geraubte Uhr schenkte ich noch an dem-
selben oder am nächsten Tage einem Freudenmädchen auf
der Gerbergasse, bei dem ich zum Zwecke des Geschlechts-
verkehrs war. Das Portemonnaie der Frau Opitz, das
nebst Inhalt in der Ledertasche steckte, habe ich gleich-
falls in die Elbe geworfen, nachdem ich das Geld heraus-
genommen hatte.
Ich gebe weiter zu, etwa im Jahre 1899 in Riesa und
zwar zu der Zeit, als ich drei Tage lang aus dem hiesigen
Irren- und Siechenhause entwichen war, um die Mittags-
zeit unweit der Artilleriekaserne in einem Getreidefelde ein
6 bis 8 Jahre altes Mädchen ermordet zu haben. Es waren
zwei Mädchen, die dort auf einer Wiese Blumen suchten. Eines
derselben lockte ich an mich, nahm unzüchtige Handlungen
an ihm vor und ermordete es dann durch Erdrosseln.“
Die mündlichen Geständnisse erläuterte und ergänzte
Dittrich durch ein längeres Schriftstück, das er im Polizei-
gewahrsam verfaßte und das wegen des Einblickes, den
es in sein Innenleben gestattet, hier vollständig wieder-
gegeben werden soll. Da es auch einen Teil der Unter-
lagen für das unten wiederzugebende ärztliche Gutachten
über Dittrichs Geisteszustand bildet, so erscheint dieses
schriftliche Geständnis für das Verständnis seines Geistes-
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Der Lustmörder Dittrlch.
173
und Seelenzustandes besonders wichtig. Es lautet wörtlich
und unter genauer Wiedergabe der Dittrichschen Ortho-
graphie und Interpunktion:
Dresden, den 1. Mai 1906.
Meine Geständnisse!
I.
Es war im Frühjahr des Jahres 1899, etwa im Mai
als ich aus der Städt. Irren-Anstalt zu Dresden-Löbtauer-
straße entwich.
Kurze Zeit nach Ostern hatte man mich dahin ver-
bracht und sollte ich wegen Geistesgestörtheit aut längere
Zeit darin verweilen. Damals war ich wirklich krank,
daß merkte ich am deutlichsten selbst. Denn mein ganzes
Denken und Trachten gipfelte in Ideen der Unzucht. Täg-
lich und stündlich stand ich am Fenster und beobachtete
das Spiel der zu jener Anstalt gehörenden kleinen Mädchen.
Mit wahrer Gier sehnte ich mich danach mit den Mädchen
spielen, d. h. Unsittlichkeiten treiben zu können. Und
darum flüchtete ich aus jenem Hause. Abends wagte ich
die Flucht und wandte mich dann sogleich nach Riesa.
Meines Glaubens nach war es Montags, als ich in dieser
Stadt umherirrend, nach einer Wiese gelangte, welche an
der Seite eines mäßigen Hügels ansteigend, sich ganz in
der Nähe der dortigen Kasernen, und zwar wenn ich mich
nicht irre an der Rückseite eines Kirchhofes befand. Am
Fuße des Hügels, bez. der Wiese, stand soweit mir er-
innerlich ein Karosse!, sowie einige Schaubuden. Auf der
Wiese bemerkte ich einige, Blumenpflückende kleinere
Mädchen. Ich entsinne mich daß sich eines dieser Mädchen,
welches sich etwas abseits der Anderen befand, immer in
Stellungen gefiel, durch welche mir der Anblick ihres
Geschlechts gewährt wurde. Dabei lachte mich die Kleine
immerzu an. Jetzt freilich weis und glaube ich, daß dies
Ihrerseits ohne Absicht geschah. Doch in meinem da-
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174
BrendJer.
maligen Zustande dachte ich das Gegenteil und da meine
Gier nach sochen Dingen sich richtete wandte ich mich
ohne Zögern zu ihr.
Durch welcherlei Versprechungen oder Angaben ich
die Kleine bewog, mir zu folgen, weis ich jetzt nicht mehr.
Genug, wir gingen in ein nahes Getreidefeld und dort,
das weis ich noch bestimmt, fiel ich ich ganz plötzlich und
voller Gier über die Kleine her. Wie es dann weiter
kam und warum und wodurch ich das Kind zum Tode
brachte, weis ich mir nicht genau zu entsinnen. Nur
glaube ich mich zu entsinnen, daß sich die Kleine wehrte
und dabei schrie. Aus diesem Grunde werde ich wohl
in meiner Raserei so unmenschlich mit dem Kinde um-
gegangen sein. Nach Verübung der Tat kehrte ich nach
Dresden zurück, wo ich am folgenden Tage mich im
Stadt Irren-Hause meldete. Allhier erfuhr ich nun aus den
Zeitungen, wie übel ich mit dem Mädchen verfahren war
und daß ich ihr sogar Gras und Erde in den Mund ge-
stopft hatte. — Jetzt läßt es mir keine Ruhe mehr und
gestehe ich die Tat der Wahrheit gemäß.
Max, Otto Dittrich.
Dresden, den 1. Mai 1906.
II.
Geständnis zum Falle Grasnick, Berlin-Eichwalde.
Am 14./1. oder 2. 1900 wurde ich aus der Irren- An-
stalt Waldheim entlassen.
Im März desselben Jahres, bis dahin hatte ich in
Adlershof bei Berlin gearbeitet, wurde ich durch den
dortigen Ortsvorstand , von da und aus der Umgebung
ausgewiesen. War ich bis dahin so ziemlich ruhig ge-
wesen, so stieß dieses Ereignis meine ganze Fassung und
und äußere Sicherheit um. Umsonst versuchte ich mich
noch zu halten. All’ mein Bemühen um Genehmigung
des weiteren Aufenthaltes in Adlershof oder Berlin war
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Der Lustmörder Dittrich.
175
erfolglos. Endlich, da ich mich immer noch nicht entfernte,
wurde ich polizeilich verfolgt. Nun mußte ich weichen.
Hungernd und obdachlos irrte ich in Berlin und in
der Ümgebung umher, dabei steigerte sich meine Erregung
immer mehr. — So kam ich dann auch in die Nähe
Eichwald’s. An welchem Tage und zu welcher Zeit dies
war, weis ich nicht mehr. Damals stand das Eichwald
von heute noch nicht. Vielmehr dehnten sich in der Ge-
gend der Bahnstrecke in der Richtung nach Beuthen, große
Strecken mit Gebüsch und Gestrüpp. Darin irrte ich um-
her. Von hier aus sah ich plötzlich einige Schritte ent-
fernt von mir, eine Frau, welche einen Handwagen führte.
Was sich auf diesem Wagen befand, weis ich nicht
mehr. Nur soviel weis ich mich zu erinnern, daß ich
meiner plötzlich erwachten Leidenschaft nachgebend, mich
ihr schnell näherte und sie zum Beischlafe aufforderte. Nach
anfänglichem Sträuben willigte sie ein und bog mit dem
Wagen in einen Seitenpfad, des oben erwähnten, auch
längs der Chaussee hinlaufenden Gehölzes ein. —
An einem passenden Platze hielt sie selbst an und
bot mir Kaffe und Brod zum Essen, wobei sie ein Messer
aus der Tasche nahm und damit das Brod zu schneiden
begann. Als sie damit fertig war, hob sie ihre Röcke
etwas hoch und setzte sich so auf den Boden, daß ich
ihre, mit den Strümpfen bekleidete Beine bis über die Knie
zu sehen bekam. Hatte ich bis dahin in gieriger Er-
wartung zitternd, mit geöffneter Hose und entblößtem
Gliede dagestanden, so fuhr ich jetzt hastig mit den
Händen unter die Kleider um sie vollends zu entblößen
und den Beischlaf. Ich hätte mich dabei wahrscheinlich
beruhigt, denn bis dahin wußte ich noch, was ich wollte.
Da geschah etwas Unerwartetes. Sobald die Frau sah daß
ich ernstlich mit ihr beginnen wollte und die Kleider hob,
stieß sie mit dem Taschenmesser, welches sie noch immer
in Händen hielt, nach mir und schlitzte mir vorn an der
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176
Brendler.
Brust das Jakett auf. Jetzt verlor ich die Überlegung und
mit Gewalt den Beischlaf erzwingend wollend, begann ich mit
ihr zu ringen. Ich entsinne mich noch, daß mir die Frau
nach dem Gliede trachtete und ich ihr das Messer entwand.
Wie es dann weiter ging kann ich nicht genau sagen,
nur erschrack ich furchtbar, als ich plötzlich Blut fließen
sah. Alsdann wurde ich gewahr, daß ich selbst kaum
Atem holen konnte, weil die Frau mit beiden Händen an
meinem Halse hing. Ich machte mich los und am Boden
ein Geldtaschen gewahrend raffte ich dieses auf und ent-
floh durch das Dickicht. Nicht weit davon fiel ich nieder
und da muß ich eine ganze Zeit gelegen haben, denn als
ich erwachte war es Nacht. Ich habe mich dann irgendwo
gereinigt und da ich Geld im Portemonnaie fand, bin ich
von der nächsten Station aus nach Berlin gefahren. Wie-
viel es Geld war, weis ich nicht mehr. Zum Beischlaf
ist es hier nicht gekommen.
Der Wahrheit gemäß niedergeschrieben von
Max, Otto Dittrich !
Dresden, den 1. Mai 1906.
III.
Zum Falle Berlin-Nähe-Eichwald! Herbst 1905.
Es war, wie oben angedeutet im Herbst vorigen Jahres
als ich mich wiederum in Berlin aufhielt. Erst glückte
es mir mit der Arbeit, bis es bekannt wurde, daß ich erst
kurz zuvor aus dem Irren-Hause entlassen worden war.
Da war es freilich sofort wieder alle und jede weitere Be-
mühung war fruchtlos. Durch meine vergeblichen Ver-
suche kam es wieder so weit, daß ich ziel- und zwecklos
in Berlin herumwanderte. Dabei hatte ich nichts zu essen
und wurde von Woche zu Woche mehr Miete schuldig.
So wurde ich denn immer erregter und bin ich einmal
soweit, dann ist es zu Ende mit mir. — So kam ich denn
wiederum in der Nähe von Eichwald ohne ein besonderes
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Der Lustmörder Dittrich.
177
Ziel zu verfolgen. — Da sah ich wiederum eine Frau
allein im Walde gehen. Sie trug einen Tragkorb und kam
gerade auf mich zu. Zur Zeit hatte ich kurz zuvor
spielende Mädchen, beobachtet und mich geschlechtlich
stark gereizt und aufgeregt. Ohne mich darum weiter zu
besinnen, stürzte ich auf die Frau los, zuvor hatte ich
mein Glied entblößt, und als sie ihre Einwilligung zum
Beischlafe verweigerte, habe ich sie gefaßt und zu Boden
geworfen. Dabei entfiel dem Korbe ein Tischmesser mit
schwarzem Holzgriff, welches die Frau ergriff, wahrschein-
lich um sich damit zu verteidigen. In diesem Falle weis
ich wenig mehr zu sagen, was weiter geschah. Ich merkte
auch nicht eher daß ich aus einer tiefen Ilandwunde
blutete als bis ich mich erhob und da ebenfalls erkannte
daß ich einen neuen Mord begangen hatte. Ich hatte der
Frau im Handgemenge den Hals durchschnitten. Als ich
dies klar erkannte lief ich eilends davon. Erst als ich eine
Strecke weit gelaufen war, wurde ich gewahr daß ich
das blutige Messer noch trug und an der Hand selbst
stark blutete. An einem nahen Bache habe ich alsdann
das Blut etwas gestillt und mich gewaschen. Das Messer
habe ich irgendwo hin geschleudert, wohin, weis ich nicht
mehr. Nach einigen Tagen wurde mir infolge des Blut-
verlustes und der gehabten Aufregung so unwohl daß ich
auf der Straße umfiel und nach einer Unfallstation ge-
bracht wurde, wo ich richtig verbunden wurde. Die Narbe
der Wunde trage ich an der rechten Hand und dieselbe
schmerzt mich noch heute.
Der Wahrheit gemäß unterzeichnet dieß
Max, Otto Dittrich.
Dresden, den 1. Mai 1906.
IV.
Die Fälle im Jahre 1900, in Österreich betreffend!
Im Frühjahr 1900 wurde ich abermals von Leitmeritz-
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178
Brendler.
Böhmen aus, per Schub nach Bodenbach und von da nach
Dresden gebracht. Die hiesige Polizeibehörde internierte
mich, da es sich bei mir, um abermalige, erneute Sittlichkeits-
delikte handelte, wiederum in dem Stadt Irren-Siechenhaus.
Nach kurzer Zeit gelang es mir von da zu entweichen
und wandte ich mich sofort nach Böhmen-Österreich. Ich
schlug dabei die Richtung Dresden, Bodenbach, Prag,
Iglau, Brünn, Wien, Graz, Laibach, Triest, Fiume und
wiederum Triest ein. —
Schon der Umstand, daß man mich in Leitmeritz ohne
weitere Untersuchung wieder nach Dresden zurücksandte
spricht dafür, in welchem Zustande ich mich damals be-
fand. Der Aufenthalt im Irren-Hause hatte darin nichts ge-
bessert, mein Ideen- und Gedankengang war vielmehr
schlimmer geworden. Mit Aufbietung meiner ganzen geistigen
Kräfte, war mir die Flucht geglückt und nun eilte ich,
gierig nach Mädchen und Frauenzimmern ausschauend und
ohne mich weiter in Dresden aufzuhalten über die Grenze.
Besondere Begierde und Reiz erweckten damals junge
Mädchen in kurzen Kleidern und schwangere, besonders
hochschwangere Mädchen und Frauen in mir. So eilte
ich denn die Straßen Böhmens dahin, überall suchend und
spähend, ob ich nicht eine einzelne Frau oder Mädchen
antreffen und zu meinen Zwecken gebrauchen könne. Ich
betone von vorn herein, daß es auch dazumal niemals meine
Absicht war den betreffenden Personen, zugleich bei Be-
friedigung meiner Lust auch das Leben zu nehmen. Nein,
es sind dann meist noch andere Umstände und Sachen
dazu gekommen, welche es veranlaßten, daß ich zum Mörder
wurde. Noch mehr Fälle als die unten angeführten, könnte
ich mit aufzählen, wo ich ebenfalls stark erregt und ge-
schlechtlich gereizt, alleinkomraende Mädchen und Frauen
zur Duldung des Beischlafes zwang, wobei es meist gar
nicht dazu kam, da mich im Augenblicke der höchsten
Erregung meist die Kraft verließ und ich dann ermüdet
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Der Lustmörder Dittrich.
179
und matt neben meinen Opfern hinsank. Kleine, also
Schulmädchen bewog ich durch Geschenke, oder zwang sie
durch Drohungen zur Duldung und zum Mitmachen von
unzüchtigen Handlungen, an denen ich mich mehr ergötzte
als am Beischlafe mit Erwachsenen. An Geld fehlte es
mir damals nicht, da ich als Katholick mir solches von der
Geistlichkeit leicht zu beschaffen wußte. Bei solchen Fällen
habe ich nie daran gedacht, die Betreffenden an ihrem
Leben zu schädigen, sondern ich habe mich danach durch
schnelle Entfernung vom Tatorte gesichert. Hierbei will
ich noch erwähnen, daß das selbstische Hingeben der so-
genannten Freimädchen mich niemals reizen konnte.
Was mich reizte, war Gewalt ; das heißt damals, jetzt
freilich kann ich nicht begreifen, warum ich früher so
schrecklich gehaust habe und bin ich in Erinnerung da-
ran, in der Letztzeit viel mit Selbstmordgedanken umge-
gangen. Lange Zeit trug ich einen Brief bei mir, in wel-
chem ich alle diese Geständnisse bereits niedergeschrieben
hatte. Diesen wollte ich meiner Schwester übergeben und
mich dann erschießen. Zu diesem Zwecke führte ich meist
einen geladenen Revolver bei mir, der mir im Dezember
1906 von der hiesigen Crimminal abgenommen wurde.
Doch nun will ich zu den einzelnen Fällen übergehen.
Darüber bemerke ich noch. — Es ist mir nicht mehr alles
so genau erinnerlich, da es ja schon lange her ist, ich'bin
aber bereit, jede Aussage, deren ich mich noch immer ent-
sinnen werde, zu machen; zumal wenn man mir den Ver-
lauf der einzelnen Fälle, an der Hand amtlicher Aufzeich-
nungen, Vorhalten würde.
Der erste dieser Fälle liegt, soweit meine Erinnerung
reicht, örtlicberseits hinter Prag und zwar war es dem An-
scheine nach eine Handels oder Botenfrau, welche ich des
Abends auf einsamer Landstraße, in der Nähe einer Station
traf. Diese Frau ging auf meine Aufforderung auch mit
in den Wald, aber dort zog sie ein kleines Messer,
Der Pitaval der Gegenwart IV. 13
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180
Brendler.
woher, weis ich nicht und begann damit auf mich los-
zustechen.
Ob ich ihr dann das Messer entwunden habe und es
gegen sie anwandte, oder ob ich sie auf eine andere Art
tötete ist mir jetzt nicht mehr bewußt. Nur das weis ich
noch, das in dem Tragkorbe, welchen sie bei sich führte,
außer Eßwaren, auch Geld war, was ich alles an mich
nahm. Wie viel es war, kann ich nicht mehr sagen.
Der zweite Fall ist mir nur noch in seiner Ausführung
etwas erinnerlich. — Ich begegnete damals einer Frau, welche
einen Tragkorb trug. Auf meine Aufforderung zum Beischlaf
schlug sie unter lautem Schreien mit einem Stocke, welchen
sie trug, auf mich ein. War ich schon erst in Aufregung, so
nahm mir dies vollends alle Besinnung und ich stürzte mich
auf sie los. — Ich will hier hinzufügen, daß bei derartigen
Anlässen, d. h. sobald ich auf einsamen Wege mit einer
Frau zusammentraf und diese schon von weitem erblickte,
mich große Aufregung ergriff. Der Schlag meines Herzens
wurde dann so stark, daß ich kaum atmen konnte, wobei
ich dann nicht imstande war etwas klar zu überdenken.
Dieser Zustand verbunden mit starkem, augenblicklichen
Schweiß und brennender Hitze dauerte dann gewöhnlich
eine ganze Weile und erreichte seinen Höhepunkt bei Aus-
übung der Tat. Besonders schlimm, bis zur momentanen
Sinnlosigkeit wurde dieser Zustand, wenn mir irgend-
welcher Widerstand entgegengesetzt wurde. So war es
auch hier.
Wie ich schon mitteilte, schlug die Frau mit einem
Stocke auf mich los und ich stürzte mich dann auf sie.
Wie es weiter kam, das weis ich nicht mehr. Als ich
wieder zu rechtem Verständnis gelangte lag ich unweit
eines kleinen Baches und war ziemlich voll frischen Blutes,
ebenso hörte ich in der Nähe Leute sprechen und rufen.
Da mir die Erinnerung kam, so erhob ich mich und reinigte
mich in dem nahen Wasser, worauf ich dann meinen Weg
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Der Lustmörder Dittrich.
181
fortsetzte. Am nächsten oder zweiten Tage traf ich mit
einem Handwerksburschen zusammen, welcher mir erzählte,
er sei dabei gewesen, als sie eine Frau mit durchschnit-
tenem Halse gefunden hätten. Neben ihr habe ein kleines
Schwein gelegen, nebst einem Tragkorb. Ich vermutete
damals gleich, daß es mein Opfer gewesen war.
Der dritte Fall geschah in der Nähe Wiens," wo ich
des Abends eine ältere Frau überfiel und auch tötete. Wie
und auf welche Weise dies geschah, weis ich nicht mehr
zu sagen. Auch nicht welchen Datum es war.
Der vierte Fall passierte auf einem Berge, wo ich in
einem einsamen Hause eine einzelne Frau, welche ich vor-
her auf dem Felde beobachtet hatte, überfiel und soviel
ich mich entsinne auch tötete, das Wie ist mir auch hier
entfallen.
Der fünfte und letzte Fall ist der von Rudolfswert,
welcher mir zu damaliger Zeit vorgehalten wurde. Auch
dies bin ich gewesen. Doch hier weis ich mich auf nichts
mehr zu besinnen. Vielleicht entsinne ich mich noch auf
Verschiedenes, wenn mir die Sache vorgehalten wird.
Der Wahrheit gemäß geschrieben.
Max, Otto Dittrich.
N. B. Im Anschluß an diese Schrift wage ich es
mich bittend an die Güte des Herrn Regierungsrates und
weiterer Vorgestellter zu wenden.
Da ich weiß daß auf den Fall Graßnick eine Beloh-
nung zur Ermittelung des Täters ausgesetzt ist und ich doch
alles selbst gestehe, so bitte ich herzliebst von diesem Gelde,
einen Teil der Frau Thiele, Altwarenhändlerin, Stärkengasse 1 )
1) Der Thiele hatte er im April 1906 vorgespicgelt, er sei
Witwer und wolle sie heiraten, hatte mit ihr acht Tage lang ein
Verhältnis der allerintimsten Art unterhalten und sie schließlich um
einen größeren Posten Wäsche betrogen.
13*
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182
Brendler.
zuwenden zu wollen, da selbige sehr arm ist und von mir
schwer geschädigt wurde.
Herzlichst bittend unterzeichnet
Max, Otto Dittricb !
Aufgefordert, eingehendere Angaben über die Ermor-
dung der Frau Opitz zu machen, erklärte Dittrich an
Polizeistelle noch:
„Ich besinne mich, daß ich damals tagelang zweck- und
ziellos umhergelaufen bin. Der Grund meiner Aufregung
war der, daß ich keine Arbeit hatte und meine Schwester,
die verehel. Kau, bei der ich damals wohnte, mir deshalb
Vorwürfe machte und mich drängte, Geld für Wohnung
und Beköstigung zu schaffen. Wo ich damals in den drei
Tagen, die ich von Dresden fortgewesen sein soll, überall
gewesen bin, kann ich nicht sagen. Um den Anschein zu
erwecken, als wollte ich auf Reisen geben, nahm ich einen
selbstgefertigten Pappkoffer mit, worin ich einige Kleidungs-
und Wäschestücke verpackt batte. Ich besinne mich, daß
ich bei dem Umherirren nach Königstein gekommen bin.
Es ist das am 2. Tage gewesen. Gegen die Mittagszeit
bin ich am Bahnhofe Königstein vorüber die Straße,
die an der Elbe hinaus aufwärts führt, 'gegangen. Daß
man auf dieser Straße nach Gohrisch gelangt, wußte ich
nicht. Ich besinne mich aber, daß die Straße durch den
Wald anstieg und auf der rechten Seite — in der Rich-
tung von Königstein nach Gohrisch — durch ein Geländer
von eisernen Stangen geschützt war. An der Straße be-
findet sich eine Steinbank. Auf dieser habe ich eine
Zeitlang geruht, da ich müde war. Dann bin ich weiter
gegangen. Weiter aufwärts befindet sich links, abseits vom
Wege, noch eine Bank. Der Wald steigt auf dieser Seite
an und die Bank liegt etwas höher als die Straße. Auf
dieser Bank habe ich auch gesessen. Hier habe ich
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Der Lustmörder Dittrich.
183
meinen Revolver geladen. Ich wollte mich erschießen. In
dieser Absicht war ich von Hause fortgegangen.
Die Bank habe ich dann wieder verlassen und bin
auf die Fahrstraße hinuntergestiegen. Wie ich wieder auf
die Fahrstraße kam, sah ich ich die Frau Opitz wenige
Schritte von mir entfernt auf der Straße abwärts kommen.
Ich habe mich sofort auf sie gestürzt, ohne mich vorher
zu bedenken, ob Leute in der Nähe waren oder nicht. Ich
würde es auch getan haben, wenn Leute in der Nähe ge-
wesen wären. Wie ich dazu gekommen bin, weiß ich
selbst nicht Es kommt immer bei mir so plötzlich. Ich
kann mich dann nicht halten. Die Absicht, die Opitz zu
berauben, hatte ich nicht, Ich war lediglich geschlechtlich
erregt. Die Opitz hat sich stark gewehrt. Sie hat mir
den Kragen, die Kravatte und das Hemd dabei zerrissen.
Mir ist auch so, als habe sie geschrieen. Wie es dann
weiter gekommen ist kann ich nicht mehr sagen. Soweit
ich mich besinne, sind wir zusammen die Böschung hinunter-
gefallen. Auf welche Weise ich die Opitz getötet habe,
ist mir nicht] erinnerlich. Geschossen habe ich nicht
nach ihr; einen Stock habe ich auch nicht bei mir ge-
tragen. Ich besinne mich noch, daß ich unten vom Walde
aus Leute auf der Straße Vorbeigehen sah. Ob ich die
Opitz lebend oder bereits als Leiche fort in den Wald ge-
schafft habe, kann ich nicht sagen. Mir fehlt hierüber voll-
ständig die Erinnerung. Geschlechtlich gebraucht
habe ich sie nicht. Das kann ich gar nicht. Denn
wenn es zur Ausführung des Aktes kommen soll, bin ich
zu entkräftet, um den Geschlechtsakt auszuführen. Das
ist mir immer so gegangen.
Ich bin nach der Tat direkt nach Königstein hinunter-
gegangen und hatte Mühe, den 1 Uhr-Zug noch zu er-
reichen. Ich bin am 15. Oktober, dem Sonntage vor dem
Morde, in keinem Dorfe in der Nähe von Königstein ge-
wesen, kann deshalb auch nicht mit dem Unbekannten
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Brendler.
identisch sein, der am Sonntag in der Sennhütte in Goh-
risch die Bemerkung der Kellnerin über ihre demnäehstige
Abreise mit angehört hat.“
Auf Vorhalten seiner schriftlichen Geständnisse hat
Dittrich dann erklärt:
„Ich bekenne mich zu diesen Geständnissen und halte
alles aufrecht, was ich angegeben habe. Meine Angaben
entsprechen allenthalben der Wahrheit“
Zu Anlage III, den Mord in der Nähe Eichwalds im
Herbste 1905 betr., bemerkte er:
„Dieser Mord ist von mir in der Nähe der Stelle be-
gangen worden, wo ich im Jahre 1900 die Frau ermordet
hatte. Nur lag der Tatort vom Jahre 1900 links, der-
jenige vom Jahre 1905 rechts der Eisenbahn in der Rich-
tung von Berlin her.“
Bei seiner am 3. Mai 1900 vor dem Amtsgerichte
Dresden erfolgten Vernehmung erklärte er wörtlich:
„Ich bekenne mich schuldig, seit dem Jahre 1S99 bis
zum Oktober 1905 ein Kind und neun erwachsene weib-
liche Personen getötet zu haben, während ich mich in
hoher geschlechtlicher Erregung befand und meinen Ge-
schlechtstrieb durch den geschlechtlichen Verkehr zu be-
friedigen suchte. In solchen Zuständen bin ich meines
freien Willens nicht mächtig. Meine vor der Polizeibehörde
abgelegten Geständnisse entsprechen der Wahrheit. Ich
habe gesagt, was ich von den einzelnen Vorfällen noch
wußte.
Die Reihenfolge, in der ich die 10 Menschen getötet
habe, ist folgende:
1899 ein Kind in Riesa,
1900 bei Berlin eine Frau,
vom Sommer bis zum Oktober desselben Jahres in
Österreich sechs Frauenspersonen,
1905 wieder bei Berlin eine Frau und
am 17. Oktober 1905 die Opitz.“
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Der Lustmörder Dittrich,
185
Bezüglich des Mordes an der Opitz hob er besonders
hervor, daß er zwar zugeben müsse, daß ihr Tod infolge
seiner Gewalttätigkeit, namentlich des Würgens am Halse
eingetreten sein könne, aber bestreite, diesen Erfolg be-
absichtigt zu haben. Er habe auch nicht an die Möglich-
keit gedacht, daß die Frau durch seine Gewaltanwendung
getötet werden könnte, obgleich er jetzt wohl wisse, daß
er auf gleiche oder ähnliche Weise schon andere Frauens-
personen ums Leben gebracht habe.
Am 4. Mai wiederholte er seine Geständnisse vor dem
Staatsanwalte, fügte erklärend hinzu, er habe seine Schand-
taten unter dem Einflüsse von Zwangsideen begangen, und
sprach die Hoffnung aus, er werde nicht zum Tode, son-
dern nur zu Zuchthausstrafe verurteilt werden, um seine
Verbrechen sühnen zu können.
Am 9. Mai richtete er aus dem Gefängnisse ein
Schreiben an den Ersten Staatsanwalt, worin er ausführt,
er habe seine letzten Straftaten, den Einbruchsdiebstahl bei
dem Maler und den Diebstahl des Fahrrades in der Drei-
königsschule, nur begangen in der Absicht, „endlich ein-
mal zur Aburteilung zu kommen, und somit mit Sicherheit
dem Irrenhause zu entgehen, da er der ganzen Zeremonie
des Gesund-Erklärens nicht traute.“ Er fährt fort : „Zudem
wollte ich einige Zeit verschwinden, um womöglich den
Fall Opitz, der mir keine Ruhe mehr ließ, in etwas zu
sühnen. — Dies soll mir nun anscheinend wieder nicht
gelingen, denn abermals zweifelt man an meiner geistigen
Urteilsfähigkeit. — Herzlichst bitte ich darum, Ew. Hoch-
wohlgeboren wollen nicht an mir zweifeln, mich nicht
wieder geistig prüfen lassen, sondern dafür sorgen, daß ich
zur Aburteilung gelangen möchte. Hätten Ew. Hoch-
wohlgeboren nur geringe Ahnung davon, wie es in solchen
Häusern zugeht, was ich während meiner öfteren Inter-
nierung in Waldheim und im Siechenhaus mit ansehen
und durchmachen mußte Sie würden mein Grausen davor,
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186
Brendler.
in völlig geistiger Gesundheit wiederum im Irrenhause
untergebracht zu werden, völlig erklärlich finden. Lieber
das Schlimmste, ja sogar den Tod, als wie diese Zukunft.“
Zum Verständnisse dieses Schreibens ist es erforder-
lich, daß wir einen Blick auf Dittrichs Vergangenheit
werfen.
Er ist am 12. September 1872 in Dresden geboren.
Sein Vater litt an Delirium tremens, seine Mutter an mul-
tipler Gehirn- und Rückenmarkssklerose. Eine seiner
Schwestern war früher Prostituierte, die andere hat in der
Jugend Krämpfe gehabt, ist später auf Abwege geraten
und in einem katholischen Rettungshause untergebracht
gewesen. Er selbst fand nach dem frühen Tode seiner
Eltern in einem Dresdner Waisenhause Aufnahme. Hier
war 'er vielen Versuchungen von Seiten anderer nichts-
nutziger Knaben ausgesetzt, infolge seiner Naschhaftigkeit
führte er schon damals kleinere Diebstähle aus. Durch
einen Mitschüler ließ er sich zur Masturbation, ja sogar
zur Sodomie und zur Bestialität (Gebrauch einer Ziege)
verleiten. Nach der Schulzeit lernte er ein halbes Jahr
als Lithograph, blieb aber nicht bei diesem Berufe, sondern
arbeitete in Maschinenfabriken oder trieb Straßenhandel
mit Obst und Südfrüchten. 1887 wurde er zum ersten
Male wegen mehrerer Diebstähle zu zwei Wochen Gefängnis
verurteilt; es folgte im Jahre 1889 eine sechsmonatige Ge-
fängnisstrafe wegen Vornahme unzüchtiger Handlungen an
einem zehnjährigen Mädchen, weiter nach einigen gering-
fügigen Verurteilungen wegen unbefugten Ausspielens und
wegen Betteins, 1 892 eine Gefängnisstrafe von fünf Monaten
wegen Diebstahls und Unterschlagung und in demselben
Jahre eine weitere Gefängnisstrafe von drei Monaten und
zwei Tagen wegen Unterschlagung und Vergehens nach
§ 286 StGBs. Endlich wurde er im Jahre 1893 wegen
schweren im wiederholten Rückfalle verübten Diebstahls in
fünf Fällen zu 5 Jahren 6 Monaten Zuchthaus, lOjäh-
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Der Lustmörder Dittrich.
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rigem Ehrverlust und Zulässigkeit der Polizeiaufsicht ver-
urteilt. Diese Strafe verbüßte er bis zum 25. Oktober 1898
im Zuchthause zu Waldheim. Während der letzten beiden
Jahre seiner Strafhaft klagte er über Schwindelanfälle,
schien gleichzeitig Gesichtserschemungen und Verfolgungs-
ideen zu haben und spielte sich als Erfinder eines lenk-
baren Luftschiffs auf.
Fünf Tage nach seiner Entlassung aus dem Zucht-
hause, am 1. November 1898, versuchte Dittrich in Dres-
den eine schwangere Frau, die er auf der Straße getroffen
und der er in geschlechtlicher Erregung bis in ihre Woh-
nung in Löbtau gefolgt war, zu notzüchtigen. Er faßte
sie mit beiden Händen, warf sie zu Boden, würgte sie,
versetzte ihr mehrere Schläge mit der Faust auf den Kopf,
vermochte aber nicht, das beabsichtigte Verbrechen zu
vollenden, denn es gelang der Frau, sich von dem Un-
holde zu befreien, ans Fenster zu eilen und nach Hilfe
zu rufen. Dittrich ergriff die Flucht, wurde aber auf der
Straße eingeholt und festgenommen. Er suchte seine Tat
damit zu entschuldigen, daß er schon seit Jahren Onanist
sei und an geschlechtlichen Anfällen leide, während deren
er mehr einem Stück Vieh gleiche und alle Vernunft und
Selbstbeherrschung verliere. Dann steige ihm das Blut zu
Kopfe und er wisse nicht, was er tue. Er wurde ange-
klagt, in der Hauptverhandlung vor dem Dresdener Schwur-
gerichte am 10. Februar 1899 aber nicht verurteilt, sondern
zur Beobachtung seines Geisteszustandes der Irrenanstalt
Waldheim überwiesen, wo er vom 18. Februar bis 30. März
1899 verblieb. Hier trat bei ihm ein vollständiges Wahn-
system mit Größen- und Verfolgungsideen zutage. Er ent-
warf Zeichnungen von außerordentlich komplizierten Appa-
raten, war trotz seiner mangelhaften Kenntnisse in Physik
und Chemie, die nicht über die Anfangsgründe hinaus-
ragten, von deren Vortrefflichkeit und Ausführbarkeit über-
zeugt, wollte seine Erfindung dem heiligen Vater zur Ver-
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Brendler.
fdgung stellen und fürchtete, um die Früchte seiner Arbeit
von ihm feindseligen, geheimnisvollen Mächten gebracht zu
werden. Das Gutachten des Irrenarztes ging dahin, daß
er an einer Geisteskrankheit, die offenbar schon seit Jahren
bestehe, leide und somit zur Zeit der strafbaren Handlung
sich in einem Zustande geistiger Unfreiheit befunden habe.
Auf Grund dieses Gutachtens wurde das Verfahren ein-
gestellt und Dittrich am 15. April 1899 dem Dresdner
Irren- und Siechenhause überwiesen, aus dem er am
23. Mai 1899 entwich, um am 25. desselben Monats frei-
willig zurückzukehren. In diese Zeit fällt der Lustmord
an dem sechsjährigen Schulmädchen Schönherr in Riesa,
dessen Dittrich sich in seinen schriftlichen Geständnissen
schuldig bekennt. Auch in der Dresdner Irrenanstalt hing
er' an seinem Erfindungsruhme unerschütterlich fest und
wurde schließlich wegen der Schwierigkeit seiner Ver-
pflegung am 10. Juli 1899 in die Irrenanstalt Waldheim
versetzt. Hier schien er von seinen falschen Vorstellungen
frei zu sein und wurde daher, da er Krankheitseinsicht
zeigte und sich gut führte, am 15. Januar 1900 unter Aus-
händigung einer Geldunterstützung entlassen. Er handelte
nun einige Zeit in Dresden auf der Straße und in Gast-
wirtschaften mit Südfrüchten und war weiterhin in Fabriken
in Dresden und Berlin tätig. In diese Zeit fällt die Er-
mordung der Graßnick in der Umgebung von Berlin, zu
vergl. seine schriftlichen Geständnisse unter Nr. II.
Anfang April wurde er ruhelos und begab sich auf
die Wanderung nach Österreich.
Am 17. April 1900 hielt er in der Nähe von Petrovitz
in Böhmen ein etwa 16 Jahre altes Mädchen an und for-
derte es unter Bedrohung mit einem Küchenmesser zum
Beischlaf auf; als das Mädchen sich weigerte, warf er es
zu Boden, würgte es, verstopfte ihm mit einem Tuche den
Mund, band ihm die Hände auf dem Rücken zusammen,
hob ihm die Röcke auf und versuchte dreimal binterein-
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Der Lustmördor Dittrich.
189
ander den Geschlechtsakt auszuüben. Nachdem er aber
erkannt hatte, daß er infolge eingetretener physischer Un-
fähigkeit seinen Plan nicht ausführen könne, teilte er dies
dem Mädchen mit, entknebelte und entfesselte es, reinigte es
sogar und entfernte sich schließlich, nachdem er es gebeten
hatte, über den Vorfall zu schweigen. Als er bald darauf
verhaftet wurde, gab er an, daß er unter dem Einflüsse
eines triebartigen Zwanges gebandelt habe, dem er, ohne
nachzudenken und zu überlegen, sofort nachgeben müsse.
Einige Nächte nach der Tat war er ängstlich erregt, sprach
viel von seinen Plänen und Erfindungen und wurde bei
Widerspruch ausfällig und heftig. Das K. K. Kreisgericht
zu Leitmeritz stellte, nachdem die Gerichtsärzte Dittrich
für unzurechnungsfähig erklärt hatten, das Verfahren ein.
Da er gleichzeitig als gefährlich bezeichnet wurde, so
wurde er am 13. Mai 1900 abermals dem Dresdner Irren-
und Siechenhause zugeführt. Dort wollte er sich seiner
Tat nicht erinnern können und erst zur Besinnung ge-
kommen sein, als er merkte, daß das von ihm geknebelte
Mädchen zu ersticken drohte. Von seinen Erfindungen
behauptete er vollkommen abgekommen zu sein. Am
13. Juni 1900 entwich er mittels der Anstaltsschlüssel, die
er einem Wärter nachts unter dem Kopfkissen hervor-
gezogen hatte.
Lange Zeit hörte man nichts von ihm, bis am 22. Sep-
tember 1900 die Dresdner Polizeidirektion von Triest aus
benachrichtigt wurde, daß Dittrich sich dort wegen Dieb-
stahls und unter dem Verdachte des vollendeten Mordes
an mehreren Frauenspersonen in der Umgebung von Prag,
Wien, Rudolfswerth und Fiume in Untersuchungshaft be-
finde. Zu einer Aburteilung kam es auch in diesen Fällen
nicht, weil Dittrich nach dem Gutachten der dortigen Ge-
richtsärzte an Zwangsideen, an sexueller Perversion und
an primärer Verrücktheit litt.
Als er am 29. Oktober 1900 wiederum dem Dresdner
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190
Brendler.
Irren- und Siechenhause überwiesen wurde, verhielt er sich
zunächst gegen Unterhaltungen ablehnend, wurde aber dann
zugänglich und erzählte auf Vorhalt, daß er in Österreich
ein Sittlich keits verbrechen an einem 11jährigen Kinde be-
gangen habe; er sei, als das Kind sich bückte, durch den
Anblick seiner Geschlechtsteile in solche Aufregung ge-
raten, daß er jede Herrschaft über sich verloren, das Kind
geknebelt und gefesselt und zu notzüchtigen versucht habe.
Bevor er dazu gekommen sei, habe ihn die Aufregung
verlassen und er sei seiner Wege gegangen.
Dagegen bestritt er auf das Bestimmteste, jemanden
getötet zu haben; wenn ihm aus seiner Erinnerung eine
Spanne Zeit von 3 Tagen, während deren er sich in einem
schlafähnlichen Zustande befunden haben müsse, völlig
geschwunden sei, so glaube er doch auf keinen Fall in
dieser Zeit einen Mord verübt zu haben. In der Anstalt
beschäftigte er sich wieder mit Plänen für ein Untersee-
boot, dessen Konstruktion ihm seiner Meinung nach ge-
glückt war ; auch wollte er seine Kräfte in den Dienst des
Papstes und der katholischen Kirche stellen, die überall
verfolgt und unterdrückt würde. Er wurde am 15. Dezem-
ber 1900 als unheilbar (!) geisteskrank nach der Irren-
anstalt Waldheim abgeschoben.
In der hier am 7. Februar 1901 abgehaltenen Entmün-
digungsverhandlung schilderte Dittricb, daß er in Momenten
geschlechtlicher Erregung völlig die Besinnung und die Herr-
schaft über sich verliere, so daß er nicht mehr wisse, was
er tue, gab weiter an, er leide an Schwindelanfällen und
sei in Österreich einmal drei Tage lang bewußtlos gewesen,
und brachte endlich noch zum Ausdrucke, daß er seine
Erfinderideen, weil ihm die nötigen Vorkenntnisse fehlten,
aufgegeben habe. Das Entmündigungsgutachten bezeichnet
ihn als einen degenerierten Menschen, der unfähig sei»
seine Angelegenheiten zu besorgen.
In der Irrenanstalt Waldheim hat Dittrich am 24. März
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Der Lustmörder Dittrich.
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und am 7. Juni 1901 leichte Ohnmachtsanfälle gehabt, die
aber von ärztlicher Seite nicht beobachtet worden sind.
Er berichtete in vielen Schriftstücken sehr ausführlich
über seine Vergangenheit, schwor „bei seinem heiligen
Glauben“, der ihm andernfalls die Teilnahme am Sakra-
ment des Altars verbieten würde, er habe keinen Mord
begangen, suchte sich immer ins beste Licht zu setzen,
war voll guter Vorsätze, beschäftigte sich gern und fleißig
und zeigte sich frei von Erfinderideen, fühlte sich aber ge-
legentlich von den Wärtern benachteiligt und erschien dann
gereizt und verstimmt. Da er allmählich Krankheitseinsicht
entwickelte, sich andauernd gut führte und seine Lage
annähernd richtig beurteilte, so wurde beim Rate zu
Dresden, seiner Heimatbehörde, angefragt, ob er vielleicht
den Entmündigten, dessen Verbringung in Familienpflege
in Rücksicht auf eine gewisse Reizbarkeit, Haltlosigkeit
und Neigung zu verkehrten Handlungen sexueller Natur
ausgeschlossen erschien, in einer Arbeits- oder ähnlichen
Anstalt versorgen könne.
Dittrich wurde daraufhin am 19. Juni 1905 in die
städtische Arbeitsanstalt zu Dresden überführt, von wo aus
er jedoch nach guter Führung auf Befürwortung seines
Vormundes schon am 15. August 1905 beurlaubt wurde,
indem ihm zugleich auf seine Bitte zur Beschaffung von
Handwerkszeug und Kleidungsstücken eine Unterstützung
von 50 Mk. bewilligt wurde!
Von sexuellen Verkehrtheiten wolle er frei sein, lobt
er sich doch, daß er nicht aufgeregt wurde, als ihm eine
Aufseherin um die Brust Maß nahm ; im ärztlichen Gut-
achten wird er als verständig, aber nicht Herr seiner selbst
und als charakterschwach bezeichnet!
In Dresden gab er (die Arbeit bald auf, ging nach
Berlin und schrieb von dort Bettelbriefe an den katholischen
Pfarrer in Hubertusburg, worin er mitteilt, daß er sich
beim Brotschneiden die Flechse des kleinen rechten Fingers
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Brendler.
durchschnitten habe. Das war um die Zeit der Ermor-
dung der Frau Scburm bei Berlin, vergl. Nr. III der Ge-
ständnisse.
Am 9. Oktober 1905 ist Dittrich wieder in Dresden
und bewirbt sich, indem er sich auf seine Kenntnisse, seine
Belesenheit in kriminalistischen Werken, seine reichen Er-
fahrung in den Irrenanstalten, wo er die Ärzte vermöge
seines Geschickes vor unliebsamen Kollisionen mit den Be-
hörden bewahrt hätte, beruft, um eine Stellung bei der
Kriminalpolizei !
Am 17. Oktober beging er dann das Verbrechen an
der Opitz, brach Mitte November in der Stätte, wo er seine
Kindheit verbracht, dem katholischen Waisenhause in Dres-
den ein, beging eine Anzahl Fahrrad- und Kleiderdiebstähle,
wurde am 21. Dezember 1905 festgenommen und am
30. Dezember der Dresdner Heil- und Pflegeanstalt zu-
gefiihrt. Am 1. Februar 1906 entwich er daraus unter
Benützung selbstgefertigter Werkzeuge, nachdem er zuvor
seine geistige Gesundheit hervorgehoben hatte, verübte am
5. desselben Monats einen Fabrraddiebstahl in Dresden,
wurde am 13. in Berlin aufgegriffen und vom 20. Februar
bis 7. März in der Irrenanstalt Herzberge verpflegt Dort
bot er mehrfache Zeichen geistiger Schwäche dar. Vom
8. März bis 9. April war er wieder in der Dresdner Heil-
•und Pflegeanstalt, aus welcher er, da er sich fleißig und
ruhig zeigte, sich gut führte und einsichtig erschien, unter
Gewährung einer Unterstützung entlassen wurde! Wie man
hätte voraussehen können, hielt er wiederum bei keiner
Arbeit aus, beging den oben erwähnten Einbruchsdiebstahl
bei dem Maler, fuhr mit dem gestohlenen Fahrrade nach
Berlin, wo er dann am 28. April verhaftet und nach kurzem
Aufenthalte in der Irrenanstalt Herzberge am 30. April
nach Dresden überführt wurde.
Bei seiner Entlassung aus der Dresdner Heil- und
Pflegeanstalt am 9. April 1906 hatte die Verwaltung dieser
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Der Lustmörder Dittrich.
193
Anstalt auf der dabei zu erteilenden Formularentscheidung
die Erklärung abgegeben, „Dittrich werde geheilt entlassen“.
Dadurch war Dittrich zu der irrigen Meinung gekommen,
seine Entmündigung wegen Geisteskrankheit sei aufgehoben.
Auf diese irrige Anschauung ist die in seinem Schreiben
an den Ersten Staatsanwalt gebrauchte Wendung von der
„Zeremonie des Gesund - Erklärens , der er nicht traute“,
zurückzuführen. Er wünschte durch ein Urteil des ordent-
lichen Gerichts für geistig gesund erklärt zu werden, um
der Gefahr zu entgehen, wieder in einer sächsischen Irren-
anstalt untergebracht zu werden; wenigstens suchte er in
dem Leser seines Schreibens den Glauben zu erwecken,
als sei es ihm lediglich darum zu tun gewesen.
Bald nachdem er dieses Schreiben an den Ersten
Staatsanwalt gerichtet hatte, empfing er den Besuch seines
Beichtvaters, der auf seinen ausdrücklichen Wunsch ber-
beigeeilt war, und widerrief diesem gegenüber den größten
Teil seiner Geständnisse, beauftragte ihn auch, den Ersten
Staatsanwalt von diesem Widerrufe in Kenntnis zu setzen.
Am 17. Mai erklärte er bei einer Vernehmung vor
dem Ersten Staatsanwalt:
„Solche Visionen, wie ich sie in der Strafanstalt zu
Waldheim während der letzten Zeit gehabt habe, sind mir
später nie mehr zugestoßen.
Meine Erfindungen habe ich nur noch in der ersten
Zeit meines Aufenthalts in der Irrenstation zu Waldheim
betrieben. Jetzt sehe ich ein, daß mir zu solchen Erfin-
dungen alle technische Vorbildung abgeht.
Die starke Aufregung bei geschlechtlicher Reizung
hat bei mir Vorgelegen im Löbtauer Falle 1899 und im
Leitmeritzer (Petrovitzer) Falle 1899.
Sonst gebe ich heute nur noch zu den Gohrischer
Fall. Hier habe ich aber nach der Tat eingesehen, daß
ich schrecklich gehandelt habe.
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194
Brendler.
Alle meine sonstigen Geständnisse, mit Ausnahme des
Falles Opitz, sind unwahr. Ich habe sie nur gemacht,
um nicht in das Irrenhaus zu kommen. Während meiner
Strafzeit im Jahre 1893 habe ich einmal ein falsches Ge-
ständnis abgelegt, um auf dem Transport zur Hauptver-
handlung fliehen zu können.
Wenn ich auf meinen geistigen Zustand in einer Irren-
anstalt beobachtet werden sollte, so bitte ich, daß dies nicht
in Waldheim geschieht. Der dortige Oberarzt hat gesagt,
wenn ich einmal etwas Strafbares begehe, werde er sein
Gutachten dahin abgeben, daß ich bestraft würde.“
Am 25. Mai wurde die Voruntersuchung gegen Dittrich
aus §§ 177, 178, 242, 244 St.G.Bs. eröffnet.
Am 28. Mai wurde er im Gefängnisse von dem Bei- •
liner Untersuchungsrichter wegen der in der Umgebung
von Berlin an der Graßnick und der Schurm verübten Ge-
walttaten, vgl. II und III der schriftlichen Geständnisse,
vernommen. Er begann seine Auslassungen damit, daß er
im direkten Gegensätze zu dem Inhalte seines an den
Ersten Staatsanwalt zu Dresden gerichteten Schreibens er-
klärte, er sei geisteskrank. Wörtlich gab er zu Protokoll:
„Ich bitte, mich in das Untersuchungsgefängnis nach
Berlin zu überführen. Ich bin geisteskrank und möchte
später in die Irrenanstalt nach Herzberge gebracht werden.
In die Irrenanstalt nach Waldheim möchte ich aus ver-
schiedenen Gründen nicht wieder.
Ich räume ein, daß ich die Frau Grasnick getötet habe.
Alles Nähere werde ich aber erst sagen, wenn ich in Berlin
bin. Dann werde ich ganz offen alles sagen, was ich über
die Tat noch weiß.
Ich räume ferner ein, daß ich auch die Frau Schurm
getötet habe. Alles Nähere werde ich aber erst in Berlin
erzählen. Dann werde ich auch das Messer wieder her-
beischaffen, mit dem ich Frau Schurm getötet habe, und
auch die Hose, die ich an jenem Tage getragen habe. Das
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Der Lustmörder Dittrich.
195
Messer, welches ich damals gebraucht habe, war ein
Taschenmesser.“
Am 30. Mai fand Dittrichs Vernehmung durch den
Untersuchungsrichter bei dem Landgerichte Dresden wegen
des Falles Opitz statt. Da er hierbei dem Vorgänge wieder
eine von seinen bisherigen Angaben abweichende Dar-
stellung gab, mögen seine Aussagen hier vollständig wieder-
gegeben werden. Er sagte:
„Ich bekenne mich schuldig.
Ich war am 17. Oktober 1905 in die Gegend von
Gohrisch gekommen, um mich dort mit einem Revolver,
den ich mir zu diesem Zwecke in Dresden vor meinem
Weggange gekauft hatte, zu erschießen. Es steht dort an
der Straße eine Bank und oberhalb abseits von der Straße
eine zweite. Auf der letzteren hatte ich mich nieder-
gelassen und Mantel und Jacke ausgezogen, um sie beim
Erschießen nicht zu beschmutzen. Ich bin mehrfach nach
der Straße hinabgegangen, um zu sehen, ob Leute kämen,
die mich stören könnten. Es kamen immer einzelne Per-
sonen gegangen, deshalb verschob ich das Erschießen immer
wieder. Den Revolver habe ich ‘jedesmal auf der Bank
liegen lassen. Unter den Vorübergehenden waren auch
Frauen. Warum ich diese nicht angehalten habe, um sie
zu gebrauchen, weiß ich nicht.
Erst als ich die Opitz kommen sah, kam mir der Ge-
danke daran ; ich ging auf sie zu und frug sie, ob sie ein-
mal „mitmachen“ wolle. Sie sagte: Nein! Nun kam ein
Gefühl über mich, so daß ich mir nicht mehr helfen
konnte. Ich mußte sie anpacken, um mir den Beischlaf
zu erzwingen. Ich wußte aber recht gut, was ich
machte.
Wie ich sie gerade gepackt habe, kann ich nicht
sagen. Sie hatte eine Tasche in der Hand und Uber dem
Arme ein Jackett, in der einen Hand auch etwas wie Baum-
zweige.
Der Pitaval der Gegenwart. IV. 14
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196
Brendler.
Sie wehrte sich, wie ich sie anfaßte und hat dann
auch wiederholt geschrieen. Bei dem Ringen kamen wir zum
Fallen. Da es am Straßenrande war, fielen wir beide
den Abhang hinunter. Wir kamen noch ein paarmal zum
Stehen, fielen aber immer wieder und immer weiter den
Abhang hinunter.
Auf einmal wurde die Opitz bewußtlos, ihr Wider-
stand hörte auf, sie blieb ruhig liegen. Nun schleifte ich
sie (wie ich sie angepackt habe, weiß ich nicht mehr)
über den dort vorbeiführenden Waldweg hinweg und auf
der anderen Seite durch das Gehölz ins Dickicht. Dort
zog ich sie aus, um sie entblößt vor mir zu haben. Nach-
dem ich ihr den Rock, die Taille, die Schuhe und einen
Strumpf ausgezogen hatte, hörte ich auf, ohne daß ich
heute einen bestimmten Grund dafür angeben kann. Ich
habe sie nun bis zum Samenergüsse gebraucht.
Sie lebte dabei noch. Das merkte ich, während ich auf
ihr lag, an den Bewegungen ihrer Brust: sie atmete.
Ich ging dann zur Bank zurück und zog Jackett und
Mantel an, um fortzugehen. Daß ich mich hatte erschießen
wollen, daran dachte ich jetzt nicht mehr, ich hatte nur
den Gedanken, fortzukommen.
Ich vermißte' meinen Hut. Um ihn zu suchen, ging
ich nach dem Platze zurück, wo ich die Opitz hingeschleift
hatte. Der Hut lag dort in der Nähe. Während die Opitz
vorher auf dem Rücken gelegen hatte, lag sie jetzt auf
der Seite. Als ich näher kam, bemerkte ich, daß sie er-
brochen hatte. Mir kam jetzt der Gedanke, sie könne
aufstehen und mir nachlaufen, um mich festnehmen zu
lassen. Das wollte ich verhindern, raffte deshalb die
Sachen, die ich ihr ausgezogen hatte, und ihren Hut zu-
sammen und lief davon. Ich habe sie nicht vollständig
entkleidet. Unterwegs lag die Tasche am Straßenrande;
ich nahm sie auch mit, ohne ihren Inhalt zu kennen.
Warum ich die Tasche mitgenommen habe, kann ich
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Der Lustmörder Dittrich
197
heute nicht sagen. Vielleicht ist es geschehen, weil sie
dicht an der Straße lag und ich deshalb eine baldige Ent-
deckung der Tat befürchten mußte.
Ich lief nun ohne Weg in der Richtung nach König-
stein durch den Wald. Dabei habe ich irgendwo die
Kleider und die Tasche der Opitz weggeworfen. Sie waren
mir beim Laufen hinderlich und ich hatte da noch gar
nicht die Absicht, sie zu behalten. Beim Weiterlaufen fiel
mir ein, daß auch hier durch Auffinden der Sachen eine
vorzeitige Entdeckung der Tat herbeigeführt werden könne
und gleichzeitig auch, daß ich damit meiner Schwester,
der verehel. Rau, ein Geschenk machen könnte. Daß Geld
in der Tasche war, wußte ich noch nicht Ich lief zurück
und holte mir die Sachen. .
Als ich die Sachen vom Tatorte wegnahm, muß die
Opitz noch gelebt haben, es ist mir wenigstens so vor-
gekommen, als ob sie die Augen aufgeschlagen und nach
mir hingesehen hätte!“
Am 13. Juni 1906 wurde Dittrich durch einen Kom-
missar der Berliner Kriminalpolizei mit Genehmigung des
Dresdner Untersuchungsrichters nach Berlin überführt, um an
Ort und Stelle über die beiden von ihm dort verübten Morde
vernommen zu werden. Der Kriminalkommissar hat ihn
auf dem Hin- und Rücktransporte wie auch in der Zelle
im Dresdner und im Berliner Untersuchungsgefängnisse
verhört Aus seinem Berichte sind folgende Stellen von
besonderem Interesse.
. . . Ganz allmählich gelang es mir, von Dittrich
herauszubekommen, weshalb er seine Geständnisse zurück-
gezogen hatte. Er hatte zunächst geglaubt, daß er die
Opitz getötet hätte; er war anscheinend der Ansicht, sie
erwürgt zu haben. Infolgedessen batte er sich offenbar
gesagt, daß nun alles gleich sei, und war für einen Mo-
ment auf den Nerven zusammengebrochen. In diesem Zu-
stande hatte er seine Geständnisse abgelegt. Nun hatte er
14 *
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Brendler.
durch Verlesung des Sektionsbefundes erfahren, daß es
sich bei der Opitz nur um ein Sittlichkeitsverbrechen han-
delte und er die Chance hatte, mit einer zeitigen Zucht-
hausstrafe davonzukommen. Bis dahin war sein Bestreben
darauf gerichtet gewesen, nach der Irrenanstalt zu kommen,
um den Kopf zu retten. Jetzt hatte er umgekehrt das
Bestreben, für geistig normal erklärt zu werden, um später
wieder einmal die Freiheit zu erlangen. Das war nur
möglich, wenn er die Geständnisse zurückzog .... Ich
setzte ihm auseinander, daß er zum Zurückziehen der Ge-
ständnisse schon zuviel eingeräumt habe, und daß seine
Lage durch die Geständnisse kaum verändert würde
Er setzte mir nun zunächst in höchst scharfsinniger, längerer,
juristischer Darlegung die angebliche Rechtsirrtümlichkeit
meiner Auffassung des § 178 St.G.Bs., den er genau kannte,
auseinander .... Schließlich kam er auch zu der Ansicht,
daß er wohl nach Waldheim kommen und für unzurech-
nungsfähig erklärt werden würde. Hierbei stellte sich
heraus, daß er vor Waldheim eine gewaltige Angst hatte
und sehr viel lieber nach Herzberge wollte. Er zeigte sich
bei der ganzen Vernehmung über die Zuständigkeit betreffs
Unterbringung der Irren in den verschiedenen Anstalten
auf das Genaueste orientiert.
Durch den Transport nach Berlin hatte er volles Ver-
trauen gewonnen und sagte sofort, wo sich das Messer be-
fand, mit dem er die Frau Schurm ermordet und sich da-
bei verletzt hatte, und gab genaue Details über die Aus-
führung und den Anzug an, den er getragen hatte. Auch
die blutige Hose, die er bei der Tat getragen hatte, konnte
durch seine Angaben herbeigeschafft werden.
Im Lokaltermine führte er mich mit absoluter Sicher-
heit an die Mordstelle und von dort den Weg, den er
nachher durch das Dickicht eingeschlagen hatte. Er be-
sann sich auf den kleinsten Umstand, zeigte Stellen, wo
er auf seiner Flucht Menschen gesehen hatte, wo ein Bauer
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Der Lnstmörder Dittrieh.
199
gepflügt hatte, usw. Alle diese Angaben entsprachen, wie
festgestellt werden konnte, der Wahrheit, und es ist die
Täterschaft in dem Falle Schurm gerichtsnotorisch er-
wiesen.
Noch staunenswerter war sein Gedächtnis im Falle
Graßnick, der 5 Jahre zurückliegt. Er fand auch hier die
Tatstelle, obwohl sich die Schonungen der Umgegend in
der Zeit gewaltig verändert haben. Er wußte genau die
Lage der Leiche anzugeben, die Stellung des Wagens,
klärte durch seine Schilderung des Hergangs scheinbare
Widersprüche in den Akten einwandfrei auf, führte zu
einem Tümpel, in den er das geraubte Portemonnaie ge-
worfen hatte; den Tümpel kannte kein Mensch, da er
mitten in der Dickung lag. Er schilderte ferner, wie er
in einer Kneipe gleich darauf ein Glas Bier getrunken
hatte. Der Zeuge, der seiner Zeit einen Mann in dieser
Kneipe gesehen und sofort damals der Tat verdächtigt
hatte, erkannte ihn wieder.
Auch hier ist die Täterschaft Dittrichs gerichtsnotorisch
erwiesen ....
Ich möchte noch bemerken, daß Dittrieh sich mir
gegenüber unverstellt gegeben und offen gesagt hat, daß
er während der Beobachtung sich anders geben, also auf
deutsch simulieren werde.
Er hat für die Gesellschaftsklasse, aus der er stammt,
ganz unleugbar ausnahmsweise Bildung und Scharfsinn.
Er ist in den Bestimmungen des Reicbsstrafgesetzes, die ihn
angehen, sehr bewandert und hat sich viel damit beschäf-
tigt. Er spricht über die inneren Einrichtungen, die Kost,
die Behandlung, die Vorzüge und Nachteile der verschie-
denen Strafanstalten und Irrenhäuser mit großem Ver-
ständnisse, besitzt ein geradezu hervorragendes Gedä chtnis
ist körperlich gewandt und leistungsfähig, sehr muskulös
und bat ganz besonders große Sehschärfe. Trotzdem ver-
wischt sich in seiner Erinnerung jedesmal der Eindruck,
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Brendler.
wie er nun eigentlich die Tat ausgeführt hat. Er macht
darüber schwankende und sich widersprechende Angaben-
Es ist ganz unzweifelhaft, daß er zum Teil dabei die Ab-
sicht hat, die Überlegung bei der Tat selbst auszuschließen.
Zum Teil ist aber doch wohl mit Sicherheit anzunehmen,
daß er wirklich bei der Tat nach seinem Ausdrucke „rot
sieht“ und in blinder Aufregung nicht weiß, was er tut.
Nach seiner Schilderung bekommt er plötzlich einen rich-
tigen sogenannten „Samenkoller“, irrt dann ziel- und plan-
los auf der Landstraße und in den Wäldern umher und stürzt
sich wie ein wildes Tier auf das erste weibliche Wesen,
was ihm paßrecht kommt. Der Widerstand, den er dann
natürlich findet, reizt ihn derartig, daß er sinnlos darauf
lossticht oder würgt und schlägt, und dann, wenn das
Opfer tot ist, zur Besinnung kommt, flüchtet und dabei ein
Sittlicbkeitsverbrechen meistens gar nicht ausgeführt bat.
Ein Schulfall ist hierfür der Fall Schurm, der so lag, daß
ein Sittlichkeitsverbrechen gar keine Aussicht haben konnte,
und bei dessen Ausführung der Täter von den zahlreichen
in der Nähe befindlichen Passanten eigentlich gefaßt wer-
den mußte ....
. . . Ich halte Dittrich augenblicklich für völlig geistig
normal, glaube aber trotzdem, daß er nicht schwindelt,
wenn er sagt, daß er von Zeit zu Zeit an einem direkten
geschlechtlichen Koller leidet. Er sagt, er sähe selber ein,
daß er dauernd unschädlich gemacht werden müßte, denn
wenn er wieder herauskäme, würde er unzweifelhaft wieder
einen Mord verüben. Andrerseits gestehe er ganz offen
daß er trotz dieser Einsicht versuchen würde, herauszu-
kommen — jeder Vogel (treffender würde er gesagt haben:
jede Bestie) liebe ja die Freiheit . . . •
Während seiner Haft in Berlin hat Dittrich eine um-
fangreiche schriftliche Arbeit, eine Art Novelle, unter dem
Titel „Revanche“ verfaßt und für den Kriminalkommissar
W., eben denselben, der ihn von Dresden nach Berlin und
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Der Lustmörder Dittrieh.
201
zurück transportiert hat, bei dem Untersuchungsrichter
niedergelegt. Da diese Arbeit für die Beurteilung seines
Geisteszustandes und seiner allgemeinen Fähigkeiten von
Interesse ist und auch in dem nachstehenden ärztlichen
Gutachten Berücksichtigung gefunden hat, so ist sie unten
auszugsweise wiedergegeben.
Der von dem Untersuchungsrichter zur Begutachtung
aufgeforderte Dresdner Gerichtsarzt erklärte:
Die Abstammung Dittrichs mit erblicher Belastung,
der frühzeitige Verfall in alle möglichen Laster, die Un-
verbesserlichkeit Dittrichs trotz der hohen Bestrafungen
und Rückfälligkeit in die Ausübung schwerster Verbrechen
in fast unmittelbarem Anschlüsse an die Strafen, sein Ver-
halten während der Strafverbüßungen und der wieder
holten Unterbringungen in Krankenanstalten, aber auch
sein rücksichtsloses Verfahren bei Verübung seiner Ver-
brechen und die sonst an Dittrieh festgestellten Beobach-
tungen lassen ihn als einen psychisch hochgradig defekten
Menschen erscheinen.
Die Diagnose weiter zu bestätigen, namentlich fest-
zustellen, ob Dittrieh unter seiner Erkrankung bei Aus-
führung der ihm zur Last gelegten strafbaren Handlungen
im Sinne von § 51 St.G.Bs. der freien Willensbestimmung
beraubt war, bedarf es einer noch weiter andauernden Be-
obachtung, weshalb von gerichtsärztlicher Seite beantragt
wird, Dittrieh einer öffentlichen Irrenanstalt zuzuführen.
Daraufhin wurde Dittrieh am 12. Juli 1906 zur Be-
obachtung seines Geisteszustandes in die Landesanstalt für
Geisteskranke zu Waldheim übergeführt.
Nach sechswöchiger Beobachtung gab der Oberarzt
dieser Anstalt am 31. August 1906 ein ausführliches Gut-
achten ab, das am Schlüsse folgendermaßen lautet:
Dittrieh erscheint, da er unzweifelhaft von einem
trunksüchtigen Vater und einer geistesschwachen Mutter
abstammt und sich auch unter seinen Geschwistern geistig
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Brendler.
abnorme Individuen vorfinden, zur Seelenstörung disponiert
Und in Wirklichkeit leidet er auch an einer ausgesprochenen
Geisteskrankheit, welche mit den Wurzeln bis in die Jugend-
zeit zurückreicht, zunächst aber noch latent blieb, um
schließlich im Jahre 1896 unter dem Einflüsse der Straf-
haft, welche erfahrungsgemäß das, Auftreten von Seelen -
Störungen begünstigt, eine wesentliche Verschlimmerung zu
erleiden .
Diese Geisteskrankheit äußert sich einmal durch einen
nicht unerheblichen intellektuellen Schwachsinn; gilt doch
Dittrich schon einem seiner Lehrer als ein nur mittelmäßig
befähigter Schüler. Nun wird zwar Dittrich vom Kriminal-
kommissar W. als ein außerordentlich scharfsinniger, mit
treffendem Urteil begabter Mensch bezeichnet, indes kommen
ihm diese Eigenschaften keineswegs zu. Dittrich besitzt
nur ein gewisses Maß von Schlauheit und.Pfiffigkeit, wie
es bestimmten Kategorien von Irren eigentümlich ist Wäre
Dittrich wirklich mit großem Scharfsinn begabt, so würde
er sich nicht durch (die Aussicht, vielleicht in Herzberge
untergebracht zu werden, zur Ablegung seiner Geständnisse
in den Fällen Graßnick und Schurm haben verleiten lassen ;
er mußte sich doch sagen, daß seines Bleibens in Herz-
berge dann, wenn er als geisteskrank begutachtet war —
und das war doch zugestandenermaßen sein Ziel — nicht
sein konnte, daß er dem .unterstützungspflichtigen Orts-
armenverbande Dresden zur weiteren Fürsorge überwiesen
würde und daß ihm dann wiederum die Versorgung in
dem ihm verhaßten Waldbeira blühte.
Seine geistige Schwäche gibt sich weiter auch in der Art
und Weise kund, ;wie er auf die Leichtgläubigkeit des Herrn
Ersten Staatsanwalts spekuliert, den er glauben zu machen
sucht, daß er nur deswegen seine jFahrrad- und Einbruchs-
diebstähle begangen hatte, um endlich einmal gefaßt und
bestraft und so für geistig gesund erklärt zu werden,
während es doch aktenkundig war, daß er die Spuren
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Der Lustmörder Dittrich.
203
seiner Diebstähle nach Möglichkeit zu verwischen suchte.
Und welcher Schwachsinn liegt nicht darin, daß er seine
geistige Gesundheit durch Begehung von Verbrechen be-
weisen will, den Beweis seiner Zurechnungsfähigkeit konnte
er doch viel einfacher durch einen geregelten, geordneten
Lebenswandel führen !
Für seine geistige Insuffizienz spricht auch die Naivi-
tät, mit welcher er die im Falle Graßnick ausgesetzte Be-
lohnung auf Grund seines eigenen Geständnisses für sich
in Anspruch nimmt und verwendet wissen will.
Auch sonst erscheint er außerordentlich kritik- und
urteilslos, welche Eigenschaften ihn zu einer richtigen Er-
kenntnis seiner eigenen Persönlichkeit nicht kommen lassen;
in seinem Schrifstück „Revanche“ schildert er sich als
einen im Grunde genommen frommen und braven Men-
schen, welcher auf das Wohl seiner Kirche und das armer
Witwen bedacht sei, während er doch selbst seinen Beicht-
vater belügt und die arme Witwe Thiele betrügt; er be-
wirbt sich um eine Beschäftigung bei der Kriminalpolizei
unter Berufung auf seine großen Kenntnisse und seine Er-
fahrungen, kann aber weiter nichts zu seiner Empfehlung
anführen, als daß er belletristische Zeitschriften und Kriminal-
romane gelesen und in einer Irrenanstalt die Ärzte durch
seine Klugheit vor 'unliebsamen Kollisionen mit den Vor-
gesetzten Behörden gerettet hat, welch’ letztere Behauptung
übrigens, soweit die hiesige Anstalt in Betracht kommt,
durchaus unwahr ist.
Hand in Hand mit dieser Schwäche auf intellektuellem
Gebiete gehen bei Dittrich nun aber auch Defekte auf
moralisch - ethischem Gebiete. Er ist von Jugend auf
Onanist, wird Zuhälter, kommt seit seinem 15. Lebens-
jahre unaufhörlich mit den Strafgesetzen in Konflikt, zeigt
sich haltlos, wechselt grundlos seine Stellungen und gerät,
wiewohl ihm regelmäßig bei seinen Entlassungen aus den
Anstalten Geldmittel, die ihn vor der ersten Not schützen
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204
Brendler.
konnten, zugewiesen worden waren, doch sofort immer
wieder auf Abwege. Zudem besitzt er großen Hang zur
Lüge, welcher durchaus pathologischer Natur ist. Niemals
bleibt er bei der Wahrheit; wenn er beispielsweise be-
hauptet, kürzlich einen großen Schatz auf einem Berliner
Friedhofe vergraben zu haben, so ist diese Behauptung
schon um deswillen unwahr, weil er gerade von Berlin
aus infolge Geldmangels an den Hubertusburger katho-
lischen Pfarrer Bettelbriefe gerichtet hat; er verwickelt sich
auch sonst fortwährend in Widersprüche, heuchelt Gerichts-
personen, Ärzten und Geistlichen gegenüber ganz entsetz-
lich und schildert Vorgänge in seinem Leben, welche sich
niemals abgespielt haben können, auf phantastische Art.
Daneben läßt er eine außerordentlich weitgehende Ab-
stumpfung des Gefühls wahrnehmen; wiewohl er großes
Verständnis für die Tierseele zu besitzen vorgibt, behandelt
er doch ein kleines Hündchen seiner Schwester auf ganz
brutale Art, er ist gemütsroh, erzählt von seinen Schand-
taten mit derselben Ruhe, wie man ein Hühnchen rupft,
nnd empfindet, wenn er auch manchmal den Eindruck des
Gegenteils hervorzurufen sucht, über seine Verbrechen auch
nicht die geringste Reue, wie er denn auch hier, wo ihm
seine Schandtaten wiederholt vorgehalten worden sind, fast
nur heiter und guter Dinge blieb und bei seinen körper-
lichen Untersuchungen sogar in lautes Lachen ausbrach.
Andrerseits erschien er jedoch zeitweise auch recht ver-
stimmt und gereizt, welche Stimmung besonders dann zum
Vorschein kam, wenn er von den Ärzten exploriert wurde
oder zuviel ausgesagt zu haben meinte. Seine leichte Er-
regbarkeit kommt sodann auch in seinem krankhaft ge-
steigerten Geschlechtstriebe zum Ausdrucke; kaum hat er
die Opitz mißbraucht, da begibt er sich auch schon zu
einer Prostituierten, um auch mit dieser noch einen Ge-
schlechtsakt zu vollziehen, und mit der verwitweten
Thiele verkehrt er innerhalb weniger Tage geschlecht-
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Der LustmSrder Dittrieh.
205
lieh so intensiv, wie es ein normaler Mensch niemals
tun würde.
Neben diesem intellektuellen und moralischen Schwach-
sinn, dem krankhaften Hange zur Lüge, der Gefühls-
roheit, der Reizbarkeit und dem pathologisch gesteigerten
Geschlechtstriebe lassen sich bei Dittrieh außerdem Beein-
trächtigungs- und Größenideen nachweisen, welche zum
erstenmal im Zuchthause Waldheim vor ungefähr 10 Jahren
aufgetreten und seitdem nicht mehr geschwunden sind.
Man könnte ja vielleicht annehmen, daß Dittrieh diese Ideen,
um den Eindruck der geistigen Störung hervorzurufen, nur
vortäuscht. Das ist jedoch nicht der Fall; vielmehr hat
Dittrieh diese falschen Vorstellungen nur dann verschwiegen,
wenn es sich um seine Entlassung aus Anstalten handelte,
er hat sie aber selbst in Zeiten, wo er von einem Vor-
täuschen sich gar keinen Vorteil versprechen konnte, bei-
spielsweise seiner Schwester Rau gegenüber, zu Gehör
gebracht. Auch diese Wahnvorstellungen tragen den Charak-
ter der geistigen Schwäche an sich. Wiewohl Dittrieh sich
sagen muß, daß er sich durch seine Verbrechen das Mit-
leid der Mitmenschen verscherzt hat, fühlt er sich stets
zurückgesetzt und verkannt, und beklagt sich über grau-
same Behandlung und ungenügende Beachtung. Immer
und immer wieder kommt er auf seine Zeichnungen, um
deren Früchte man ihn betrügen wolle, zurück, unaufhörlich
spielt er sich als Erfinder ganz komplizierter Apparate (wie
Unterseebot, spielende Trommel usw.) auf, obgleich er auf
Vorhalt selbst aussprechen mußte, daß er über die Anfangs-
gründe in Physik und Chemie nicht hinausgekommen ist.
Alle die obengenannten Krankheitserscheinungen charak-
terisieren die geistige Störung Dittricbs als Entartungsirre-
sein. Als Ausfluß dieser Geisteskrankheit müssen auch
die Verbrechen sexueller Natur angesehen werden, welche
Dittrieh seiner Versicherung nach unter dem Einflüsse
eines unwiderstehlichen Zwanges begangen hat. Dittrichs
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Brendler.
eigenen Angaben hierüber wird man bei seiner notorischen
Verlogenheit natürlich mit großem Mißtrauen begegnen
müssen. Jndes ist doch als unzweifelhaft sicher festgestellt,
daß sich Dittrich sowohl im Petrowitzer wie im Gohrischer
Falle vor und nach der Tat in einem Zustande von Ruhe-
losigkeit und Aufregung befunden hat, und daß er über-
haupt ein außerordentlich reizbarer und in sexueller Be-
ziehung leicht erregbarer Mensch ist. Daher ist es auch
durchaus wahrscheinlich, daß er, wenn er auf einsamem
Wege mit einer einzelnen Frauensperson zusammentrifft,
in einen Zustand immer mehr zunehmender Aufregung
hineingerät, bis er schließlich seiner Sinne nicht mehr
mächtig ist und nicht mehr Weiß, was er tut; ein nor-
maler Mensch wird derartige Handlungen zu unterdrücken
imstande sein, Dittrich aber ist, wie zuvor auseinander-
gesetzt wurde, ein geisteskrankes Individuum, dessen
Hemmungszentren im Gehirn verkümmert sind, so daß er
sich, wie es im Falle Opitz geschah, in der Tat nicht zu
beherrschen und zu bemeistern vermag.
Wenn nun aber Dittrich weiter behauptet, daß sich
seine Aufregung mitunter bis zur völligen Bewußtlosigkeit
gesteigert habe, so muß diese Behauptung Zweifeln be-
gegnen. Im Petrovitzer Falle wenigstens ist er allem An-
scheine nach zwar hochgradig aufgeregt, aber doch wohl
nicht bewußtlos gewesen, worauf seine Worte: „er steht
nicht mehr, bei Ihnen geht er überhaupt nicht hinein,“
hindeuten; immerhin beweist aber) doch dieser Fall den
pathologischen Charakter Dittrichs, weil hier an die Stelle
eines geschlechtlichen Aktes ein solcher brutaler Roheit
und Gewalt getreten ist, weil die geschlechtliche Befriedigung
auf sogenannte sadistische Art erfolgte .j
Allein nichtsdestoweniger kann für andere Fälle die
Möglichkeit, daß Dittrich zur Zeit der Tat und hinterher
bewußtlos gewesen ist, nicht mit Sicherheit in Abrede ge-
stellt werden, um so weniger, als er in der Irrenanstalt
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Der Lustmörder Dittrich.
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Waldheim im Jahre 1901 mehrere Ohnmachtsanfälle gehabt
hat, bei denen es sich vielleicht um Zustände epileptiformer
Natur handelt.
Zum Schlüsse möchte ich mir noch eine kurze Be-
merkung zu den Fällen Graßnick und Schurm erlauben.
Ist es wirklich über allen Zweifel erhaben, daß Dittrich
hier der Täter war, so würde die mehrfache Wiederholung,
die Häufung ein und desselben Verbrechens ihn erst recht
als einen schwer geisteskranken Menschen kennzeichnen.
Ich gebe somit das von mir erforderte Gutachten da-
hin ab:
Dittrich leidet an einer ausgesprochenen, mit intellek-
tuellem und moralischem Schwachsinn, gemütlicher Ab-
stumpfung, erhöhter Reizbarkeit, Beeinträchtigungs- und
Größenideen, gesteigertem Geschlechtstriebe sowie Neigung
zu verkehrten Handlungen auf sexuellem Gebiete einher-
gehenden Geisteskrankheit. Diese Seelenstörung reicht mit
ihren Wurzeln bis in die Jugendzeit zurück, hat vor circa
10 Jahren unter dem Einflüsse der Waldheimer Strafhaft
eine wesentliche Verschlimmerung erfahren und nie zu
einer Genesung geführt.
Dittrich hat sich daher zur Zeit des an der Opitz
verübten Verbrechens in einem Zustande krankhafter
Störung der Geistestätigkeit befunden, welcher seine freie
Willensbestimmung ausgeschlossen hat.
Auf Grund dieses Gutachtens wurde Dittrich nach
Schluß der Voruntersuchung auf Antrag der Staatsanwalt-
schaft am 14. September 1906 außer Verfolgung gesetzt,
aus der Haft entlassen, der Dresdner Heil- und Pfleg-
anstalt zugeführt und von da am 17. Oktober, also genau
am Jahrestage des Gohrischer Verbrechens, auf Antrag
des Ortsarmenverbandes Dresden in die Heil- und Pflege-
anstalt Waldheim „zu längerer Verpflegung“ aufgenommen.
Möge er nie von dort zurückkehren!
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208
Brendler.
Berlin, 26. Juni 1906.
Revanche!
Erzählung von Max Dittrieh.
Vorwort!
Da ich Nachfolgendes in der Hoffnung schrieb, daß
es durch die Genehmigung meiner Vorgesetzten möglich
sei, es drucken zu lassen, möchte ich es nicht aus den
Händen geben, ohne versucht zu haben, durch einige,
wenige Worte das Interesse des Lesers zu erwecken. Es
ist mein sehnlichster Wunsch, daß ein Jedes, welches diese
wenigen Zeilen liest, daraus lernen möge, wie man es
machen soll, um als reeller, ehrlicher Mensch dereinst in
Frieden sein Ende erwarten zu können. Mein Leben ist
für diese Welt zu Ende und mit tiefem Schmerze sehe
ich auf einzelne Episoden, als besonders dunkle, grauen-
hafte Punkte darin, zurück. Habe ich auch wenig, ja besser
gesagt, gar keinen Anspruch auf die Milde und Güte der
Menschheit, so vertraue ich um so mehr auf das Jenseits,
wo ja wohl jedes Verbrechen, jede Sünde gerechnet wird,
aber doch auch weit mehr Erbarmen vorhanden ist, als
auf Erden. —
Revanche; so betitelt sich meine Erzählung, in deren
Verlaufe ich mich bemühte, einen Abschnitt meines Lebens
darzustellen. Zeigte darin, wie es möglich ist, aus jungen,
unerfahrenen Burschen gewandte Taschendiebe, erfahrene
Einbrecher heranzubilden, welche, wenn sie erst einmal
die Süße der Müßigkeit kennen gelernt haben, zu ehr-
licher, ausdauernder Arbeit verdorben sind. Rastlos schreiten
sie weiter auf der Bahn des Verbrechens. Die ersten
Strafen, dienen ihnen nicht zur Besserung, weil sie im
Gefängnisse untergebracht, mitten unter anderen, vielfach
ergrauten Verbrechern, eben nicht besser werden können.
Haben sie sich ungeschickt und dumm gezeigt, sei es bei
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Der Lustin örder Dittrich.
209
der Ausführung ihrer Tat; — sei es dem Richter gegen-
über; — so ernten sie Spott und Hohn von ihren Mit-
gefangenen Wollte und dürfte ich meine Erleb-
nisse in Straf- und Irrenhäusern schildern, so würde dies
Bücher füllen und manches Leser- und Leserinnenherz mit
Abscheu und Entsetzen, doch zugleich mit tiefstem Mit-
leid für die armen, elenden Gefangenen erfüllen
Man kann, man mag es mir glauben, denn ich schreibe
dies, aus eigenster traurigster Erfahrung — die Straf-
häuser, sind und bleiben, die Gymnasien und Hochschulen
des Verbrechens. . .
. . . Wäre ich vermögend geboren, aus mir wäre
auch etwas Anderes geworden. Auch ich könnte jetzt ein
eigenes Heim mein eigen nennen, und mein Auge an
eigenen, blühenden Kindern laben. . . . Der wohlhabende
Mann ist naturgemäß der Versuchung weniger ausgesetzt
als der Arme. Er kennt nicht die Sorge um das tägliche
Brot; Weis nichts von Mühen und Plagen um den An-
sprüchen des Hauswirts gerecht zu werden. — Es fehlt
in seinem Leben die gewaltigste Triebfeder des Ver-
brechens, — die Sorge um Obdach, die Sorge um das
tägliche Brot! — ....
. . . Darum: Habet Geduld mit den Gefallenen und
habet Geduld auch mit mir, wenn in der nun folgenden
Ertsäblung nicht alles nach den Wünschen, der Einzelnen
geschrieben ist.
Der Verfasser.
Es war im Herbste des Jahres 1890, als ich inner-
halb Dresden, einen flotten Handel mit Obst- und Süd-
früchten betreibend, in einem kleinen Kaffeeschank der
Friedrich- Vorstadt die Bekanntschaft eines gewissen H.
machte. . .
Dittrich schildert nun äußerst breit und liebevoll, wie
die Bekanntschaft von Tag zu Tag intimer wurde, wie
schließlich nicht mehr einer ohne den andern sein konnte
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210
Brendler.
und sie sich täglich trafen, wie H. ihn darauf hinwies,
daß man auch ohne die lästige Arbeit auf dieser Erde ein
sehr angenehmes Dasein führen könne, wie diese An-
deutungen bei ihm, dem damals 18jährigen, auf frucht-
baren Boden gefallen seien, und wie er durch H. schließ-
lich um so leichter „dem Verbrechen in die Arme ge-
trieben worden“ sei, als er trotz seiner jungen Jahre schon
„mit dem Gesetze in Konflikt geraten war und entehrende
Strafe verbüßt hatte.“ H. habe ihn „durch einen, alles
Gute und Heilige verhöhnenden, das Unglück und die
Strafe geradezu herausfordernder Weise, — gräßlichen
Schwur zur Mittäterschaft der von ihm in Aussicht ge-
nommenen Verbrechen verpflichtet und ihn so als seinen
Sklaven an sich gebunden.“ Dann habe er sich eine Ge-
liebte angeschaft „Sie hieß Anna und wohnte bei ihrer
Mutter, einer Witwe“, wie Dittrich in seiner Erzählung
fortfährt, „die, ohne verheiratet zu sein, mit einem jungen
Menschen von etwa 22 Jahren in intimen Verhältnissen
lebte. Mit diesem und ihren Kindern, drei Mädchen und
einem Knaben, bewohnte sie eine Stube, woran sich eine
kleine Kammer anschloß. Dort, in .dieser engen Räum-
lichkeit lebte ich mit meiner Anna zusammen. Freilich
war dies ... die reine Karnickelwirtschaft“
H., der stets über ein gefülltes „Portefeuille“ verfügt
habe, sei der Liebhaber der beiden jüngeren Schwestern
seiner Anna, Mädchen von 13 und 15 Jahren, gewesen.
Seine Anna sei schließlich von ihm schwanger geworden,
zu einer Entbindnng sei es aber nicht gekommen, offenbar
weil sie, wie er durchblicken läßt, sich die Frucht habe
abtreiben lassen.
Nach und nach sei er von H. im Taschendiebstahl
unterwiesen worden, da er aber anfangs wenig Geschick
entwickelt habe, so habe er müssen einen regelrechten
Spitzbubenkursus mit einem „Klingelmann“ durchmachen.
Er beschreibt sehr anschaulich, wie er bei einem Trödler
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Der Lustmörder Dittrich.
211
gemeinschaftlich mit einigen 10- bis 12jährigen Kindern
im Taschendiebstahl unterrichtet worden sei, in einer so-
genannten Klingelschule. „Näher tretend,“ so sagt er wört-
lich, „gewahrte ich nunmehr, daß ich eine täuschend nach-
geahmte Puppe in Lebensgröße vor mir hatte, welche
durch eine um den Hals gelegte Schnüre mittels Rolle an
der Decke angebracht war. Das Seltsame an dieser Ge-
stalt, welche elegant und zwar mit Hut und Allem be-
kleidet war, war, daß aus jeder Tasche etwas hervor-
guckte. Ein Buch, Brieftasche, Taschentuch und anderes
mehr. Ja selbst eine Uhr und Kette fehlte dieser seltsamen
Erscheinung nicht. — Nun aber hört die Hauptsache. —
An jeder Tasche und jedem der genannten Gegenstände
w T aren kleine Klingeln angebracht, welche bei der leisesten
Berührung ihr melodisches Tönen hören ließen.“
Mit lächerlicher Breite geht Dittrich auf seine Übungen
im Taschendiebstahle, am „Klingelmann“ ein, schildert
eingehend, welche Mühe und wie manchen Schweißtropfen
es ihn gekostet habe, bis er die Uhr, ohne daß die Klingel
ertönte, abhängen konnte, und wie er schließlich von H. „zum
Gesellen erklärt worden sei,“ dann hätten sie gemeinschaft-
lich Reisen unternommen, die „guten Gewinn“ abgeworfen
hätten, so daß er seine Schulden hätte bezahlen und ein
sorgloses Leben führen können, wenn ihn nicht das
Verhältnis mit Anna zu viel gekostet hätte. Diese sei sehr
anspruchsvoll gewesen. Zwar habe er sie manchmal ab-
zuschütteln versucht, aber immer vergebens. Schließlich
habe er sich darein ergeben, dieses Anhängsel für immer
mit sich herumschleppen zu müssen.
Zu seinem Bekanntenkreise habe auch ein gewisser
W. gehört, ein Berliner, der, wenn er nach Dresden kam,
stets heiter und guter Dinge und stets bei Kasse gewesen
sei. Meistens sei er mit „Sore“ gekommen, d. h. mit
Diebesbeute, um sie in Dresden zu „verschärfen“, also zu
versilbern. Er sei in unregelmäßigen Pausen aufgetaucht,
D«r Pitaval der Gegenwart. IV. 15
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212
Brendler.
ohne zu verraten, wo er die Zwischenzeit verbringe. Eines
Tages sei er verschwunden gewesen und lange, lange Zeit
nicht wieder aufgetaucht Alle Nachforschungen seien ver-
geblich gewesen und er und seine Freunde hätten sich
schon an den Gedanken gewöhnt gehabt, ihn niemals
wiederzusehen, als er eines Tages plötzlich wieder in
Dresden erschienen sei, aber gänzlich verändert. Der
früher so heitere und gesellige junge Mannsei mürrisch, ver-
drießlich und verschlossen, teilnahmlos und gleicbgiltig
geworden; zwar habe er auch diesmal über ansehnliche
Geldmittel verfügt und sie mit vollen Händen ausgegeben,
aber es habe ihm sichtlich nichts Freude gemacht.
Schließlich sei er sogar ausfallend und grob geworden,
so daß alle über seine endliche Abreise froh gewesen seien.
Bald aber sei er wie ungewandelt wiedergekommen und
habe seine Geliebte Namens Hilma, ein wunderschönes
Mädchen, mitgebracht. Nun sei eine festliche Zeit an-
gebrochen, bei der es an frohen Gelagen nicht gefehlt
habe, deren Kosten in der Hauptsache W. getragen habe.
Er habe aber wahrgenommen, daß H., W. und die Hilma
einen gemeinsamen Plan verfolgten, und es sei ihm zu-
nächst trotz aller Mühe nicht gelungen, dahinter zu
kommen, so daß er schließlich bereits eine Trennung von
den Gefährten in’s Auge gefaßt habe. Durch seine Schlau-
heit habe er aber endlich doch erfahren, um was es sich
handle.
Es ist bezeichnend für Dittricbs Denkweise, daß er
bei der Darstellung dieser Vorgänge, wie bei der ganzen,
ja von Anfang bis Ende erfundenen Geschichte mit ge-
radezu lächerlicher Selbstgefälligkeit seine Person in den
Vordergrund rückt und seine Schlauheit, Tatkraft, Umsicht
und Ruhe bei jeder Gelegenheit betont. Dabei schildert
er unbedeutende Nebenumstände mit geradezu epischer
Breite, besonders gern bei den ihm von den in der Ge-
schichte mehr oder weniger episodisch auftretenden Frauen-
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Der Lustmörder Dittrich.
213
zimmern angeblich entgegengebrachten Liebenswürdigkeiten
verweilend. Infolge dieser ganz unbegründeten Redselig-
keit und Kleinmalerei nimmt die Schilderung der Ent-
deckung des geheimen Planes durch ihn beinahe den
fünften Teil der ganzen Erzählung, die 43 enggeschriebene
Folioseiten füllt, ein.
Nun läßt er W. erzählen, warum er bei seinem letzten
Hiersein so verstimmt gewesen sei. Der langen Rede
kurzer Sinn ist folgender. W. hätte im Auslande einen
ungeheuren Diebstahl begangen. In Wien hätte er die
„Sore" im Werte von über 100000 Mark „verschärfen“
wollen. Der Hehler hätte aber nicht selbst den Käufer
spielen wollen, sondern hätte ihn mit der Diebsbeute in ein
kleines Städtchen an der deutsch-österreichischen Grenze
mitgenommen. Dort wohne ein reicher Mann in einer mit
den herrlichsten Kunstschätzen, Gold- und Silbergeräten
und dem größten Prunke ausgestatteten Villa, ein früherer
Bankier, der jetzt den Wucherer mache und gestohlene
Sachen ankaufe. Dieser Schurke hätte ihn, W., insofern
betrogen, als er ihm für die ganze, so überaus wertvolle
„Sore“ anstatt 50000 Mark, wie er verlangt habe, nur
10000 Mark gegeben hätte. Er, W., habe damals wohl
oder übel mit diesem Sündengelde zufrieden sein müssen,
denn er habe keine Wahl gehabt, als entweder das Geld
zu nehmen oder sich von dem Hehler der Polizei aus-
liefern zu lassen.
Dafür sollte nun Rache genommen werden, und zwar
wollten die Genossen nicht nur die fehlenden 40000 Mark,
sondern überhaupt das ganze bewegliche Vermögen des
Exbankiers rauben.
Dittrich schreibt: „Dem Schuft — Kräftige Revanche! — “ ,
und fährt dann fort:
„Es wurde nunmehr Alles noch einmal genau durch-
gesprochen und die Verabredung getroffen; — wonach
zuerst Hilma nach jenem Orte reisen und die Bekannt -
15*
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214
Brendler.
schaft des Alten, der ein Wüstling und großer Liebhaber
von schönen, jungen Mädchen war, machen sollte. Ihre
weitere Aufgabe war es, anfangs die Spröde zu spielen
und ihn durch vorherige Lockung und nachfolgende Ver-
sagung seiner etwaigen Wünsche seine Leidenschaft immer
mehr zu reizen und ihn dadurch ganz an sich zu fesseln.
Und das verstand Hilma ja meisterhaft. War es dann so-
weit gekommen, daß sie den Alten, der unverheiratet war,
und außer dem alten Diener, nur Köchin, Stubenmädchen
und einen Kutscher, der zugleich Gärtner spielen mußte,
bei sich batte, in der Villa selbst besuchen konnte, so
sollte sie sich, ohne dem Alten etwaige weitere Vertrau-
lichkeiten zu erlauben, in dessen Hause genau orientieren,
dann aber sofort Nachricht geben und auf weitere In-
struktionen warten. Inzwischen sollte H. etwas Beruhigendes
für die Hunde und die Dienerschaft besorgen und dann
wollten wir per Rad selbst kommen. Hilmas Rad sollte
von uns raitgebracht werden. Alles Übrige sollte erst an
Ort und Stelle und zwar nach Hilmas Darstellung der
Sachlage beraten werden. — Dabei blieb es. — Schon
am nächsten Tage reiste sie, von W. reichlich mit Geld ver-
sehen ab, uns in gespannter Erwartung zurücklassend. — ....
Schon nach einigen Tagen traf ein Brief von ihr ein,
dessen Inhalt ganz unsern Erwartungen entsprach. Es
war ihr bald gelungen, nach W.s Angaben, den Alten aus-
findig zu machen und war jetzt in voller Arbeit und lebte
der besten Hoffnung, ihr Ziel baldigst zu erreichen. Ihr
ganzes Schreiben strotzte von höhnischen Bemerkungen,
und rachsüchtigen Gefühlen gegen den Mann, der den
Stolz ihres Lebens (!) so betrogen hatte. Mehr als einmal
gab sie der Hoffnung Ausdruck, daß der zu führende
Schlag glücklich sein und uns eine reiche Beute zuführen
möge. In erwartungsvoller Freude sprach sie von dem
Schmuck, den W. ihr versprochen und dessen Erringung
ja ganz in ihren Händen lag. So durften wir getrost dem
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Der Lustmörder Dittrich.
215
weiteren Verlauf der Angelegenheit entgegen sehen, denn : —
Hilma baldowerte gut! — “
Er erzählt dann weiter, wie der nächste Brief der
Hilma ihnen gemeldet habe, daß der Zeitpunkt für die
Ausführung des Planes gekommen sei, wie sie mit dem
Zweirad nach dem Städtchen geeilt und dort von Hilma
empfangen worden, in den Garten und schließlich in das
Haus des alten Hehlers geführt worden seien, wie Hilma mit
den ihr von H. mitgebrachten Betäubungsmitteln die Hunde,
die [Dienerschaft und den Alten selbst bewußtlos [gemacht
habe, und fährt dann wörtlich fort:
„Ohne längeren Aufenthalt ging es nun unter Hilmas
Führung nach der ersten Etage. Völlige Dunkelheit um-
gab uns, nur zuweilen von H.s Sicherheitslaterne unter-
brochen, welche er angezündet hatte, und die er nach
kurzer Beleuchtung jedesmal sofort wieder mit dem Ver-
schluß sicherte. Bald waren wir oben. Lauschend standen
wir still. Kein Laut war zu hören. Grabesruh’ herrschte
überall.
Hilma führte uns in jenes Zimmer, aus welchem vor-
her ihr Lachen zu uns niedergedrungen war und wollte
eben ein Licht anzünden, als |ein leises Stöhnen aus dem
Nebenzimmer hörbar wurde. Er! flüsterte sie uns zu, und
angestrengt lauschten wir. „Er,; — ist wohl noch munter?“
fragte jetzt W. leise. „Das glaube ich nicht! — “ kam
ebenso vorsichtig die Antwort von Hilma, welche jetzt
leise nach besagtem Zimmer huschte und darin verschwand.
Einige Minuten, dann kehrte sie wieder und berichtete,
daß er unruhig schliefe. „Dann an’s Werk !“ komroandirte
H., der jetzt seine Laterne voll öffnete und uns dadurch
einen Überblick des Zimmers gestattete.“
Die Raubgesellen mit ihrer Konkubine fallen nun über
die Reste des „Soupers“ her, das der Alte eben ein-
genommen und wobei ihm Hilma Gesellschaft geleistet
und den Schlaftrunk gemischt hatte. Dann betraten sie
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216
Brendler.
das Schlafzimmer, um den Geldschrank zu leeren. W.
öffnet ihn gewandt mit den Schlüsseln, die Hilma dem
schlafenden Besitzer aus der Tasche genommen hat.
Dittrich schildert den Eindruck, den der geöffnete Geld-
sehrank auf sie gemacht habe, folgendermaßen. „ — Welcher
Anblick, bot sich da unseren Augen. — Zierlich auf-
geschichtet türmten sich die kleinen uns so bekannten
Goldrollen an den Hinterwänden des Schrankes auf. Flan-
kiert von straffgefüllten Leinwandbeuteln, welche uns reichen
Gewinn verhießen. Im Vordergründe standen zierliche
Drahtkörbchen, deren goldener Inhalt uns verführerisch
lockte. Basch wurde Alles in die mitgebrachten Taschen
verpackt. Dann ging es an das Sondiren der Schubfächer.
Außer mehreren Kästchen mit losem Gesteine von respek-
tablem Werte, fielen uns viele Etuis in die Hände, deren
blitzender Inhalt Hilmas Herz höher schlagen ließ. Doch
die Hauptsache bestand für uns in den mancherlei Päckchen,
wohlsortierter und verpackter Kassenscheine und Bank-
noten, welche wir im untersten Schrankfach, hinter den
mächtigen Büchern gut versteckt, auffanden.“
Im Hintergründe stehen zwei Koffer, sie werden rasch
und leicht geöffnet. Ihren Inhalt beschreibt Dittrich wie
folgt:
„Im vollen Lichte der Laterne II.s, strahlten und
blitzten uns aus den Tiefen der Koffer herrliche Gerät-
schaften in edlem Golde und Silber entgegen. — Da gab
es außer echten Besteckes, prachtvolle Schaalen und Teller,
Stücke aus Tafelaufsätzen, sowie die traurigen, doch auch
in ihren Ruin den Beschauer noch überwältigenden Trümmer,
ehemaliger kirchlicher Geräte, als Kelche, Monstranzen,
Patenen, Leuchter usw “
Plötzlich läßt einer der Bande aus Ungeschick einen
Kofferdeckel zufallen. Das Geräusch weckt den schlafenden
„alten Hamster“, entsetzt sieht er die Räuber in seinem
Schlafzimmer hausen und richtet sich vom Bette auf. Da
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Der Lustmörder Dittrich.
217
springt W. hinzu und „hält dem zum Tode erschrockenen
Greis seinen blitzenden Böller vor. Dumpfgrollend kam
es aus seinem Munde: „Keinen Laut, — sonst! — “
Nun hält ihm W. eine Strafpredigt, der Alte bettelt
um sein Leben und W. sagt: „Das soll dir geschenkt
sein, denn daran liegt uns verdammt wenig! Unsre Ab-
sicht ist die, dich einmal in die Lage zu versetzen, wie
es Anderen zu Mute ist, wenn Du sie um ihr bischen
Hab’ und Gut betrogen hast! Alles Übrige liegt uns fern!“
Hieran knüpft Dittrich eine tiefsinnige Betrachtung.
Er sagt:
„Es mag wohl in diesem Moment keiner von uns
daran gedacht haben, daß wir eigentlich in derselben Lage
waren, wie der von uns Beraubte. Es ist dies nun ‘ein-
mal der Welt Lauf. Wohl sieht man den Splitter im Auge
des Anderen, aber den Balken im eigenen Auge sieht man
nicht!“
Schließlich kommt, als sie sich eben zum Abzug an-
schicken, der Kutscher des Beraubten hinzu, wird von W.
in den Arm geschossen und so unschädlich gemacht, und es
gelingt den Räubern, mit ihrer Beute „über 300000 Mark
an barem Gelde und Banknoten, außer der übrigen Sore“,
sich in Sicherheit zu bringen. Die kirchlichen Geräte
übergibt er einem Geistlichen, die aufgefundenen Schuld-
scheine armer Witwen werden den Ausstellerinnen zurück-
gegeben!
Der Schluß der famosen Erzählung lautet wörtlich:
„Doch das Merkwürdigste an der ganzen Geschichte
bleibt wohl die wahre Tatsache, daß wir nie, damals und
auch später nicht, etwas gehört haben, woraus wir schließen
durften, daß die Gendarmerie davon Kenntnis hatte. . . .
Noch manche Unternehmung wurde gemeinschaftlich aus-
geführt, doch nie eine so ergebnisreiche, wie diese
Da ich mein Geld keinem Lebenden anvertrauen konnte,
so mögen es mir die Toten verwahren. In einem Kinder-
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218
Brendler.
grabe habe ich zwei Kästen mit dem Schatze versenkt.
Dort , mag er ruhen, bis W. und Hilma, welche ebenso
unglücklich wie ich, jetzt noch im Gefängnisse schmachten,
den Tag ihrer Erlösung schauen. Sie werden sich freuen
und in Wehmut meiner gedenken. Dies soll mein Trost
sein. —
Für sie, denen ich, durch heilige Schwüre verbunden
bin, will ich es gern bewahrt haben. Mögen sie so glück-
lich werden, als wie ich jetzt unglücklich bin. Mein Leben
ist zu Ende, und habe ich von meinen 33 Jahren wenig
Gutes gehabt. — Hoffentlich darf ich bald meinem H.
folgen, welcher schon lange vor mir in die Gefilde des
Todes hinüber mußte.
— Doch halt! — Schluß! Nur nicht weich werden!
Ende.
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Fall Ziegler. Ein Diebstahl aus Aberglauben. ')
Von
Dr. Albert Hellwig (Berlin-Hennsdorf).
In meinen Skizzen über „Diebstahl aus Aberglauben“ 1 2 )
habe ich nachgewiesen, daß abergläubische Bräuche und
Meinungen mancherlei Art zu Diebstählen Anlaß geben
können und auch tatsächlich Anlaß geben. Immerhin
beschäftigt die deutschen Gerichte ein derartiger Fall ver-
hältnismäßig selten. Deshalb dürfte es sich rechtfertigen,
wenn wir hier einen derartigen Diebstahl auf Grund der
Akten ausführlich darstellen und durch analoge Sitten
beleuchten.
Am 2. Mai 1904 fand vor der ersten Strafkammer des
kgl. Landgerichts zu Ratibor eine Verhandlung statt gegen
die Arbeiterfrau Franziska Ziegler, geb. Prass aus Rybnik
wegen schweren Diebstahls im Bückfalle. Sie war ange-
klagt „im Januar 1904 zu Rybnik eine fremde bewegliche
Sache, eine Kirchenstola, der Pfarrkirche zu Rybnik ge-
hörig, in der Absicht rechtswidriger Zueignung wegge-
nommen zu haben und zwar aus einem zum Gottesdienst
bestimmten Gebäude als Gegenstand, welcher dem Gottes-
1) Aufmerksam machte mich auf diesen Fall Polizei-Bureau-
Assistent Eugen Kannewischer in Ratibor, worauf ich die Akten
— 4L 29/04 — von der Staatsanwaltschaft bei dem Kgl. Landgericht
zu Ratibor erbat und erhielt.
2) Im „Archiv für Kriminalanthropologie“ XIX p. 286/89 und
XXVI p. 37/49.
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220
Fall Ziegler.
dienste gewidmet ist, und zwar nach mehrmaliger Vorbe-
strafung wegen Diebstahls unter den Voraussetzungen des
strafschärfenden Rückfalles — Verbrechen gegen die §§
242, 243 No. 1, 244, 248 St. G. B. — “
Von den persönlichen Verhältnissen der Angeklagten
ist folgendes hervorzuheben. Sie ist 1851 geboren in
Orzepowitz (Kr. Rybnik), katholischer Konfession, mehr-
mals vorbestraft wegen Beleidigung, Körperverletzung usw.
Wegen Diebstahls war sie 1888 zu zwei Wochen, 1894 zu
einer Woch.e Gefängnis verurteilt worden. Am 8. Januar
1904 stand sie vor dem Landgericht zu Ratibor unter der
Anklage des schweren Diebstahls und wurde unter An-
nahme mildernder Umstände zu einem Jahr Gefängnis
verurteilt.
Einige Tage später fand die Gefängnisaufseherin Welke
in den Kleidern der Gefangenen eine Stola eingenäht.
Auf Befragen erklärte die Ziegler, kurz vor ihrer Ver-
haftung sei in ihrer Wohnung eine ihr unbekannte Frau
erschienen, die ihr erzählte, im Besitze einer Stola wäre
man gegen jede gerichtliche Verurteilung gesichert. Die
Unbekannte habe ihr dann eine Stola gegeben, mit dem
Bemerken, der Pfarrer habe sie ihr geborgt. Die Angeklagte
will die Absicht gehabt haben, die Stola wiederzurückzu-
geben nach Beendigung der Verhandlung gegen sie, sei
daran aber durch ihre sofortige Verhaftung im Gericht
gehindert worden.
Den Angaben der Angeklagten über die Herkunft der
Stola ist kein Glaube beizumessen. Wie durch zeugen-
eidliche Aussagen des Pfarrers Dr. Brudniok zu Rybnik
festgestellt ist, ist die betreffende Stola Eigentum der katho-
lischen Kirche zu Rybnik. Der Zeuge stellt ferner ent-
schieden in Abrede, je eine Stola verborgt zu haben.
Seiner Meinung nach wird die Stola wahrscheinlich aus
einem Beichtstuhl, in dem sie hängen geblieben war, oder
aus der Sakristei, in der Stolen stets frei herumhängen,
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Ein Diebstahl aus Aberglauben.
221
genommen sein. Das Fehlen der Stola, deren gegenwär-
tiger Wert auf etwa 2 M. geschätzt wird, wurde erst be-
merkt, als nach Anzeige von Seiten der Polizei die Stolen
von den Kirchenbeamten durchgezählt wurden. Dies ist
das erstemal, wo dem Zeugen eine Stola abhanden ge-
kommen ist Der von der Ziegler angegebene Aberglaube
ist ihm nicht bekannt. Einen bestimmten Verdacht gegen
irgend jemand können weder der Zeuge noch die übrigen
Kirchenbeamten äußern.
Da es aber festgestellt ist, daß der Pfarrer keinesfalls
jener angeblichen Unbekannten eine Stola geliehen, da es
ferner an und für sich mehr als unwahrscheinlich ist, daß
jemand einer ihm völlig unbekannten Person solche Dienste
leisten soll, wie angeblich die Unbekannte der Angeklagten,
da schließlich die Stola im Besitz der Angeklagten vor-
gefunden wurde und da diese wußte, daß die Stola aus
der Rybniker Pfarrkirche stammt, so muß daraus geschlossen
werden, daß die Angeklagte selbst die Stola aus der Kirche
oder der Sakristei entwendet hat. Auch daß die Ange-
klagte nicht die Absicht rechtswidriger Zueignung gehabt
habe, die Stola vielmehr nach ihrer Benutzung im Dieb-
stahlstermin der Pfarrkirche wieder habe zustellen wollen,
kann der ganzen Sachlage nach nicht geglaubt werden,
denn es muß angenommen werden, daß die abergläubische
Angeklagte bestrebt gewesen wäre, einen ihrer Meinung
nach so kräftigen und wertvollen Talisman wie die Stola
sich für künftige Bedarfsfälle aufzubewahren. Die Ziegler
wurde auch im Sinne der Anklage für schuldig befunden.
Da die letzte, den strafschärfenden Rückfall bedingende
Strafe fast zehn Jahre zurückliegt, wurden der Angeklagten
mildernde Umstände zugebilligt Da ferner der Wert des
Gestohlenen sehr klein war, es sich andererseits aber um
eine geweihte Sache handelte, wurde eine Gefängnisstrafe
von einem Jahr und sechs Monaten als eine angemessene
Sühne erachtet, die mit der am 14. Januar 1904 erkannten
Digitized by Google
222 Fall Ziegler.
auf eine Gesamtstrafe von zwei Jahren Gefängnis zusammen-
gezogen wurde.
Daß der Diebstahl in der Tat auf Aberglauben zurück-
geführt werden muß ergibt sich aus dem Objekt, das, an
und für sich minimalen Wertes, von der Diebin überhaupt
nicht verwendet werden konnte. Es liegt auch kein Grund
vor, daran zu zweifeln, daß der von der Ziegler angegebene
Glaube wirklich das Motiv zu der Tat war. Ob der Glaube,
eine Stola, die der Verbrecher bei sich trägt, schütze ihn
vor gerichtlicher Verurteilung, allerdings ein in weiteren
Kreisen verbreiteter Aberglaube ist, oder ob er nur die
individuelle Prägung des allgemeineren Prinzip des Volks-
aberglaubens ist, daß ihrer Herkunft nach aus dem Rahmen
des Alltäglichen hervorstechende Sachen, so Körperteile von
Leichen, der Strick eines Gehenkten, zum Gottesdienst ge-
brauchte Sachen usw. auch besondere Eigenschaften haben,
insbesondere dem Verbrecher mancherlei Nutzen bringen, das
vermag ich nicht zu sagen. 1 )
So viel ist jedenfalls sicher, daß das eben genannte
allgemeine Prinzip in den mystischen Volksanschauungen
eine große Rolle spielt. Es mag für unsere Zweck genügen,
hier nur einige wenige Belege dafür zu geben. So wird
aus der Gegend von Kreschow berichtet, daß dort der
Glaube herrsche, der Besitz des Strickes, an dem sich jemand
aufgehangen habe, bringe dem glücklichen Besitzer alle
möglichen Vorteile, sichere ihn u. a. auch vor Entdeckung
beim Diebstahl 2 ). Nach einem huzulischen Volksglauben
führen zu gleichem Zwecke die Diebe die kleine Zehe
eines hingerichteten Verbrechers mit sich 3 ). Man muß die
Verbrecher durchaus nicht für Atheisten halten: Im Gegen-
1) Die Frage kann nur auf Grund einer in verschiedenen
volkskundlichon Zeitschriften veröffentlichten Umfrage entschieden
werden und ich will versuchen, diesen Weg einzuschlagen.
2) E. Haase , Diebzauber“ in „Am Urquell“ III (1892) p. 220.
3) Kaindl, „Zum Diebglauben“ in „Am Urquell“ IV(1893) p. 199.
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Ein Diebstahl aus Aberglauben.
223
teil, sie sind meistens sogar sehr religiös, allerdings auf
ihre eigene Art. 1 ) Der italienische Verbrecher, gleichviel
welcher Kategorie, wird selten eine Straftat begehen, wenn
er nicht zuvor einige Vaterunser gebetet hat 2 ). Casanova
bemerkt, daß alle diejenigen, die von unerlaubtem Handwerk
(als Verbrecher) leben, auf Gottes Hülfe vertrauen 3 ). Der
bayerische Verbrecher bat fast immer einen Rosenkranz
bei sich, wie dies ja z. B. auch der Fall war bei Matthias
Klostermeyer, dem bayrischen Hiesel 4 ). In einem interessanten,
im Verbrecherjargon abgefaßten Lied, welches Biondelli
veröffentlicht hat, antwortet ein Räuber, dem man vorwirft,
daß der Diebstahl gegen die religiösen Gebote verstoße,
daß ein heiliger Räuber, San Disma, doch im Himmel sei 5 6 ).
Wie weit der Glaube der Diebe an die Unterstützung durch
die Himmlischen geht, zeigen auf das frappanteste zwei
Beschwörungen, die man bei russischen Verbrechern gefunden
hat''). Ein Schränkzeug (Einbruchswerkzeug), in das Ol
1) Über religiösen Verbrecheraberglauben werde ich demnächst
in der ^Zeitschrift für Religionspsychologie“ (Halle a. S.) ausführ-
lich handeln.
2) Nach brieflichen Mitteilungen des Schriftstellers Alfred
Hafner (Hamburg), eines genauen Kenners der Verbrecherwelt aus
eigener Anschauung.
8) Casanova „Memoires“ p. 842. (auch bei Cesare Lom-
broso „L’uomo deliquente* (Vol. I. quarta ed. Torino, 1889» p. 435
4) H afner a. a. 0.
5) Cesare Lombroso a. a. 0. I p. 436.
6) Löwenstimm ^Aberglaube und Strafrecht“ (Berlin 1897)
p. 127 fF. — Wir können uns nicht versagen, wenigstens die eine
von ihnen hier im Wortlaut wiederzugeben: „Im Namen des Vaters,
des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen! Ich Knecht Gottes
gehe auf dunkclcn Pfaden und moincu Weg; mir entgegen kommt
der Horr Jesus Christus selbst aus dem herrlichen Paradiese, ge-
stützt auf einen goldenen Krummstab, behängen mit seinem goldenen
Kreuze. Zu meiner Rechten ist die Mutter Gottes, die Heilige Gottes-
gebärerin, mit Engeln, Erzengeln, Seraphen und mit himmlischen
Mächten. An meiner Linken steht der Erzengel Gabriel und über
mir der Erzengel Michael. Hinter mir, dem Knechte Gottes, fährt
224
Fall Ziegler.
der ewigen Lampe vor einem Muttergottesbilde getaucht,
soll eine Art Springwurzel sein, der kein Schloß widerstehen
kann ')• Die Schmuggler und Wilderer an der sächsisch-
böhmischen Grenze halten ein Fläschchen gestohlenen Weih-
wassers für unfehlbar gegen Hieb und Stich *). Bekanntlich
trug auch Musolino bei seiner Verhaftung ein Fläschchen
Weihwasser bei sich, gegen dessen Wegnahme er sich heftig
sträubte 3).
Diese Beispiele, die sich leicht vermehren ließen 4 ) }
dürften zur Genüge erweisen, daß dem Verbrecher das
Antireligiöse seines Tun und Treibens garnicht zum Bewußt-
sein kommt, daß für ihn Religion und Mystik identische
Begriffe sind, daß er ebensogut den Strick eines Gehängten,
wie Beten eines Rosenkranzes, gestohlenes Weihwasser oder
eine gestohlene Stola als kräftige Zaubermittel zur Erreichung
seiner lichtscheuen Ziele benutzen zu können wähnt.
der Prophet Elias auffeurigem Wagen , er strahlt Feuer aus und
reinigt meinen Weg und deckt mich zu mit dem Heiligen Geist und
mit dem lebenspendenden Kreuzo des Herrn. Das Schloß der Mutter
Gottes, der Schlüssel Petri und Pauli. Amen!“
1) Dies ist Hafner von einem bekannten österreichischen
Schränker mitgeteilt worden.
2) Derselbe.
3) Derselbe.
4) Über Prozeßtalismanc und über Verbrechertalismane habe
ich zahllose Materialien gesammelt, die ich nach und nach verwerten
werde. Hasen- und Kaninchenpfoten, Bohnen und Erbsen sowio
Totenkerzen habo ich ausführlich besprochen in meiner Skizze über
„ Eigenartige Verbrechortalismane“ im „Archiv für Krimalanthropologie
und Kriminalistik“ Bd. XXV S. 76 87. Vgl. ferner meine Abhandlung
,,Der kriminelle Aberglaube in seiner Bedeutung für die gerichtliche
Medizin („Ärztliche Sachvcrständigen-Zeitnng“, Berlin 1906, Nr. 16 ff.),
§§ 14 und 15. Weiteres über derartige Talismane werde ich in
meinem in einigen Wochen bei B. G. Teubner, Leipzig, erscheinenden
Bändchen über „Verbrechen und Aberglaube“ veröffentlichen. Spe-
ziell über religösen Verbrecheraberglaubcn bringt zahlreiche wert-
volle Materialen Francesco Cascclla „11 brigantaggio“ (Aversa
1907), S. 163 178, 108.
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Ein Dicbstaiil aus Aberglauben. 22 5
Was insbesondere die Benutzung der Stola zu zauberischen
Zwecken anlangt, so kann ich auch hierüber einige Materialien
beibringen.
In den Abruzzen legt man in einzelnen Gegenden unter
das Kopfkissen der Wöchnerin ein Stück einer Stola, um
die bösen Einflüsse der Hexen abzuwehren 1 ). Ähnlich
besprengt man in der Oberpfalz den Sterbenden nicht nur
mit Weihwasser, um die bösen Geister abzuwehren, sondern
legt ihm auch eine Stola unter den Kopf 2 3 ). Auch in
Steiermark spielt bei dem sogenannten „Totenbahrziehen“
einem abergläubischen Gebrauch, durch den man meint,
auf übernatürliche Weise reich zu werden, die Stola
eine große Rolle, und zwar dient sie auch hier wieder als
Talisman zum Schutze gegen Teufel und Dämonen :, j.
In Schwaben müssen die „Teufelsbanner“ eine ge-
stohlene echte Stola und ein Cingalum besitzen, wenn sie
den Teufel aus dem Stalle treiben wollen. 4 ) Im Jahre
1717 fand eine Untersuchung gegen einen Schuhmacher
von Renhardsweiler statt, welcher zuweilen mit einigen
liederlichen Leuten das sogenannte „Christopheigebet“
betete und sich vom Mesmer ein Kelchtuch, eine schwarze
Stola und einen Gürtel geliehen haben wollte, um damit
Schatzbeschwörungen vorzunehmen. 5 ) Auch in diesen
beiden Fällen wird die Stola zur Dämonenabwehr ge-
braucht.
Diese Anwendung der Stola im Aberglauben paßt
1) Gennaro Finamore „Tradizioni popolari Abruzzesi“
(Torino, Palermo 1894) p. 69.
2) Adolf Wuttke „Der deutscho Volksaberglaube der Gegen-
wart“, 3. Bearbeitung von Elard Hugo Meyer (Berlin 1900)
§ "28. —
3 ) Viktor Fossel „Volksmedizin und medizinischer Aber-
glaube in Steiermark“, 2. Auf). (Graz 1886) p. 36 f.
4) Anton Birlinger „Sagen, Legenden, Volksaberglauben“,
Bd. I (Wiesbaden 1874» p. 406.
5) Ebendort p. 398.
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226
Fall Ziegler.
vortrefflich zu dem Gebrauch, welchen die Angeklagte
angeblich von ihr machen wollte. Denn im niederen Volk
ist das prozessuale Ringen und Streiten um die irdische
Gerechtigkeit gar vielfach noch nichts anderes, als ein
Kampf einander feindlicher Dämonen, gegen die es sich
zu wehren gilt. Daß das Verbrechen moralisch verwerflich
ist, kommt sehr vielen Gewohnheitsverbrechern gar nicht
zum Bewußtsein, wie wir schon aus obigen wenigen über
den religiösen Aberglauben der Verbrecher beigebrachten
Belegen ersehen können. Wir verstehen es daher, wenn
die alte Ziegler sich durch eine Stola gegen die bösen
Dämonen zu wehren sucht, welche ihre Verurteilung her-
beizuführen bestrebt sind.
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Anonyme Briefe.
Von
Amtsrichter Dr. Weidlich, Stuttgart -Cannstatt.
Im Jahr 1899 wurde die württembergische Oberamts-
stadt N. durch anonyme Briefe in langandauernde Aufre-
gung veraetzt. Obwohl gewerbe- und industriereich, trägt
die Stadt in ihrem geselligen Leben den Charakter einer
Landstadt. Zu den angesehensten Familien der Stadt ge-
hören die zahlreichen Angehörigen der weitverzweigten
und teilweise sehr reichen Fabrikantenfamilie 0. Senior
der Familie war damals der ehrwürdige alte Fabrikant
Karl 0.
Einer seiner Söhne, der Kaufmann Emil 0., hatte in
N. ein Geschäft in Leinen-, Baumwoll- und Aussteuer-
artikeln betrieben. Er war im Jahr 1892 mit Hinter-
lassung einer Witw r e und mehrerer Söhne und Töchter
gestorben; sein Geschäft wurde von der Witwe und ihren
Töchtern weiterbetrieben. Mit irdischen Glücksgütern war
dieser Zweig der Familie 0. weniger gesegnet, doch hatten
die Kinder sämtlich eine sorgfältige Erziehung genossen;
das Familienleben war mustergültig.
Die beiden ältesten Töchter Lydia und Johanna waren
zu hübschen, frischen Mädchen von 21 und 19 Jahren heran-
geblüht und eben in die Gesellschaft eingetreten. Ihr Euf
war tadellos und sie gefielen.
Zu Neujahr 1 899 erhielt Lydia 0. eine anonyme Post-
karte mit einem Vers, der schloß: „Bestrebt bist Du ja
Der Pitaval der Gegenwart IV. 16
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228
Weidlich.
immerdar, recht viele in Dein Netz zu kriegen.“ Die
Schreiberin mußte wohl eine Neiderin sein; N. ist auch
darin Landstadt, daß wohl ziemlich viele junge Mädchen,
aber verhältnismäßig wenige heiratsfähige junge Männer
in der Gesellschaft verkehren.
Seit kurzer Zeit waren aber mehrere neue Sterne am
Heiratshimmel von N. aufgegangen: einige Kaufmanns-
söhne, ein Finanzamtmann und vor allem ein Fabrikant
B. aus der benachbarten Industriestadt R., der sich mit dem
Ziegeleibesitzer K. in N. assoziiert hatte und schon von
früher her in N. bekannt war.
Fabrikant B. hatte sich rasch für die liebenswürdige
Lydia 0. erwärmt und bewarb sich offen um sie. Da ging
ihm am 25. September 1899 folgender Brief aus N. zu:
„Obgleich ich anonyme Briefe als tadelnswert er-
achte, so möchte ich doch in diesem Fall eine Ausnahme
machen, da mich nur die beste Absicht leitet und Sie
mir zu fremd sind, um mit Ihnen über die Sache zu
reden. Mein Interesse für Sie haben sie Ihrer lieben
Mutter zu verdanken, die mir einst einen großen Dienst
erwiesen hat. — Haben Sie denn noch gar nicht bemerkt,
daß ein gebildetes, liebenswürdiges Mädchen hier Sie
lieb hat, verstehen Sie wohl, Sie selbst, denn da sie
aus sehr vermöglicher Familie ist, hat sie selber ein
schönes Vermögen zu erwarten. Sie ist hübsch, einfach
und bescheiden und da sie wenig in Gesellschaft kommt
auch von Natur mehr zurückhaltend ist, so ist es begreif-
lich, daß Sie keine Ahnung davon haben; doch weiß
ich, daß Sie sie kennen, sie ist die mittlere von drei
Schwestern und von tadellosem Ruf. Durch einen
strengen, heftigen Vater haben die Kinder manche trübe
Stunde. Daß sie Sie gern hatte, schon als Schulmädchen,
wußte ich schon lange; daß diese Neigung heute aber
noch festsitzt, wurde mir vor einiger Zeit klar, als ich
ihr zusprach, die Bewerbung eines Anderen anzunehmen.
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Anonyme Briefe.
229
Ich bin eine alte einsame Frau, die wenig ausgeht und
viel Besuch bekommt, und der sich manches junge Herz
öffnet! Ira Haus Ihres Associö’s (K.) verkehre ich dann und
wann und selbst die durch ihre böse Zunge bekannte
Frau desselben ist Ihres Lobes voll ; deutlicher kann und
will ich es jetzt Ihnen nimmer sagen; Sie können jetzt
darauf kommen und würden gewiß glücklich und be-
friedigt.
Wissen Sie, daß Frl. 0., Witwe O.’s Tochter neben der
Krone, sich öffentlich Ihrer Aufmerksamkeit rühmt, Sie
seien Hausfreund, machen ihr Geschenke, um sie zu
rühren etc. — es sind ihre eigenen Worte. Ich kann
es kaum glauben, daß Sie an solchem oberflächlichen,
anspruchsvollen und vergnügungssüchtigen Mädchen Ge-
fallen finden; da ist alles falsch und Lug und Trug,
Mutter wie Töchter, da wird stets mit dem großen Messer
aufgeschnitten, wenn sie was sagen. Und das Schlimmste
ist, daß die Mädchen leichtsinnig sind; was war das
vor zwei Jahren ein Skandal, wie Frl. Lydia sich mit
Herrn Tr. abgab bis spät in die Nacht im Steinenberg,
dann die H. . .’s, Schw. . ., Br. . ., — Gott, wenn man
da alle herzählen wollte! Jeder hat sich eine Weile
amüsiert, dann Adieu. Und was hörte man alles von
der Jüngeren, . . . nein, da kann man einem rechten
Mann bloß raten: Hand davon!
Es ist ja schön von Ihnen, daß Sie bei der Wahl
Ihrer Frau nicht auf Vermögen sehen; wenn man die
Familie aber noch unterstützen muß? Das weiß ich
gewiß, daß Frau Emil 0. von den Verwandten bedeutende
Summen bekommt; denn was verdient wird, geht drauf
für Staat und Vergnügen und ein Mädchen aus solchem
Haus gibt nie eine gute Hausfrau, wenn sie in bessere
Verhältnisse kommt.
Bezeichnend für ihren Charakter ist das: Vor drei
Jahren — seither habe ich den Laden nimmer betreten
16 *
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230
Weidlich.
— war ich dort, um Einkäufe zu machen, eine alte
Frau ebenfalls. Ich sah wie dieser ein kleines Geld*
stück herabfiel, ohne daß sie es bemerkte. Frl. Lydia
stand neben der Frau und bemerkte es auch, trat rasch
mit dem Fuß darauf und winkte mit den Augen der
kleinen Schwester, die sich am Boden zu schaffen machte;
als dann nachher die Frau den Verlust bemerkte, wurde
alles ausgesucht, natürlich umsonst Ich mochte auch
nichts sagen, gehe aber nie mehr hin. Ich kümmere
mich auch im übrigen nicht um diese Leute, bloß Sie
sollen nicht angeführt sein; mag sie einen Anderen heiraten,
die werden sich bald genug getröstet und Ersatz gesucht
und gefunden haben.
Vielleicht werden Sie sagen: Auf Anonymes gehe ich
nicht! Sie erfahren meinen Namen dereinst; unterdes
erwarte ich von Ihrer Ehrenhaftigkeit, daß Sie diesen
Brief sofort verbrennen, und tiefstes Stillschweigen
beobachten, selbst Ihrem besten Freund gegenüber. Ich
wünschte bloß, daß Sie meinen Liebling kennen lernten,
ehe Sie sich anderswo binden, Sie sind ja dadurch zu
nichts verpflichtet. Ich wüßte keinen andern Weg, der
Dame näher zu treten, als durch Herrn K., aber sagen
Sie ja zu diesem auch nichts von diesem Brief, sonst
würden die es wieder dem Mädchen sagen und dann
wäre es mit ihrer Harmlosigkeit vorbei. Möge Gott alles
zum Besten lenken.
J. B.
Halten Sie es doch für keinen schlechten Witz, es
ist bitterer Ernst; schweigen, beobachten und handeln
Sie!“
Der Fabrikant B. war aufs tiefste empört Er ver-
schwieg den Brief der Lydia 0. und ihren Angehörigen und
beantwortete ihn männlich mit der Veröffentlichung seiner
Verlobung mit Lydia 0. Anfang Dezember 1899.
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Anonyme Briefe.
231
Wer war aber die Schreiberin des Briefes? Und wer
war die andere, die ihm in dem Briefe angeboten wurde?
In dieser letzteren Hinsicht konnte kein Zweifel sein; es
war eine Kousine der Lydia 0., die 26 Jahre alte Else 0.,
welche noch eine ältere und eine jüngere Schwester hatte.
Sie war die Tochter des Kaufmanns Eugen 0., ebenfalls
eines Sohnes des Seniors Karl 0., und der aus einer
hochangesehenen Juristenfamilie stammenden E. B., deren
Vater als Obertribunalpräsident gestorben war. Eugen 0.
hatte bis zum Jahr 1890 in F. bei N. eine Fabrik ge-
habt, hatte dann aber in N. in der Nähe des Gasthauses
zum Hirsch ein Geschäft gleicher Art eröffnet, wie es
die Familie Eugen 0. in der Nähe des Gasthauses zur
Krone betrieb; man sprach daher in N. kurzweg von
den O.’s beim Hirsch und den O.’s bei der Krone. Die
Familie Eugen 0. beim Hirsch war vermöglich. Man
wußte auch, daß Else 0. ein Auge auf den Fabrikanten B.
geworfen hatte. War sie aber die Schreiberin? Konnte
man annehmen, daß ein noch ziemlich junges Mädchen
den Ton der mütterlichen alten Freundin so gewandt
treffen würde? Die Urheberschaft eines Mannes, ins-
besondere des ehrenhaften Eugen 0. selbst, erschien aus-
geschlossen, wenn man auch wußte, daß seine Frau das
Regiment führte.
Wer kam aber sonst noch in Betracht? Else 0. hatte
keine derartige mütterliche Freundin in N., wenn man nicht
geradezu an ihre eigene Mutter, Frau Eugen 0., denken
wollte. Frau Eugen 0. stand nicht mit Unrecht im Rufe
einer kalten, berechnenden Geschäftsfrau und Fabrikant
B.’s Verdacht richtete sich sofort gegen sie. Dieser Ver-
dacht erschien aber einer gebildeten Dame aus.'guter Familie
gegenüber ungeheuerlich.
Am 10. Dezember 1899 sollte Lydia 0. den Ange-
hörigen ihres Bräutigams in R. vorgestellt werden. Tags
zuvor erhielt dessen Schwester aus N. folgenden Brief:
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232
Weidlich.
„Wertes Fräulein.
Da hier allgemein es heißt, Ihr Bruder werde sich
mit Frl. L. 0. verloben, so will ich Ihnen nur auch mit-
teilen, in welchem Ruf dies Fräulein steht, und daß,
wenn Sie und Ihr Vater auf Repräsentation halten, Sie
eine solche Person nicht in Ihre Familie aufnehmen
können. Ihr Bruder ist halt jetzt verliebt bis hinter die
Ohren, sonst könnte man es ihm selbst sagen, wieviel
sie schon Liebschaften hatte, und daß es jetzt überall
heißt, er müsse sie nehmen, um ihren Ruf einigermaßen
wiederherzustellen. Daß sie ja blutarm sind und die
Mutter kaum die nötigste Aussteuer beschaffen kann;
daß einmal früher oder später Ihr Bruder die Sorge für
die' ganze Familie hätte, wäre bei einem reichen Mann
Nebensache, aber daß das Mädchen eine schlechte, leicht-
sinnige Person ist, die mit ihrem vorletzten Liebhaber
bis Nachts 1 Uhr in einem ganz abgelegenen Garten
jede Nacht allein sich aufhielt, ihn auf seinem Zimmer
besuchte, daß der Herr selbst sagte: eine so verrufene
Person heirate er nicht, und jetzt eine andere genommen
hat; fragen Sie hier nur nach einem Lehrer Tr., ob es
wahr ist oder nicht. Die Mutter ist eine scheinheilige
Schwätzerin, die schöne fromme Reden hält trotz einem
Pfarrer und hinten und vornen den lieben Gott im Munde
führt, von dem ihr Herz nichts weiß; da wird Ihrem
Bruder Komödie vorgespielt von zärtlichen Geschwistern
und ist alles Lüge.
Wenn eB noch rückgängig zu machen ist, so tun Sie
es, sagen Sie es Ihrem Vater, der hat doch auch mit-
zusprechen; wenn nicht die übrige O.’sche Familie hier
so angesehen wäre und jedes froh wäre, gerade diese
Töchter aus diesem Hause versorgt zu wissen, man ließe
sie hier nirgends ankommen, so verrufen und verachtet
sind sie.
Liebes Fräulein, wenn Sie mir gestatten wollten, so
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Anonyme Briefe.
233
würde ich mir einmal erlauben, Sie zu besuchen; ich
habe hier eine sehr gute Stellung, habe Sie einmal, als
ich bei meinen Verwandten in R. war, kennen gelernt
und sehne mich, Sie näher kennen zu lernen, aber meine
Familie ist geachtet und wenn eine solche Person wie
die 0. Ihre Schwägerin würde, müßte ich wenn auch
mit schwerem Herzen verzichten; sie ist zu sehr im
Verruf; es heißt ja, sie habe neben Ihrem Bruder noch
ein Verhältnis, — wird natürlich die bessere Partie vor-
ziehen. Sobald es heißt, dies Verhältnis sei aus, werde
ich so frei sein, mich Ihnen vorzustellen; o Ihr Bruder
ist mit Blindheit gestraft!
Achtungsvollst grüßt Sie Ihr ergebener
Dr . . .
Fürwahr eine schändliche Einführung einer jungen
Braut in ihres Bräutigams Familie zumal in dem soliden
und sparsamen R., selbst wenn der Ton des teilnahmsvollen
jungen Doktors, der sich nach der näheren Bekanntschaft
der ledigen Schwester des B. sehnt, nicht so vorzüglich
getroffen wäre! Die Schreibweise des wohlmeinenden
Doktors glich aber zu sehr derjenigen der mütterlichen
alten Freundin, und so verfehlte auch dieser Brief seine
Wirkung. Fabrikant B. gab seiner Braut und ihren An-
gehörigen die beiden anonymen Briefe zu lesen und über-
einstimmend schloß man auf die Urheberschaft der Frau
Eugen 0.
Auf Betreiben des B. legte Frau Emil 0. die Ange-
legenheit dem Senior der Familie vor. Dieser hielt einen
Familienrat ab, dem auch seine Söhne Imanuel von N
und Hermann von H. anwohnten; diese setzten ihren
Bruder Eugen in Kenntnis. Sie lasen ihm die beiden Briefe
in Gegenwart seiner Frau und seiner Tochter Else vor.
Frau Eugen 0. bestritt ihre Täterschaft und drohte mit Be-
leidigungsklage gegen B.; Eugen 0. selbst zog es aber vor,
B. brieflich um Überlassung der anonymen Briefe zu er-
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234
Weidlich.
suchen, damit er nach den Urhebern fahnden könne. B.
gab die Briefe begreiflicher Weise nicht heraus.
Den Senior traf dieser Schlag für die Ehre seiner
Familie hart, und er trug bis zu seinem wenige Jahre da-
rauf erfolgten Tode schwer daran. Er schrieb der Frau
Eugen 0., der Verdacht, die Briefe geschrieben zu haben,
falle auf sie und ihre Töchter; es sei jeder Verkehr mit
ihr abgebrochen, bis sie sich rechtfertige.
Für die Familie Eugen 0. konnte die Sache möglicher-
weise noch die weitere unangenehme Folge haben, daß
der Senior das von ihm an diese Seite zu hinterlassende
Vermögen, auf das im ersten anonymen Briefe angespielt
ist, schmälern würde.
Frau Emil 0. war der Aufregung dieser Tage nicht
gewachsen ; nach dem Ausspruch der Arzte hatte der kränk-
lichen Frau die Erregung über die scheußlichen Briefe
gegen ihre Tochter Lydia den Todesstoß versetzt. Am
20. Dezember starb sie.
Am folgenden Morgen ging dem vorgenannten Imanuel
0. ein mit offenbar verstellter Handschrift und einer Menge
orthographischer Fehler geschriebener anonymer Brief zu,
welcher lautete:
„Das haben wir wollen, daß Ihr eingebildeten O.’s
recht hintereinander gehetzt werdet und gerade die Zwei
in ihren Läden die sind uns ganz zuwider, und jetzt
heißt es überall, daß die am Hirsch die Briefe geschrieben
haben und der Lydia ihre Schlechtigkeit darin steht,
jetzt kommt doch Schande auf Euch. Das haben wir
schon seit vielen Jahren wollen und Briefe geschrieben,
aber so dumm wie der B. ist eben keiner gewesen und
hat so Lärm gemacht Jetzt lauft herum und sagt, die
am Hirsch haben die Briefe nicht geschrieben, wer wird
Euch glauben, kein Mensch, jetzt müßt Ihr vor Amt
miteinander, das ist dann unsere größte Freude. Und
wenn die Emil 0. nicht gestorben wäre, so tät ich es
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Anonyme Briefe.
235
Euch nicht einmal sagen, wie saudumm Ihr gewesen
seid, aber so soll es genug sein, jetzt kommt’s an Andere.
Und herausbringen dürft Ihr Euch gar keine Mühe geben,
das ist umsonst. Auf das, wo uns Alles sagt, denkt Ihr
nicht, das kommt in Euere Häuser nach wie vor.“
So wären also die Briefe auf eine Gruppe bösartiger
anonymer Briefschreiber zurückzuführen, die sich eine
Freude daraus gemacht hätten, die Mitglieder einer ange-
sehenen Familie zu verhetzen: und der Frau Eugen 0.
wäre schweres Unrecht geschehen. Fabrikant B. war
anderer Ansicht; er sah in den beiden ersten Briefen nicht
die Absicht der Verhetzung, sondern die Absicht einer ge-
wissenlosen Mutter, ihre eigene Tochter durch Schmähung
seiner Braut an den Mann zu bringen, und demgemäß
sah er in dem dritten Brief nur einen Versuch der Täterin,
den Verdacht auf nicht zu fassende Dritte abzuwälzen.
Allerdings waren in N. seit Anfang der 90 er Jahre ge-
legentlich anonyme Briefe aufgetaucht.
B. erstattete auf Grund der drei Briefe im Febr. 1900
bei der Staatsanwaltschaft T. Strafantrag wegen ver-
leumderischer Beleidigung seiner Braut und seiner selbst.
Die Staatsanwaltschaft stellte aber das Verfahren wegen
Mangels eines öffentlichen Interesses ein und verwies B.
auf den Weg der Privatklage. Die hiegegen eingelegte
Beschwerde wurde von der Oberstaatsanwaltschaft ver-
worfen, da die fraglichen drei Briefe für sich allein nur
auf Familienzwistigkeiten schließen ließen und eine Beun-
ruhigung weiterer Kreise nicht enthielten.
Seit der Verlobung des Fabrikanten B. hatte man in
N. davon gesprochen, daß nun auch Johanna 0., die
Schwester seiner Braut Lydia, sich mit einem seiner Freunde
verloben würde; so erhielt Johanna 0. im Februar 1900
einen anonymen, in der Handschrift und Orthographie
einer gänzlich ungebildeten Weibsperson geschriebenen
Brief folgenden Inhalts:
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236
Weidlich.
„Du bist eine domme Ganz, daß du mit dem Herr G.
— so gogetirst der lacht dich blos aus und euren dommen
ß. auch wenn der ihn so arg fladirt, hast doch deinen
Br. — und diirfst dich blos öfentlich verloben dann weist
er wo er dran ist und sollst genug haben an eim und
andre auch was gönnen willst auch so verschimpfirt
werden wie deine Lidia war und kriegst ihn doch
nicht wenn noch so Äuglein verdrehst und zukrige Ge-
sichter hinmachst so will er keine so alte, überhaubt
ists ein dommer Waschlap sonst tat er gar nimmer an
dein Haus vorbeilauffen. der verlangt wenigstens das er
nicht auch die Aussteuer sorgen muß wen auch deine
Lidia noch so hochmütig ist das sagt jedes Dienstmädle
hinter ihr drein.“
B. legte diesen Brief zu den übrigen und beschloß,
wenn die anonymen Briefe aufhörten, sich auch seinerseits
zu beruhigen. Ende Mai 1900 führte er seine Braut heim
und damit schien die ganze Angelegenheit erledigt.
II.
Frau Lydia B. wurde einige Zeit später von einem
der Söhne des Eugen 0. und im Januar 1901 von Else 0.
auf der Straße angerempelt. Nun machte es sich B. zur
heiligen Aufgabe, die Ehre seiner Frau und den Tod seiner
Schwiegermutter zu rächen; im Laufe langer Jahre ist es
der einzige Fall, den ich erlebt habe, daß in Deutschland,
wo man sonst lediglich die Behörden arbeiten läßt, ein
Privatverfolger nach englischer Art den Kampf aufge-
nommen und durchgeführt hat. B. fahndete nach weiteren
anonymen Briefen, auch aus früheren Jahren, kam aber
nur langsam vorwärts. Die anonymen Briefschreiber hielten
zunächst Ruhe. Dagegen ermittelte er einen gleichartigen
Fall aus früherer Zeit
Im Jahr 1892 war ein Freund von ihm, ein Apotheker,
von N. nach T. verzogen. Er hatte in der N.’er Gesellschaft
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Anonyme Briefe.
•237
verkehrt und kurz nach seinem Abzug erhielt er aus N.
einen anonymen Brief des Inhalts, daß sich eine der
Töchter des Eugen 0. für ihn interessiere, das Fräulein 0.
sei aber zu schüchtern, es merken zu lassen, es wäre sehr
nett, wenn er einmal wieder nach N. zu Besuch käme,
entweder zu einem Museumsabend oder zu einer sonstigen
geselligen Veranstaltung. Der Empfänger entnahm aus
der ganzen Schreibweise, daß der Brief von der Familie
Eugen 0. selbst herrühre, antwortete jedoch nicht und kam
auch nicht nach N.
Seit Spätsommer 1901 begannen die anonymen Brief-
schreibereien wieder. Eugen 0., der schwer unter der
Entfremdung von der Gesamtfamilie littt, hatte einen Schlag-
anfall erlitten und kränkelte seitdem.
Im August und im Dezember 1901 erhielt nun sein
Bruder Hermann 0. in H., der seinerzeit an dem Familien-
rat teilgenommen hatte, zwei anonyme Briefe. Der erste
lautete:
„Obgleich es mich weiters nichts angeht muß ich
Ihnen doch Mitteilung machen wie schmälich ihr kran-
ker Bruder von seinen Leuten gehalten wird und wo
alle Leute mit ihm Mitleid haben; der darf nicht im Bett
bleiben und muß aufstehen und schaffen an dem Tag
wo er den Schlag bekommen hat er Abends schon wie-
der aufgewesen und sie ist zu entressirt als daß sie nur
den Doktor holen läßt wir passen wol auf was in dem
Haus vorgeht, wir haben unsern Grund. Den Dekan
haben sie in ihrer Scheinheiligkeit geholt weil der nichts
kostet solche Leute wo nie in eine Kirche geben. Und
wenn nicht Sie kommen und denen gehörig den Marsch
machen so gehts so fort von Ihren Verwandten kommt
niemand ins Haus .... und ihr habt recht, daß keins
mehr damit will zu tun haben den sie sind obendrein
noch elend hochmütig und grob und unverschämt und
geben keinem Menschen ein gutes Wort und ist denen
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238
Weidlich.
ganz recht geschehen weil man sagt ihr habt zu
eurem Vater gesagt er soll sie enterben und
daß er ein Testament gegen die gemacht hat
wo ihr vor zwei Jahre so Händel gehabt habt. . . meinen
Namen sag ich nicht denn denen ihre wüste freche Mäu-
ler fürchtet man die thätens uns gar zu wüst machen
.... aber kommen Sie und machens ihnen recht wüst
wie sie es verdient haben. ... Und das sag ich auf
die Frl dürft ihr nicht wieder Verdacht
haben auf die hat die Eugen 0. schon einmal hinge-
lenkt das sind brave Mädchen, die sich nicht in andre
Leute ihre Sachen mischen.“
Der zweite Brief knüpft an eine damals im N.’er Tage-
blatt erschienene Notiz über anonyme Briefe an, enthält
ebenfalls Beschimpfungen der Frau Eugen 0., heißt sie
ein „grobes faules dummes interisirtes Luter“, der man
ganz gehörig den Marsch machen müsse, und behauptet,
sie behandle ihren kranken Mann, daß es eine Sünde sei.
Dann heißt es:
„Namen sagen wir nicht, so dumm sind wir nicht,
da wäret ihr auf einmal gut miteinander und thätet über
uns herfallen. ... Sie wollen doch bloß wissen wegen
die früheren Briefe und das wißt ihr doch schon lang
das die auch von Eurer saubren Verwantwanschaft sind
das ist doch sonnenklar. . . Überhaupt dürfen Sie nicht
glauben, daß wir haben Ihnen einen Gefallen damit thun
wollen sondern den andren einen Possen denn alles was
0. heißt ist uns schon seit Jahren verhaßt des Emils
Töchter sind gerade so nichtnuzig wie Eugens seine und
die Lidia ist die schlechteste [aber da kann man jetzt
eben nichts machen; wenn nur von des Eugens eine
einen Bräutigam hät dem müßte man auch sagen was
für ein Weib er bekommt, der ließ sie gern wieder sitzen.
Weil Sie aber soweit ein ordentlicher Herr sind so will
ich Ihnen das noch sagen wie es alle Leute, am meisten
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Anonyme Briefe.
239
uns königlich gefreut hat damals wo des Eugens und
Emils sich so elend verscbimpfirt haben in allen Wirts-
häusern hat man davon gesprochen von der Lidia ihrer
Liderlichkeit und daß des Eugens Töchter sich dem B.
angetragen haben aus lauter Neid weils so alte Schach-
teln sind. Wenn wir nur auch an den M. (ein weiteres
Mitglied der Familie 0.) und seine Lausbuben hinkönn-
ten die stehen auch schon lang im schwarzen Register
die Leuteschinder.“
Mit Bleistift waren noch folgende Worte beigekritzelt:
„Ihr seid doch so gescheut und habts gleich ge-
wußt, daß die andern Brife von der Eugen 0. waren
dann werdet ihr auch herausbringen wer die sind und
überhaubt die Anstifterin ist eine ganz feine Dame und
reich und nobel Frau da gehts zuerst an die wir hättens
sonst gar nicht gethan aber gestehen thut keins was.“
Beide Briefe gingen später an den Fabrikanten B., da
die Gesamtfamilie 0. selbst die Entlarvung der Brief-
schreiberin oder der Briefschreiberinnen lebhaft wünschte.
Im April 1902 starb Eugen 0. Man erzählte, er habe
geäußert, das erste Opfer der anonymen Briefe sei Frau
Emil 0. gewesen, das zweite er.
Im Juli 1902 verheiratete sich seine älteste Tochter
Marie nach auswärts. Hierauf nimmt ein weiterer ano-
nymer Brief von Imanuel 0. auf Neujahr 1903 folgen-
dermaßen Bezug:
„Wir bedauern Sie herzlich, daß in Ihre feine Fa-
milie so Unkraut hineingewachsen ist mit des Eugen
0. seine Leut und weil es ja wieder das neue Ge-
schwäz gegeben hat will ich Ihnen auch über sie be-
richten weil man ja jetzt sicher weiß wie Eiere Ge-
sinnung gegen die dummen prozigen ekelhaften Weiber
ist; denen hättet ihr sollen gar "nicht zur Hochzeit
gehen, da hat der Herr B. und die Frau B. und die
Frl. 0. einen ganz anderen Karakter, die haben Kurasche
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240
Weidlich.
und fragen nach niemand hättet ihr sie nur damals wo
sie die Briefe geschrieben haben gepackt dann hättet Ihr
schon lang Ruhe vor ihnen und ihren I^ästermäuler.
Also weil wir aufbassen sollen was in dem Haus vor-
geht, so will ich Ihnen als ganz gewiß den Schkantal
sagen daß ihr erleben werdet, daß sie, die Alte nemlieh
wieder heiratet ehe wir noch um ein Jahr älter sind und
Namen sag ich keinen aber es ist erst ein rechter und
ein reicher Herr von R. dem auch noch nicht so lang
seine Frau gestorben ist, es ist ganz gewiß wahr wir
sind ja so oft in R. und ich weiß von Jemand, der dem
Herr seine Haushälterin kennt und ihr bild stehe auf
seinem Schreibtisch und sie sind aber so abgeschlagen
miteinander weil doch jetzt noch zu arge Schand war
so kommt sie nie nach R. oder er hier. Jetzt das werdet
Ihr hoffentlich verpfuschen denn wenn es soweit käme
dann traut sich niemand mehr an sie mit schlechter
Nachrede und obgleich man es dem Herrn geschrieben
hat was das für ein Luder ist so wird das nichts nützen.
Und noch was das viel schmählicher ist, es ist gewiß
wahr daß alle Montag und oft auch in der Woche ein
Herr morgens zu ihrem Haus herausgeht, man hat es
zufällig einmal gesehen und dann aufgebaßt und ist
einmal jemand nachgelaufen und hat gerad noch ge-
sehen wie er in den 6 Uhrzug gesprungen ist die Söhne
sind doch alle fort wenn einer da wär thät man auch
sonst was sehen und er ist auch größer und älter, jetzt
was man sich da denken soll. Das sag ich aber daß
ich nicht das Herz hab das zu jemand zu sagen Sie
haßen die ja ebenso wie wir und Ihnen glaubens die
Leute eher das dürfen Sie blos am Wirtstisch erzählen
so wie es Herr B. gemacht hat an den haben sie brav
nicht anhaben können dazumal. Und man hat sogar
gesehen daß sie die Frau hat ihm Haus aufgemacbt,
daß der Hund kein Lärm macht aber wenn jemand auf
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Anonyme Briefe.
241
uns Verdacht hätte so sagen wir wer uns aufgestellt hat
dazu dann gibts so einen Sehantal daß Ihr froh wäret
Ihr hättet geschwiegen deßwegen dürfen Sie die O.’s
nichts merken lassen. Aber sorgen sie helfen daß sie
fortgehen und nicht durch ihre Marktschreierei andern
soliden Kaufleuten das Geschäft verderben, da thun Sie
auch Ihren Nichten einen Gefallen und die geben sich
so viel Mühe daß es denen zu gönnen wäre wo sie Scha-
den genug haben durch die Juden.
Also hütet Euch an irgend jemand zu denken wer
diesen Brief geschrieben hat es thäte Euch leid auf wen
es herauskäme und Ihr freut euch doch wenn man des
Eugens schlecht macht.“
Der Brief wanderte wie die andern in die Sammlung
des B.
Inzwischen waren auch die Beziehungen der Frau
Eugen 0. und ihrer Tochter zu der Frau K. gespannte
geworden. Im Winter 1902 auf 1903 führte Frau K. nun
gar ihre jüngere ledige Schwester Hedwig in der N.’er Gesell-
schaft ein. Am 17. März 1903 erhielt sie darauf folgenden
anonymen Brief aus N.:
„In aller Liebe rate ich Ihnen, daß Sie Ihre
Schwester nimmer auf das Museum auf einen Ball hier
bringen wenn Ihr hell wäret, hättet Ihr schon lang be-
merkt, daß Sie die Frl. Hedwig hier nicht an Mann
bringen da hats hier noch ganz andre Fräulein, da
braucht man keine so — Landpomeranze und besonders
der Herr dem lhrs so deutlich macht daß er Euch passen
würde der lacht blos Euch aus der will eine ganz Andre
wo nett und gescheit und liebenswürdig ist der Geldsack
macht nicht alles, die Hedwig ist ein dummer Stock,
setzet Euch nur nauf auf Eure Geldsäcke aber dann ists
auch alles was ihr könnet. Auf dem Maskenball hat
sie am allerwenigsten gefallen wenn sie noch so aufge-
putzt war und wenn Ihr Zwei den Protzen noch so arg
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242
Weidlich.
herausbängt. Sie wissen wohl warum Sie sich immer
an Frau B. hängen überall wo Sie hingehen und flat-
tiren aber neben so einer feinen gescheiten Frau sieht
man den Unterschied zwischen Euch erst recht aber
wenn denen Euer Geschäft voll allein gehört — da sorgt
schon Herr B. dafür — wies schon lang in der Stadt
heißt dann wird Ihnen und Ihrer frechen Hedwig der
Hochmut schon vergehen dann könnt Ihr wieder hin-
gehen, wo Ihr herkommt.
Einige wo auch auf die N.’er Bälle gehen und keine
Eindringlinge brauchen. “
Frau K. vermutete sofort im Hause Eugen 0. die Ab-
senderin dieses Briefs und zwar hielt sie die Tochter Else
für die Urheberin. Als B. sich mit ihrem Manne assoziert
hatte, hatte ihr Else 0. anvertraut, sie liebe den Herrn B.
und bitte sie, ihn mit ihr zusammen einzuladen. Frau K.
hatte dann den B. aufmerksam gemacht, jedoch vergeblich
Darauf hatte sie der Else 0 geraten, sich den B. aus dem
Kopf zu schlagen. Anscheinend mit Bezug auf diese ihre
Tätigkeit hatte sie im Juni 1899 von der damals auf einer
Reise begriffenen Else 0. eine Postkarte mit folgenden
Worten erhalten:
„Liebe Frau K., sende Ihnen herzliche Grüße. Ihre
für etwas unendlich dankbare Else 0. Reden ist Silber,
Schweigen ist Gold.“
Um nun Gewißheit zu bekommen schrieb sie an Else 0.
ein anonymes Kärtchen mit folgenden Worten :
„Besten Dank für den wirklich liebenswürdigen
und stilvollen Brief, den ich mir zum ewigen Gedenken
aüfbewabren werde, und bin ich zur Empfangnahme
von weiteren solchen denkwürdigen Schreiben gerne
bereit.
Die Landpomeranze und ihr frecher Protz.“
Darauf inserierte Frau Eugen 0. am 23. März 1903
im N/er Tageblatt:
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Anonyme Briefe.
243
„Die Landpomeranze und ihr frecher Protz haben
sich in der Adresse geirrt, und wäre es mir sehr lieh
wenn sie mich aufsuchen wollten, d. h. wenn sie den Mut
dazu haben.“
Frau K. meldete sich nicht und ihre Schwester Hed-
wig verlobte sich in der Tat mit einem N.’er Herrn.
Da machte ihr Else 0. in der Folgezeit zwei Besuche;
beim ersten sprach sie nichts von der ihr zugegangenen
anonymen Karte; beim zweiten zeigte sie der Frau K. die
von dieser geschriebene Karte vor. Frau K. fragte sie,
weshalb sie vermute, daß diese Karte aus ihrem Hause
stamme; die Karte sei doch ihrem Inhalt nach nur eine
Antwort auf einen früheren anonymen Brief; ob sie denn
von diesem Brief wisse. Else 0. ließ sich nicht verblüffen,
sondern erklärte, sie habe außer der Karte eine weitere
anonyme Zuschrift bekommen; in dieser sei das Haus K.
bezeichnet, da wohne eine Frau, die es nicht gut mit ihr
meine, und die Schwester der Frau sei Braut.
Frau K. erwiderte, sie habe die Karte geschrieben,
von dem weiteren Brief wisse sie aber nichts; Else 0.
sollte ihr doch den Brief zeigen, dann könne man die
Sache untersuchen. Else 0. weigerte sich aber, den Brief
herauszugeben, da ihn sonst, der Fabrikant B. in die Hand
bekomme; Frau K. war infolgedessen der Überzeugung,
daß Else 0. den zweiten Brief fingiere und daß sie in
Else 0. die anonyme Briefschreiberin gefangen habe, da
außer der Briefschreiberin selbst niemand habe wissen
können, daß die der Else 0. zugegangene Antwortkarte
von ihr, der Frau K.. stammte. Obwohl sie dieser
Überzeugung offen Ausdruck gab, erfolgte keine Klage,
vielmehr erhielt sie am 14. Juni 1903 von Frau Eugen 0.
folgenden Brief:
„Da Sie einer Unterredung ausweichen, so muß ich
schriftlich um Mitteilung des Inhalts des Briefes er-
suchen, dessen Schreiberin zu sein Sie meine Tochter
Der Pitaval der Degenvnit. IV. IT
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244
Weidlich.
beschuldigen. Denn was Sie derselben davon sagten,
berechtigt Sie nicht zu dieser Beschuldigung und Be-
leidigung. Ich glaube überhaupt nicht, daß Ihnen selbst
der Gedanke kam, und würde gern von Ihnen die Na-
men der elenden Verleumder hören, die Sie zu Ihrer
anonymen Karte veranlaßten Else ist bereit und
kann mit gutem Gewissen vor jedem Gericht be-
schwören, daß sie unschuldig ist; wenn wir nicht kla-
gen, so geschieht es, weil wir uns selbst die Unannehm-
lichkeit ersparen wollen . . . und hauptsächlich um denen,
die sich so viel Mühe geben, uns gegeneinanderzuhetzen,
nicht auch noch diese Freude zu machen. Warum
suchen Sie denn die direkten oder indirekten Brief-
schreiber nicht bei denen, die ein Interesse daran haben,
Sie gegen uns aufzuhetzen . . . und von denen wir vor
Jahren ganz direkt vor dem Umgang mit Ihnen gewarnt
wurden? Wenn . . . dem B. so viel daran liegt, beraus-
zubekommen, wer damals vor seiner Verheiratung seine
Braut bei ihm so verliederlicht hat, so soll er doch einen
Aufruf im Wochenblatt erlassen, daß sich meldet, wer
davon gehört hat, daß seine jetzige Frau im Laden auf
ein Geldstück hingestanden sei, damit die Person, der
es hinunterfiel, es nicht finde; oder wer sie bei ihren
nächtlichen Zusammenkünften in ihrem Garten beobach-
tet hat. Wer so einen Haß auf die Lydia hat, daß er
solche Sachen ihrem Bräutigam schrieb, hat es gewiß
auch sonst erzählt. Mein Mann schlug diesen Weg
gleich damals vor; bloß das Zetergeschrei der ganzen
Familie, die fürchtete, B. lasse dann seine liebe Lydia
sitzen, wenn sie so blamiert sei, und sie falle dann mit
ihren Geschwistern der Familie zur Last, ließ ihn —
leider — davon abstehen. Das kann aber heute noch
hereingeholt werden. Im Übrigen ist mir die ganze
Geschichte zu dumm, . . . wir sind überhaupt die längste
Zeit in N. gewesen.
Höflich grüßend Frau Eugen 0. Witwe.“
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Anonyme Briefe.
245
Die genaue Bezugnahme auf den Inhalt des ersten
anonymen Briefes war immerhin auffällig. Übrigens war
dieses Schlußwort der Frau Eugen 0. tatsächlich der ab-
schließende Brief in der Angelegenheit
Am 28. Mai 1903 hatte sich die anonyme Brief-
schreiberin zum letzten Mal vernehmen lassen und zwar
hatte sie dem Kaufmann Br. in N., von dem es hieß, daß
er sich mit Johanna 0. verloben werde, folgenden Brief
gesandt:
„Wie können Sie es übers Herz bringen und ein
so braves liebes gescheites Mädchen wie die Frl. J. 0.
ins Unglück bringen ihr bricht vor Leid das Herz wenn
Sie Sich zurückziehen. Das ist blos weil Sie meinen
sie seie nicht so reich und sie hat doch so einen argen
reichen Großvater zu erben und Herr B. hat so ein
gutes Herz der tut ja so arg viel und kann es auch
wenn man einmal eine Million bekommt; und Sie wissen
gar nicht wie gut ihr Geschäft geht und wie viel die
Frl. verdienen, weil alle Leute sie lieben und gerner als
überall bei ihnen einkaufen. Und daran daß es heißt
sie sei so arm sind blos ihre schlechte Verwante da
unten am Hirsch schuldig die sind voller Neid und Bos-
heit und haben so böse Mäuler daß sie sich nicht schä-
men die braven Mädchen zu schaden und verunglimpfen,
obgleich jeder Mann sich blos gratulieren dürfte wenn
eine solche wie Frl. J. 0. zur Frau bekommt; und Sie
dürften sich gar nicht lang besinnen solche Mädchen
haben das Geriß, wo ein Mann blos in ein gutes Ge-
schäft hineinsitzen darf und kein Vater und Mutter mehr
da ist wo drein redet. Also hoffentlich hat mein guter
Rat etwas genützt; sagen Sie aber zu niemand etwas,
ich möchte meiner lieben Freundin blos in der Stille
etwas zu lieb thun.“
17 '
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246
Weidlich.
III.
Der Fabrikant B. hatte all dieses Material in die Hand
bekommen; er glaubte sich nun in der Lage, vorzugehen
und sandte es zunächst an den bekannten Graphologen
Hans H. B. in M. Nach kurzer Zeit bekam er die Nach-
richt, daß die Briefe wahrscheinlich von Frau Eugen 0.
herrühren, er müsse aber zu einer sicheren Feststellung
noch weiteres Vergleichsmaterial haben. Er beschaffte
sich nun weitere Schriftproben der Frau Eugen 0., auch
einer ihrer Verwandten gab ihm zwei von ihr geschrie-
bene Briefe, erklärte aber dabei, mehr könne er ihm nicht
geben, da die anderen Briefe, die er von ihr erhalten habe,
zu gemein seien. Das gesamte Material wurde von Hans
B. aufs neue geprüft, und er kam im Juli 1903 zu dem
Ergebnis, daß die ihm vorgelegten anonymen Briefe von
Frau Eugen 0. geschrieben seien, nicht von ihrer Tochter
Else.
Nunmehr beabsichtigte B., Privatklage zu erheben.
In einem Schreiben vom 27. Juli teilte er der Frau Eugen
0. mit, daß ihn das Gutachten eines Schreibsachverstän-
digen in den Stand setze, gerichtlich gegen sie vorzugehen,
mit Rücksicht auf die Familie 0. erkläre er sich aber be-
reit, gegen Erlegung einer Buße für einen von ihm zu
bestimmenden Zweck und gegen Ersatz seiner Unkosten
von der Klage abzustehen, und er stelle es ihr anheim,
ob sie zum Sühneversuch kommen wolle oder nicht.
Frau 0. kam nicht; man erfuhr nur, daß sie sich bei
einem Rechtsanwalt erkundigt hatte, ob man an der Hand-
schrift allein den Schreiber sicher ermitteln könne. Darauf
stellte B. auf Anraten seines Rechtsanwalts bei der Staats-
anwaltschaft in T. erneut den Antrag auf Erhebung der
öffentlichen Klage wegen verleumderischer Beleidigung, da
das Schreiben anonymer Briefe einen gemeingefährlichen
Umfang angenommen habe.
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Anonyme Briefe.
247
Die Staatsanwaltschaft ersuchte nun das Amtsgericht
N. um Vornahme einer überraschenden Durchsuchung nach
Beweismaterial (anonymen Briefen, Entwürfen zu solchen
und Schreibversuchen mit verstellter Handschrift) bei Frau
Eugen 0.; der dienstaufsichtsführende Amtsrichter gab
jedoch das Ersuchen unerledigt zurück, da Frau 0. weit-
läufig mit ihm verwandt und ihr Bruder ein naher Freund
von ihm sei; der zweite Richter des Amtsgerichts sei in
Ferien. Nun ersuchte die Staatsanwaltschaft das benach-
barte Amtsgericht U. um Vornahme der Durchsuchung.
Auch dieses gab das Ersuchen zurück, da es dem Ersuchen
gemäß § 15 StPO, nur zufolge Auftrags des übergeordne-
ten Gerichts entsprechen dürfe. Nun beantragte die Staats-
anwaltschaft Eröffnung der Voruntersuchung. Bis der
Untersuchungsrichter den Fall in Angriff nehmen konnte,
wurde es beinahe Mitte September.
Der Fabrikant B. glaubte infolgedessen, die Staats-
anwaltschaft schreite auch diesmal nicht ein, von der Durch-
führung einer Privatklage wurde ihm von verschiedenen
Seiten abgeraten und so eröffnete er nun einen Zeitungs-
krieg gegen Frau Eugen 0., damit sie endlich zur Klage
genötigt werde. Um diese Zeit hatte ein Steinhauer Gott-
lob B. anonyme Briefe erhalten und am 28. August im
N.’er Tageblatt folgendes Inserat veröffentlicht:
„Dem ganz traurigen Individuum, das mich mit ano-
nymen Briefsendungen überrascht hat, besten Dank; zu-
gleich demjenigen, der mir solchen Briefschreiber nam-
haft machen kann, 10 M. Belohnung. G. B.“
B. ergriff sofort diesen Anlaß und antwortete am nächsten
Tag in Nr. 200 des Tageblatts mit folgendem Inserat:
„Dem G. B. zur Nachricht, daß ich eine solche
traurige Person namhaft machen kann, welche durch
hundsgemeine anonyme Briefe sogar den Tod eines
Menschen auf dem Gewissen hat und die in letzter Zeit,
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248
Weidlich.
um den Verdacht des Briefscbreibens von sich abzulen-
ken, sich selbst und ihre Töchter in anonymen Briefen
verliederlichte, also auch die fraglichen geschrieben haben
kann. Zu erfragen bei der Red.“
Da keine Äußerung der Angegriffenen erfolgte, so er-
schien am 2. September folgendes Inserat:
„Da das anonyme Briefschreiben anscheinend wieder
überhand nimmt und auch ich am 28. Mai d. J. einen
anonymen Brief bekommen habe, der, wie die angestellte
Schriftvergleichung ergeben hat, ebenfalls von der Hand
der in Nr. 200 erwähnten charakterlosen Ehrab-
schneiderin und Mörderin herrübrt, so möchte ich
den Vorschlag machen, daß die Empfänger von anony-
men Briefen ein Gegenlager errichten zur Abwehr
gegen die Gemeinheiten solcher elenden anonymen Brief-
schreiber. Als Lokal würde ich den „Hirsch“ als in
nächster Nähe des Zentrums der Stadt gelegen Vor-
schlägen.“
„Etwaige Zusammenkünfte hätten dann nach meiner
Ansicht immer kurz vor einer bevorstehenden Verlobung
stattzufinden, wenn sich im anderen Lager der söge
nannte „weibliche Futterneid“ zu regen beginnt.
Br.“
Dieses Inserat stammte jedoch nicht von dem Kauf-
mann Br., sondern von dem Fabrikanten B. selbst, und so
veröffentlichte er am 5. September mit seinem vollen Namen
folgende
„Erklärung“.
„Um verschiedene Irrtümer, die durch den mit Br.
Unterzeichneten Artikel entstanden sind, zu berichtigen,
erkläre ich, daß ich diesen Artikel verfaßt und nur des-
halb mit Br. unterschrieben habe, um der betr. Person,
die am 28. Mai d. J. tatsächlich einen anonymen Brief
an einen Br. geschrieben hat, zu zeigen, daß ich auch
diesen Brief bei meiner Sammlung habe; getroffen kann
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Anonyme Briefe.
•249
sich also nur der Schreiber dieses Briefes fühlen und
mag er, wenn ihm irgend etwas nicht paßt, nicht mehr
auf die Red., sondern zu mir kommen,
d. h. wenn er den Mut dazu hat.
Was den „Hirsch“ betrifft, so wird sich wohl in der
Umgebung desselben niemand beleidigt fühlen, der noch
nie anonyme Briefe geschrieben hat, und denjenigen, der
solche schreibt, kann man überhaupt nicht beleidigen,
da es bekanntlich nichts Gemeineres giebt, als anonyme
Schmähbriefe zu schreiben, und ist für eine solche Per-
son kein Ausdruck stark genug, vollends nicht, wenn
die Aufregung über solche Lästerbriefe den Tod eines
Menschen zur Folge hatte.
Ich habe die Artikel aus Anlaß der von G. B. ge-
brachten Anzeige im öffentlichen Interesse geschrieben,
um den anderen hiesigen anonymen Briefschreibern zu
zeigen, daß alles noch an den Tag kommt, und sie zu
verwarnen, damit sie endlich einmal eine hiesige Ein-
wohnerschaft mit solchen gemeinen und sie selbst am
meisten entehrenden Briefen verschonen; der einen ihr
Maß dagegen ist voll und soll sie nun ernten, was
sie gesäet hat“
Auf das Inserat vom 2. September hatte sich Frau
Eugen 0. zu dem Verleger des Tagblatts begeben, nach
dem Einsender gefragt und bemerkt, sie müsse dem B. er-
widern. Der Verleger riet ihr aber ab, da sie dann nur
in eine viel größere Verlegenheit komme.
Dann ging sie zu der Frau des Seniors Karl 0. und
trug dieser vor, B. solle doch ihren Namen in die Zeitung
bringen, dann könne sie ihn verklagen ; sie gehe jetzt zum
Oberamtsarzt (der Frau Emil 0. behandelt hatte) und frage
ihn, ob sie eine Mörderin sei. Das war auffällig.
Obschon B. tatsächlich beabsichtigte, in seinen Inse-
raten wegen der anonymen Briefe schließlich die Frau
Eugen 0. mit ihrem vollen Namen als die Urheberin zu
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250
Weidlich.
brandmarken, so war doch ohnehin fiir jedermann in N. klar,
daß in jedem Inserat Frau Eugen 0. beim Hirsch gemeint
war Zunächst Heß B. noch folgende „Mitteilung aus dem
Publikum“ erscheinen :
„Den Vorschlag, die Empfänger von anonymen
Briefen möchten sich zusammentun, betreffend, genügt
es nicht, sich Dur zur Abwehr zu vereinigen, sondern
man sollte auch energisch gegen solche gemeine Ehrab-
schneider vorgehen, indem man einige namhaft macht
und sie öffentlich an den Pranger stellt, damit jedermann
denselben die ihnen gebührende Verachtung zuteil wer-
den lassen kann; denn es gibt nichts Niederträchtigeres,
als anonyme Briefe zu schreiben, da der durch solche
Briefe in seiner Ehre Verletzte nichts tun kann als
warten, bis der andere sich endlich einmal selbst
verrät, wie es erfreulicherweise kürzlich hier vorge-
kommen ist. Es wird vielfach angenommen, anonyme
Briefe hätten nur privaten Charakter und es liege deren
Verfolgung nicht im öffentlichen Interesse; dies ist aber
nicht richtig, denn wie leicht kann jeder selbst einmal
solch einen Schandbnef bekommen, oder wie ebenso
leicht kann jemand — was das Schlimmere ist — in
den Verdacht gebracht werden, solche Briefe geschrie-
ben zu haben, da diese in der Regel mit einer Bemer-
kung versehen sind, die den Verdacht auf jemand an-
ders lenken soll, wie z. B. ein vom März d. J. herrüh-
render Brief, welcher unterschrieben ist: „Einige,
welche auch die N.’er Museumsbälle besuchen
und keine Eindringlinge haben wollen...“
Zu einer weiteren Fortsetzung des Zeitungskriegs kam
es indessen nicht. B. erhielt von der Eröffnung der Vor-
untersuchung Kenntnis und ließ dem gerichtlichen Verfah-
ren seinen Lauf.
Mitte September fand endlich die richterliche Unter-
suchung des Hauses der Frau Eugen 0. statt. Das Ergeb-
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Anonyme Briefe.
251
nis war ein höchst merkwürdiges. Es fanden sich nur
drei kleine Briefbögen, ein Geschäftsbriefbogen und ein
Briefumschlag vor — und das in einer so zalreichen Fa-
milie mit einem so umfangreichen Geschäft! Dagegen fan-
den sich siebzehn verschiedene Löschpapiere.
Weiter fanden sich Ausschnitte der von B. im Tag-
blatt erlassenen Inserate und neun Entwürfe zu Antwort-
inseraten, von denen acht von Frau Eugen 0., einer von
ihrem Sohne Alfred geschrieben war, sowie ein Ent-
wurf zu dem Brief an Frau K. vom 14. Juni 1903.
Die Inseratenentwürfe beschuldigen den B. der Er-
pressung, er selbst sei der Mörder seiner Schwiegermutter,
wenn er ihr trotz ihrem leidenden Zustande die anonymen
Briefe mitgeteilt habe, er solle sie in Ruhe lassen oder ver-
klagen ; es sei unter ihrer Würde, sich mit solcher Gemein-
heit abzugeben u. s. f.
Außerdem fanden sich die von Frau K. an die Else
0. am 12. März 1903 geschriebene Karte, sowie nament-
lich drei anonyme Briefe, welche Frau Eugen 0. selbst
erhalten hatte.
Da war ein Brief „An Frau 0. beim Hirsch in N.“
mit dem Poststempel N. 25. Juni 1902, der kurz vor der
Hochzeit ihrer Tochter Marie geschrieben war und lautete :
„Man hat ihre Tochter gew’arnt sie soll den Pr. nicht
heiraten jetzt hat er sie doch im Kästle wenn Sie das
leiten so sind ihr alle zusammen grad so nixnuzig wie
er, das ist ein ganz miserabliger Kerl und natürlich jetzt
muß halt ein Mann her. wenn Euer Vater noch leben
thät, er würds auch nicht leiten. Und ich meine es
blos gut daß ich Ihre Tochter will vor großem Unglück
bewahren so wie sies da hat kann sies noch lang be-
kommen.“
Der zweite Brief mit dem Poststempel N. 12. Juni
1902 war am Hochzeitsmorgen eingegangen und lautete:
„Ihr intressirts Lumpenpack jetzt haltet ihr doch
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252
Weidlich.
Hochzeit aber Ihr sollt dran denken was es gibt das
hatten wir doch nicht geglaubt daß Ihrs durchführt man
hat i h m doch ein Licht aufgesteckt aber die Geschichte
ist noch lang nicht aus — Fortsetzung folgt Euer Pr.
ist halt ein Esel, daß er in das Wesbennest stupft dem
werdet Ihr Wunder was vorgelogen haben wenn Ihr
nur recht hintappen thätet.
Eine treue Freundin.
wartet nur freuet euch nur auf morgen an den Tag sollt
Ihr denken Ihr habts schon lang verdient und einmal
krigt man euch schon der Krug geht zum Brunnen bis
er bricht Ihr gefährliche Bande ihr.“
Der dritte Brief war an „Fräul. Else 0. gegenüber
dem Hirsch in N. u gerichtet und war derjenige, auf den
sich Else 0. in der „Landpomeranzen“-Affaire bei ihrem
zweiten Besuch bei Frau K. im Frühjahr 1903 berufen
hatte. Er trug den Poststempel „N. 20. April 1903“ und
lautete:
„Wenn Du es noch nicht gemerkt hast so will ich
Dir drauf helfen wer die Landpomeranze ist, da wohl
nernand so einfältig war und sich beim Wochenblatt
gemeldet hat. In der Frickenhäuser Straße 2. Haus
rechts, wohnt sie und ihre Schwester ist meistens bei ihr
und ist jetzt Braut, und Du darfst glauben, daß sie gegen
euch falsch und schlecht ist und wenn Du gescheit bist
so betrittst ihr Haus nimmer die meints schlecht mit
Euch und schimpft blos über euch, aber ihr ja nichts
. sagen davon!“
Darnach wären also Frau Eugen 0. und ihre Tochter
Else glänzend gerechtfertigt? Weshalb waren sie aber mit
diesen Briefen nicht schon längst an die Öffentlichkeit ge-
treten, da doch der Verdacht, die anonymen Briefe der
letzten Jahre geschrieben zu haben, in unverminderter
Stärke auf ihnen lastete? Weshalb hatten sie die Briefe
nicht zu ihrer Rechtfertigung dem Senior vorgelegt? Wes-
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Anonyme Briefe.
2&3
halb hatte Frau Eugen 0. nicht längst bekannt gegeben,
daß auch sie anläßlich der Verheiratung ihrer Tochter
Marie ganz ähnliche Briefe erhalten hatte, wie sie im Sep-
tember und Dezember 1899 dem Fabrikanten B. und seiner
Schwester anläßlich der Verlobung der Lydia 0. zugegan-
gen waren? Und weshalb war Else 0. wegen des Briefs
vom 20. April 1903 zu Frau K. gegangen, obwohl darin
stand, die Landpomeranze wohne in der Frickenhäuser
Straße, während Frau K. in der Neuffener Straße und
auch nicht im zweiten Hause dieser Straße wohnte?
Die Akten der Voruntersuchung waren allmählich zu
einem dicken Bande angeschwollen. Auch den anonymen
Briefen, die N. in früheren Jahren beunruhigt hatten, war
man nachgegangen. Auch diese Fäden schienen im Haus
Eugen 0. zusammenzulaufen. War aber Frau Eugen 0.
die Schreiberin oder waren ihre Söhne und Töchter, ins-
besondere Else 0., mitbeteiligt, oder waren doch dritte
Hände im Spiel? Die Staatsanwaltschaft glaubte unter
diesen Umständen mit einer Freisprechung der Frau Eugen
0. für den Fall der Klageerhebung rechnen zu müssen
und beantragte bei der Strafkammer T. Außerverfolgung-
setzung, da zwar ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit
für die Beteiligung der Frau Eugen 0. vorhanden sei, da
aber, selbst wenn diese als bewiesen angesehen würde,
die konkrete Form dieser Beteiligung nicht festzustellen sei.
IV.
Wieder war es B., der die Sache nicht begraben ließ.
Er war als Nebenkläger zugelassen worden und beantragte
durch seinen Anwalt Ergänzung der Voruntersuchung, ins-
besondere durch Einholung weiterer Sachverständigengut-
achten. Die Strafkammer gab diesem Antrag statt und
ordnete Ergänzung der Voruntersuchung an.
Diese Ergänzung wurde mit großer Sorgfalt ausgeführt.
Eine chemische und mikroskopische Untersuchung des Be-
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254
Weidlich.
Weismaterials wurde angeordnet und ergab als sehr wahr-
scheinlich, dali zwei der bei der Haussuchung gefundenen
Briefbögen mit dem Papier der anonymen Briefe an die
Schwester des Fabrikanten B. im Dezember 1899 und an
Imanuel 0. zu Neujahr 1900, sowie die Umschläge der
Briefe an B. im September 1899, an Imanuel 0. zu Neu-
jahr 1900 und an Johanna 0. im Februar 1900 mitein-
ander übereinstimmten, während der einzige bei der Haus-
suchung Vorgefundene Briefumschlag mit keinem andern
Umschlag übereinstimmte! Man hatte eben damals Zeit
gehabt, Verdächtiges zu beseitigen.
Die Prüfung der Löschblätter auf Abdrücke von Sätzen
oder doch Worten der anonymen Briefe bot keinen sicheren
Anhalt.
Dagegen war das Ergebnis, zu dem der Schreibsach-
verständige Artur H. in L. kam, insofern überraschend
als auch er auf Grund des wesentlich umfangreicher ge-
wordenen Beweismaterials mit völliger Sicherheit Frau
Eugen 0. als die Schreiberin der anonymen Briefe be-
zeichnete — und zwar nicht nur der sechs Briefe an den
Fabrikanten B., an dessen Schwester, an Imanuel 0., Jo-
hanna 0. und Frau K., sondern auch der Neujahrskarte
an Lydia 0., der zwei Briefe an Hermann 0., des Briefes
an den Kaufmann Br., sowie der bei der Haussuchung
Vorgefundenen, der Frau Eugen 0. und ihrer Tochter
Else angeblich von dritter Seite zugegangenen anonymen
drei Briefe.
Doch Schreibsachverständigengutachten allein sind kein
strafrechtlicher Beweis, — nur ein Indiz. Immerhin er-
munterten sie im vorliegenden Fall zu erneuter eingehender
Tatsachenprüfung. Ebenso ein anderer Vorfall vom Früh-
jahr 1 904 : Frau Eugen 0. hatte mit einer ungültigen Fahr-
karte die Eisenbahnverwaltung zu schädigen gesucht und
war hiewegen gerichtlich bestraft worden. Man konnte
ihr also Akte der Selbstsucht Zutrauen.
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Anonyme Briefe.
255
Und das ergänzte Beweismaterial bot in der Tat über-
zeugende Zusammenhänge :
Solange die Familie Eugen 0. in F. gewohnt hatte,
waren anonyme Briefe mit Schmähungen bald dieser bald
jener Personen umgelaufen. Mit dem Wegzug der Fa-
milie 0. hatten sie aufgehört und hatten dafür in N. an-
gefangen. Unter anderen erhielt ein Kaufmann M., der
im Geschäft des Eugen 0. angestellt gewesen war und sich
inzwischen verheiratet hatte, im Jahr 1892 einen anonymen
Brief, in dem von seiner Frau unwahrer Weise behauptet
war, sie habe zwei voreheliche Kinder gehabt und wolle
sich in das Nest der Familie 0. setzen. Ähnliche Briefe
erhielt seine Frau und sein Vater. M. war überzeugt, daß
die Briefe von Frau Eugen 0. herrtthrten. Er konnte sich
als Beweggrund nur denken, daß er die Mutterhoffnungen
dieser Frau enttäuscht habe, deren Töchter Marie und
Else gerade damals ins heiratsfähige Alter eingetreten
waren. Er drohte ihr mit Strafanzeige und hatte daraufhin
Ruhe vor weiteren Briefen; so verfolgte er die Sache nicht
weiter.
Im gleichen Jahre hatte der nach T. verzogene Apo-
theker den erwähnten anonymen Brief erhalten des Inhalts,
daß sich eine der Töchter des Eugen 0. für ihn inter-
essiere.
Etwa um dieselbe Zeit hatte ein Finanzamtmann in N.
für die Marie 0. ein lebhaftes Interesse gefaßt und dachte
ernstlich an Heirat. Da erhielt er eines Tages einen
anonymen Brief, in dem stand, man habe ihn schon öfter mit
der Marie 0. gesehen, er solle endlich Ernst machen, sonst
zeige man ihn seiner Vorgesetzten Behörde an. Der
Adressat vermutete sofort in Frau Eugen 0. die Schreiberin
und zog sich von der Familie gänzlich zurück.
Andere anonyme Briefe sorgten für das geschäftliche
Interesse der Familie Eugen 0. Eine N.’er Dame hatte einen
Bruder in St., der eines der größten Aussteuergeschäfte
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256
Weidlich.
daselbst betreibt, in dem auch die N.’er häufig kauften.
Ein grober anonymer Brief beschuldigte sie eines Tages,
sie schicke ihre Bekannten zu ihrem Bruder nach St.
Der Brief schloß mit dem Satze: Lassen Sie doch die
Leute kaufen, wo sie wollen; wer bei Ihrem Bruder
kaufen will, weiß ja, wo er wohnt“
Als die Töchter der Familie Emil 0. heranwuchsen,
wurde diese Familie und alles, was mit ihr in Berührung
kam, immer ausschließlicher zum Ziel der anonymen Briefe.
Ein Kaufmann H. war mit der Familie befreundet und
hatte die Töchter der Familie verschiedene Male zu Spazier-
fahrten mit ihm und seinen herangewachsenen Söhnen
eingeladen. Flugs ging ihm ein anonymer Brief zu, in
dem die Töchter der Familie Emil 0. als faul, schlecht
erzogen und vermögenslos herabgesetzt und die Töchter
des Eugen 0. als für ein Geschäft passend und vermöglich
gepriesen wurden.
Um dieselbe Zeit wohnte im Hause der Familie Eugen
0. ein junger Regierungsbaumeister; eines Tages erhielt
er einen anonymen Brief, in dem die Töchter der Familie
0. schlecht gemacht wurden, wogegen die Familie Eugen 0.
etwas ganz anderes sei, da sei Ansehen, da sei Vermögen.
Dann kam der gehässige anonyme Postkartengruß an
Lydia 0. zu Neujahr 1899. Als in diesem Jahre die neuen
Heiratskandidaten, insbesondere Fabrikant B. in N. ein-
zogen, da bat Else 0., wie erwähnt, die Frau K. um Ver-
mittelung der Bekanntschaft des B. ; als dies mißlang und
B. sich für Lydia 0. interessierte, da erfolgte der anonyme
Brief vom 25. September 1899 an B. mit den schändlichen
Schmähungen gegen Lydia 0. und der Anpreisung der
Else 0.; die Leitmotive des Briefes sind unverkennbar
dieselben wie in den früheren Briefen. Der Schluß auf
eine und dieselbe Urheberin war daher zwingend und da
bei den früheren Briefen nur Frau Eugen 0. selbst, nicht
ihre damals noch jungen Töchter in Betracht kommen
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Anonyme Briefe.
257
konnten, so war es gegeben, aucb bei den gleichartigen
späteren Briefen auf die Täterschaft der Frau Eugen 0.
zu schließen.
Dieser Schluß fand seine Bestätigung bei dem ano-
nymen Brief an Fräulein B. vom 9. Dezember 1899. Tags
zuvor war nämlich Frau Emil 0. mit Frau Eugen 0. zu-
8ammengetroffen und hatte ihr — und zwar ihr allein —
mitgeteilt, daß Lydia am nächsten Sonntag den Angehörigen
des Bräutigams in R. vorgestellt werde; sie batte auch
erwähnt, daß sie keine größere Aussteuer anschaffen
würden. Darauf erfolgte der anonyme Brief an Fräulein
B. in R, in dem unter anderem davon die Rede ist, daß
die Mutter Emil 0. kaum die nötigste Aussteuer beschaffen
könne.
Dann kam der Abbruch des Verkehrs seitens des
Seniors, bis Frau Eugen 0. sich rechtfertige, und die
Wahrscheinlichkeit erbrechtlicher Benachteiligung durch
den Senior. Die natürliche Rechtfertigung wäre Klage
gegen B. gewesen. Statt dessen erfolgte der anonyme
herzensrohe Brief an Imanuel 0. nach dem Tod der Frau
Emil 0., worin der Verdacht der Täterschaft auf Dritte
zu lenken versucht wird, welche aus keinem andern Grund
als Freude an Verhetzung schon seit Jahren anonyme Briefe
geschrieben hätten. Die beiden Briefe an B. und seine
Schwester hatten aber den klaren, sehr reellen und ge-
winnbringenden Zweck gehabt, die Verlobung des vermög-
lichen B. mit Lydia 0. zu Gunsten der deutlich bezeich-
neten Else 0. zu hintertreiben ; hätten wirklich dritte Brief-
schreiber gearbeitet, so hätten sie sich sicher gehütet,
den Verdacht von Frau Eugen 0. und ihren damals
mitverdächtigten Töchtern abzulenken. Demnach stellt
der Brief an Imanuel 0. nur einen durchsichtigen Recht
fertigungsversuch dar.
Der Frau Eugen 0. war auch von anderer Seite
zur Erhebung einer Beleidigungsklage gegen B. geraten
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258
Weidlich.
worden. B. bezichtigte aie im Januar 1900 in einem un-
mittelbar an sie gerichteten Briefe der Täterschaft der
anonymen Briefe und suchte sie noch persönlich auf, um
ihr diese Beschuldigung ins Gesicht zu schleudern. Da
fragte sie den mit ihrer Familie befreundeten dienstauf-
sichtführenden Amtsrichter in N. um Rat und dieser
redete ihr zu, ihr Mann solle gegen B. Beleidigungsklage
erheben, dann könne sie in diesem Verfahren zeugeneidlich
vernommen werden und ihre Unschuld erweisen. Sie
wollte jedoch nichts davon wissen, sie suchte sogar zu
verhindern, daß ihr auswärts befindlicher Bruder von der
Sache erfahre. Eugen 0. selbst äußerte tief bekümmert
zu seinem Bruder Imanuel, es würde seiner Frau schon
gleich sehen, daß sie die Briefe geschrieben habe; später
allerdings versicherte er wiederholt, er glaube nicht, daß
sie es getan habe.
Statt zu klagen, reiste Frau Eugen 0. nach T., suchte
den oben erwähnten Apotheker auf und fragte ihn, ob es
richtig sei, daß er vor Jahren einen anonymen Brief er-
halten habe und ob sie den Brief nicht bekommen könne,
sie möchte die Handschrift mit der eines ihr selbst zuge-
gangenen Briefes vergleichen. Der Apotheker erwiderte
ihr, er habe den Brief schon verbrannt; er vermute aller-
dings, vver ihn geschrieben habe. Frau 0. bat darauf,
er möge dem Fabrikanten B. von ihrem Besuche nichts
sagen.
Weiter erhielt der N.’er Stadtpfarrer Ende Januar
einen anonymen Brief des Inhalts, die Familie Eugen 0.
habe die Briefe nicht geschrieben, der Herr Stadtpfarrer
werde gebeten, dies den Interessenten mitzuteilen. Bei
einer Abendandacht, der auch Frau Eugen 0. anwohnte,
warnte er nun vor dem Schreiben anonymer Briefe. Frau
Eugen 0. bezog diese Warnung auf sich und suchte den
Pfarrer auf. Kurz darauf nahm auch Fabrikant B. ge-
legentlich seiner Materialsammlung mit dem Pfarrer Rück-
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Anonyme Briefe.
259
spräche. Eine Vergleichung des dem Geistlichen und des
dem Imanuel 0. zugegangenen Briefes zeigte dieselbe ver-
stellte Handschrift, und der Geistliche sagte zu B., er könne
es mit seinem Gewissen vereinbaren, ihm von einer Straf-
anzeige nicht abzuraten.
Frau Eugen 0. versuchte endlich Frau K. auf ihrer
Seite zu halten, und ihre Tochter Else warnte Frau K.
vor Lydia 0.; diese wolle die K.'s aus dem Geschäft
hinausdrücken, damit es B. allein habe.
Frau Eugen 0. arbeitete so nach jeder anderen Richtung
als der gegebenen an ihrer Rechtfertigung; und immer
und immer neue Briefe suchten zu erweisen, daß tatsächlich
dritte anonyme Briefschreiber in N. an der Arbeit seien und
Frau Eugen 0. ebensowenig mit ihren Verunglimpfungen
verschonten wie andere; das hatte zugleich den Vorteil,
daß man gegen B. und jede weibliche Konkurrenz auf
dem N.’er Heiratsmarkt nach wie vor Gift spritzen konnte.
So erklärten sich naturgemäß der Brief vom Februar von 1 900
an Johanna 0. und vom Mai 1903 an ihren Verehrer Br.,
sowie der Brief vom März 1903 an Frau K. wegen Ein
ftihrung ihrer ledigen Schwester in N.; aus der Bezugnahme
im Briefe an Johanna 0.: „Willst auch so verschimpfiert
werden wie Deine Lydia?“ folgte zwingend, daß die
Sehreiberin dieser Briefe mit der Urheberin der Schmäh-
briefe gegen Lydia 0. identisch war. Nicht dagegen,
sondern dafür sprach, daß der dritte anonyme Brief an
Johanna 0. plötzlich einen so gesucht anderen, gewöhn-
lichen Ton anschlug.
So erklärten sich die Briefe an Imanuel und Hermann
0., die am Familienrat gegen Frau Eugen 0. teilgenommen
batten. Der Brief vom 21. Dezember 1899 an Imanuel 0
hatte den Zweck der Rechtfertigung nicht erfüllt. Nun
erhielt Hermann 0. nach H. die Briefe vom August und
Dezember 1901; im ersten ist Frau Eugen 0. schmählicher
Behandlung ihres kranken Mannes bezichtigt und wird
Der Pitaval der Gegenwart. IV. 18
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260
Weidlich.
Freude darüber ausgedrückt, daß Frau Eugen 0. im
Testament des Seniors enterbt werde; da dieser Brief
seinen Zweck verfehlte, folgte der zweite Brief, in dem
gewünscht ist, daß auch von den Eugen’s eine einen
Bräutigam hätte, damit man ihm sagen könne, was für
ein Weib der bekomme, und daß man auch gerne an ein
weiteres Mitglied der Familie 0. ginge. Wie sollte ein
dritter N.’er Briefschreiber von der Rolle des Hermann 0.
im Familienrat wissen und wie sollte er nach auswärts
schreiben? Wie sollte er sich mit der boykottierten Frau
weiter beschäftigen, statt sich neue Opfer in der N.’er
Gesellschaft zu Buchen?
Als auch Hermann 0. seiner inneren Überzeugung
entsprechend diese Briefe dem B. zu seinem Material gegen
Frau Eugen 0 gegeben hatte, da bedurfte sie eines durch-
schlagenden Beweises und der konnte nur sein, daß es Frau
Eugen 0., selbst anonyme Briefe gleicher Art erhalten
hatte wie diejenigen, wegen deren sie verdächtigt war.
Briefe dieser Art vom Juni und Juli 1902 waren in der
Tat bei der Hausdurchsuchung gefunden worden. Dafür,
daß Frau Eugen 0. mit diesen Briefen nicht an die Öffent-
lichkeit getreten war und sie insbesondere dem Senior
der Familie nicht vorgelegt hatte, gab es nur die eine Er-
klärung, daß Frau Eugen 0. die Briefe selbst geschrieben
hatte, was das Sachverständigengutachten bestätigte.
Dagegen versuchte man nochmal Imanuels 0. durch
einen weiteren anonymen Brief zu Neujahr 1903 von der
Grundlosigkeit seines Verdachts gegen Frau Eugen 0. zu
überzeugen, in dem man sie unter anderem des Verkehrs
mit Herren im Trauerjahr bezichtigte.
Vorsorglich schrieb man aber auch an Else 0. selbst
einen anonymen Brief, als diese der Frau K. in der im
März 1903 akut gewordenen Landpomeranzenaffäre die beiden
auffälligen Besuche machte. Nur trug dieser Brief den
etwas späten Poststempel vom 20. April 1903 und sprach
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Anonyme Briefe.
261
versehentlich von der Frickenhäuser statt von der Neuffener
Straße!
Schließlich wurde noch erhoben, daß das unfreund-
liche Verhältnis der Familie Eugen 0. gegen die Emil O.’s
weit zurück ging; es war zuerst Konkurrenzneid gewesen
und als Emil 0. im Jahre 1892 gestorben war, da hatten
Eugen 0. und Frau sich erboten, der Witwe den Waren-
bezug zu vermitteln, jedoch in der Weise, daß die Waren
im Geschäft Eugen 0. hätten abgeholt werden müssen,
damit das Geschäft der Frau Emil 0. auch äußerlich nur
noch als Filialgeschäft des Eugen 0. erschienen wäre;
darauf hatte Frau Emil 0. die Beziehungen zur Firma
Eugen 0. abgebrochen.
Der Konkurrenzneid hatte sich vertieft und schließlich
in den anonymen Briefen seinen Ansdruck gefunden, als
die Töchter der Familie 0. begehrter waren als die der
Familie Eugen 0., welche sitzen zu bleiben drohten.
Dritte Briefschreiber kamen nach alledem nicht in
Betracht. Dritte konnten alle die internen Familienereig-
nisse im Hause 0. nicht kennen; diese Dinge wurden erst
später anläßlich des Zeitungskrieges in den Einzelheiten all-
gemein bekannt. Und vor allem: Gerüchte der in den ano-
nymen Briefen behaupteten Art gingen in N. niemals um. Der
Untersuchungsrichter hatte in N. eingehende Erhebungen
angestellt; erst durch die anonymen Briefe und durch sie
allein waren die Gerüchte aufgebracht worden. Anderer-
seits hatten diese Nachforschungen das letzte Glied in der
Beweiskette gegen Frau Eugen 0. ergeben, nämlich:
Vor Jahren war Frau Emil 0. an einem Sonntag-
nacbmittag mit ihren Kindern und dem ihnen befreundeten
Lehrer Tr., der in den anonymen Briefen mehrmals ge-
nannt ist, in ihrem außerhalb der Stadt gelegenen Garten
gewesen; als Frau Eugen 0. vorbeikam, hatte Frau Emil
0. sofort gesagt, jetzt komme sicher ein anonymer Brief;
dieser Brief ließ in der Tat nicht lange auf sich warten
18 *
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262
Weidlich.
und knüpfte an die sonntägliche Begegnung die gemeinsten
Verleumdungen.
War aber Frau Eugen 0. Alleintäterin? Ja! Ihr
Sohn Alfred kam nach der Schreib- und Ausdrucksweise
seines bei der Haussuchung gefundenen Inseratentwurfes
nicht in Betracht Else 0. war zwar zweifellos Mitwisserin
der Landpomeranzengeschichte, wahrscheinlich auch des
Kampfes um B. ; der Beginn der anonymen Briefschreiberei
im Hause Eugen 0. reichte aber in ihre frühe Mädchen-
zeit zurück und die Abfassung auch der Briefe vom Jahre
1S89 ab war für ein in einer Landstadt aufgewachsenes
Mädchen zu gewandt und berechnet und zu sehr dem auch
sonst betätigten Charakter ihrer Mutter entsprechend; auch
erklärten die Sachverständigen bestimmt, daß ihre Hand-
schrift mit der der anonymen Briefe nicht übereinstimme.
V.
Im Juli 1904 klagte die Staatsanwaltschaft Frau Eugen
0. der verleumderischen Beleidigung des Fabrikanten B
und seiner Ehefrau Lydia im Sinne des § 187 des StG.B.
an, begangen durch den Brief vom 25. September 1899
an den Fabrikanten B., in dem die damalige Lydia 0.
eines verrufenen Lebenswandels und des Diebstahls be-
zichtigt wird, ferner durch den Brief vom 9. Dezember 1899
an die Schwester des Fabrikanten B., in dem der Bezieht
des verworfenen Lebenswandels wiederholt und dem Fabri-
kanten B. selbst der Vorwurf vorehelichen, von Folgen be-
gleiteten Geschlechtsverkehrs mit seiner Braut gemacht
wird, endlich durch den Brief vom 20. Dezember 1899
an Imanuel 0., in dem wieder von Lydias Schlechtigkeit
die Rede ist Wegen dieser drei Briefe war im Früh-
jahr 1900 rechtzeitig Strafantrag gestellt worden.
So stand Frau Eugen 0. im Oktober 1904 als An-
geklagte vor der Strafkammer des Landgerichts zu T.,
wo ihr Vater einst den Vorsitz geführt hatte. Sie erschien
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Anonyme Briefe.
263
kalt und unbewegt; mit voller Schärfe folgte sie der Ver-
handlung, die den ganzen Tag ausfüllte; nicht das kleinste
Moment, daß sie zu ihren Gunsten verwerten zu können
glaubte, ließ sie unbetont und auch das Gericht konnte
den eisernen Nerven dieser merkwürdigen Frau seine An-
erkennung nicht versagen.
Sie bestritt entschieden, je einen anonymen Brief ge-
schrieben zu haben. Trotz dem gespannten Verhältnis
zwischen ihrer Familie und der Familie Emil 0. habe sie
und ihr verstorbener Ehemann nach Emil O.’s Tode dessen
Familie in uneigennützigster Weise unterstützt, während
diese „Unterstützung“ nur in dem Versuch bestanden hatte,
das Konkurrenzgeschäft zur Filiale herabzudrücken.
Die Angeklagte bestritt, daß ihre Tochte Else den
Fabrikanten B. gerne geheiratet hätte, im Gegenteil habe
man die Verlobung der Lydia 0. als Versorgung der
Familie Emil 0. begrüßt Sie habe zwar von Liebeleien
der Lydia 0. gehört, ebenso von dem Diebstahl des Geld-
stücks im Laden, sie habe aber nichts Näheres gehört und
könne überhaupt von einem leichtsinnigen Lebenswandel
der Lydia 0. nichts sagen. Daß der Fabrikant B. die
Lydia 0. heiraten müsse, habe ihr Frau K. gesagt, —
was diese jedoch unter Eid verneinte. Sie habe von den
anonymen Briefen Kenntnis erhalten, als sie ihr von Her-
mann und Imanuel 0. vorgelesen worden seien. Schon
Jahre zuvor sei es einer ihrer Töchter mit anonymen Briefen
ähnlich gemacht worden wie der Lydia 0. Die späteren
Briefe seien vollends nicht von ihr, denn da sei doch über
sie geschimpft: sie habe den Gedanken gehabt daß diese
Briefe von einer dem B. befreundeten Familie herrührten.
Sie selbst und ihr Schwiegersohn Pr. hätten ja ebenfalls
anonyme Briefe bekommen.
Die geladenen N.’er Zeugen bekundeten, daß der Ruf
der Lydia 0. tadellos war, daß nie ein Gerede der von
den anonymen Briefen geschilderten Art über sie in Um-
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264
Weidlich.
lauf war und Fabrikant B. und seine Frau Lydia be-
zeugten unter Eid, daß sie vor der Ehe keinen Geschlechts-
verkehr gehabt hatten. Das ganze, in den anonymen
Briefen errichtete Lügengebäude stürzte zusammen.
Die Verlesung der vielen anonymen Briefe, der Nachweis
ihrer inneren und äußeren Zusammenhänge und schließlich
auch all der vielen sich zusammenschließenden Indizien ließ bei
Gericht wie Publikum die Angeklagte schon vordem Gutachten
der Sachverständigen überführt erscheinen. Es wirkte nur
noch als eine weitere Bestätigung dieses Eindrucks, daß
beide Sachverständige, B. wie H., einmütig erklärten, so
gewiß als man in menschlichen Verhältnissen überhaupt
etwas sagen könne, sei die Angeklagte die Schreiberin der
anonymen Briefe; das folge nicht etwa nur aus einzelnen
Buchstabenähnlichkeiten, sondern aus den selten charakteri-
stischen Übereinstimmungen zwischen den Buchstaben- und
Satzkomplexen in der Handschrift der Angeklagten und
in der der anonymen Briefe.
Der Staatsanwalt beantragte 1 Jahr Gefängnis wegen eines
fortgesetzten Vergehens der verleumderischen Beleidigung,
da einer der denkbar schwersten Fälle dieser Art vorliege.
Die Strafkammer nahm mit der üblichen Milde deutscher
Gerichte, welche dem Verbrecher übermäßig peinlich, dem
Verletzten oft nicht voll gerecht werden, nur einfache Be-
leidigung durch üble Nachrede an und erkannte auf eine Ge-
fängnisstrafe von drei Monaten wegen drei Vergehen der
Beleidigung im Sinne der §§ 185, 186 St.G.B (einfache Be-
leidigung und Behauptung nicht erweislich wahrer Tat-
sachen), Tragung der Kosten des Verfahrens und Ersatz der
notwendigen Auslagen des Nebenklägers.
Sie erwog: Man könne die Möglichkeit nicht ganz
ausschließen, daß der Angeklagten, deren feindselige
Gesinnung gegen Lydia 0. in N. bekannt gewesen sei,
vielleicht aus Liebedienerei ein Klatsch zugetragen worden
sei, den sie in ihrer Gehässigkeit für vielleicht be-
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Anonyme Briefe.
265
gründet gehalten habe könne. Wahrung berechtigter Inter-
essen stehe ihr aber nicht zur Seite, wenn sie auch eine
eheliche Versorgung ihrer Tochter angestrebt habe, straf-
mindernd käme in Betracht, daß sie über das Mißlingen
dieses Planes leidenschaftlich verbittert gewesen sei, daß
sie wegen gleicher Vergehen noch nicht bestraft sei, daß
die Vergehen schon nahezu verjährt seien und daß sie
unter den schweren öffentlichen Angriffen des B. und der
Länge der Untersuchung schon viel zu leiden gehabt habe.
Die von der Angeklagten mit der Behauptung, daß
sie in strafloser Wahrung berechtigter Interessen gehandelt
habe, gegen dieses Urteil eingelegte Revision wurde ein
Jahr später vom Reichsgericht verworfen. Mehrere von
ihr und ihren Angehörigen eingereichte Gnadengesuche
wurden verworfen, jedoch wurde ihr im Gnadenwege ge-
stattet, ihre Strafe nicht in Gotteszell, sondern in der Zivil-
festungsstrafanstalt Hohenasperg zu verbüßen.
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ErreguDg von Aberglauben und Fnrcht als Mittel
zor Yerbrechensyerübung.
Von
Staatsanwalt Dr. Adolf Beohmann in München.
Am Landgerichte München I kamen in letzter Zeit
zwei Fälle zur Aburteilung, die das Interesse der Allge-
meinheit in hohem Maße erweckten und in der Tagespresse
eine eingehende Wiedergabe fanden.
In beiden Fällen — und das dürfte ihre gemeinsame
Besprechung in einer Abhandlung rechtfertigen — erzielten
die Täter einen erheblichen verbrecherischen Erfolg dadurch,
daß sie ihr Opfer auf eine seelische Folter spannten und
es in einem Zustand geistiger Leibeigenschaft in unerhörter
Weise ausbeuteten.
A. Der Fall Hieronymus Wolf.
Die Privatierseheleute Max und Therese Sch. in 0. in
Oberbayern erwarben im Jahre 1903 im nahegelegenen
W. ein Ökonomieanwesen samt dem dazu gehörigen In-
ventar und Grundbesitz durch Vermittlung des Händlers
Hieronymus Wolf und übertrugen es ihm pachtweise gegen
einen Jahrespachtschilling von 1000 Mark.
Wolf zog mit seiner Familie, bestehend aus seiner Frau,
seiner bejahrten Mutter, seinem ledigen Bruder Johann und der
noch minderjährigen, außerehelich geborenen Tochter Fran-
ziska seiner Schwester auf dem Gute noch im gleichen Jahre
auf. Er bekümmerte sich jedoch gleich vom Beginn des
Pachtverhältnisses wenig oder nichts um die Bewirtschaftung
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Erregung von Aberglauben als Mittel zur Verbrechensverübung. 267
des Gutes von der er, nach seinem Vorleben zu schließen,
wohl auch nichts verstanden haben wird, machte vielmehr,
wie bisher, gelegentlich Händler- oder Vermittlergeschäfte
und hatte daher keinen ständigen Verdienst. Da die im
Prozeßweg erstrittene Mitgift seiner Frau verbraucht war,
so sah er sich bald genötigt, den Pachtzins schuldig zu
bleiben, so daß er damit rechnen mußte, vou dem Gute
entsetzt zu werden. Er mußte daher darauf sinnen, in den
Besitz neuer Mittel zu kommen oder in anderer Weise die
drückende Schuld los zu werden.
Da er keine Möglichkeit für das erstere sah, so wählte
er den zweiten Weg.
Es war im Frühjahr 1905, kurz vor Ostern, da be-
gann er, von den Seinen getreulich unterstützt, in dem
Orte W. und der nächsten Umgebung, das Gerücht aus-
zustreuen, das Sch.’sche Anwesen sei verhext, Geister trieben
darauf ihr Unwesen. Den erstaunten Bauern zeigte man
das Wirken der Geister, das zunächst ein sehr handgreifliches
war; denn es bestand vor allem darin , daß sie die Gesetze der
Statik auf hoben und Gegenstände, die vermöge ihrer Schwer-
kraft an sich ruhig auf ihrem Flecke stehen geblieben wären,
durch die Luft trugen und an einem Ort niedersetzten,
der für sie nicht bestimmt war. Auf diese Weise flogen
Kleidungsstücke, Betten, Stühle, Haarnadeln vom ersten
Stockwerke in das Erdgeschoß, Wasser wurde verschüttet,
Türen geöffnet, frisch gelegte Eier fortgetragen, kurzum
es war ein recht koboldartiges Benehmen, das da die un-
sichtbaren Geister an den Tag legten. Da man aber auch
Augenzeugen haben wollte, so holte man die Bauern vom
Feld herein, wenn gerade wieder so ein Hexentanz losgegangen
war und zeigte ihnen an Ort und Stelle, was die Geister
angerichtet hatten. Die guten Leute hatten keinen Anlaß,
an dem Vorhandensein dieser unsichtbaren Kräfte zu zweifeln,
jedenfalls hatte keiner den Mut, den Wölfischen ins Gesicht
zu sagen, daß sie in seinen Augen Schwindler seien. Diese
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268
Bechmann.
hatten übrigens auch nicht unterlassen, die Geistlichkeit
herbeizurufen und sie um die Bannung des Spuks und die
Benediktion des Hauses zu bitten; das sah nach außen
gut aus und gab der Sache sozusagen einen offiziellen
Charakter.
Als nun Wolf damit rechnen konnte, daß der Glaube
an die Verhextheit des fraglichen Anwesens in der Be-
völkerung von W. sich genügend festgesetzt hatte, beschloß
er, die Eheleute Sch. aufzusuchen und sie von diesem Zu-
stand ihres Besitztums in Kenntnis zu setzen.
Da Max Sch. Beit Jahren gelähmt und an das Zimmer
gefesselt war, deshalb seinen Geschäften nicht selbst nach-
gehen konnte, so hatte er diese ganz seiner Frau über-
tragen und ihr Generalvollmacht zum Abschluß aller nötig
werdenden Verträge erteilt. Dieser Aufgabe war seine
Ehefrau durchaus gewachsen, denn sie war eine nüchterne,
ruhige, arbeitsame Frau von gutem, praktischen Verstand,
die auf die Erhaltung und Vergrößerung des ansehnlichen
Vermögens jederzeit bedacht war, keinen Groschen unnötig
ausgab, ohne Not ihren Schuldnern nichts nachließ, und
nach dem Zeugnis ihrer Verwandten keine Freundin vom
Schenken war ; sie neigte mehr zum Geiz als zur Freigebig-
keit; eine Luxusausgabe batte sie zeitlebens keiner machen
sehen. Von dem guten alten Worte: „ora et labora“ batte
ihr nur die zweite Hälfte getaugt; das Beten hatte ihr die
wenigste Zeit in ihrem arbeitsreichen Leben gekostet. So
kam es, daß man sie mehr in Küche und Keller, in Hof
und Scheuer als in der Kirche und im Betstuhl gesehen hatte.
So war die Frau beschaffen, vor die Wolf im Mai 1905
als säumiger Pächter mit leeren Taschen hintrat. Er wußte
wohl, was er sich von ihr zu gewärtigen hatte; auch hatte
sie ihre Absicht, auf seine baldige Entfernung vom Gute
zu dringen, schon offen ausgesprochen gehabt. Das ge-
wöhnliche Mittel säumiger Mieter, Schadenersatzansprüche
zu konstruieren und sie auf die Mietschuld aufzurechnen,
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Erregung von Aberglauben als Mittet zur Verbrechensverübung. 269
hatte wohl ihr gegenüber in diesem Zeitpunkt völlig ver-
sagt Er mußte seine Sache mit Vorsicht beginnen. Er
beschränkte sich daher bei diesem ersten Besuche darauf,
eine eingehende Schilderung von dem Auftreten der Geister
den Eheleuten Sch. zu geben, die er nach der Art der
von ihnen entwickelten Tätigkeit den bösen Geistern zu-
rechnete. Doch machte er, wenigstens auf Frau Sch., für
diesmal mit seinem Berichte noch keinen großen Eindruck.
Sie schüttelte zu alledem den Kopf und äußerte zu ihrer
Schwägerin, Wolf suche offenbar das Gut in Verruf zu
bringen, um es selbst billig erwerben zu können.
Einige Zeit darauf kam Wolf wieder nach 0. zu Be-
such und brachte die erfreuliche Nachricht mit, die bösen
Geister seien nun abgezogen und hätten den guten Platz
gemacht; zugleich entwarf er einen anschaulichen Bericht
von ihrem vorherigen Walten. Allein auch ihrer Existenz
gegenüber bewahrte Frau Sch. ihre skeptische Haltung.
Da erkannte Wolf, daß eine innere Umkehr bei seiner
verstockten Schülerin nur im Wege der eigenen Anschauung
möglich sei und er verlegte sich darauf, sie zu einem Be-
suche auf dem Gute zu überreden. Frau Sch. gab seiner
Bitte nach und ging auf das Gut, nicht um dort das Reich
der vierten Dimension kennen zu lernen, sondern um als
Hausfrau, die das Herz auf dem rechten Fleck hat, Um-
schau zu halten und die Ordnung auf ihrem und ihres
Mannes Besitztum wieder herzustellen ; denn mit einer reso-
luten Frau nimmt wohl auch ein beherzter Geist so leicht
keinen Kampf auf.
Der Erfolg jedoch, den dieser Besuch hatte, war ein
außerordentlich überraschender. Bevor er jedoch näher be-
sprochen wird, soll zunächst gezeigt werden, welcher Art
die Geister waren, die nunmehr das Gut beherrschten.
Während die ursprünglich aufgetretenen Geister sich
nur durch Handlungen bemerkbar gemacht hatten, traten
die sog. guten Geister auch redend auf, nannten ihren
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270
Bechmann.
Namen ihre Herkunft, und erzählten ihre irdischen und
nachirdischen Schicksale. Es waren Geister von Erwachsenen
und von Kindern. Zu diesen gehörte der Geist der „Rosa“,
eines mit 6 Jahren verstorbenen Mädchens der Frau Sch.
und des „Josephs“, der Geist eines im frühesten Kindes-
alter verstorbenen Knaben des Wolf. Diese beiden Engel
gaben des öfteren auch Schriftliches von sich, was von
ihnen übrigens sehr unklug war, da sie damit die Beweismittel
schufen, auf Grund deren hauptsächlich die Überführung
Wolf’s erfolgen konnte; denn die Hauptbelastungszeugin, Frau
Sch., war bei Beginn der Untersuchung nicht mehr am Leben.
Zu den Geistern der Erwachsenen gehörte der Haus-
geist „Edmund“, dann der heilige Benedikt, Franziskus und
Hieronymus, auch ein Teufel „Florl“, der bellen konnte.
Der Geist Edmund war wegen eines bei Lebzeiten be-
gangenen Giftmordes in die Hölle gekommen und hatte
schon geraume Zeit seine Qualen auszustehen gehabt, so
daß ihm baldige Erlösung in Aussicht stand. Er übernahm
die Rolle eines Predigers, malte die Höllenqualen in den
lebhaftesten Farben, wobei er sich des kräftigen oberbay-
rischen oder schwäbischen Dialekts bediente, und machte
an Frau Sch. in Zukunft Bekehrungsversuche, indem er
ihr eindringlich vorstellte, daß es für sie die höchste Zeit
sei , umzu kehren und einen andern Lebenswandel einzu-
schlagen. Trotz dieser Büßerstinimung war er aber für
den Genuß irdischer Dinge sehr empfänglich, namentlich
für den von Schnaps; eine besondere Neigung hatte er
für Chokolade, war aber auch zufrieden, wenn er statt der
Naturalleistungen die entsprechenden Geldbeträge bekam.
Die andern Geister bevorzugten mehr Eßwaren, während
die Kinder begreiflicherweise vor allem Verlangen nach
Spielsachen trugen.
Natürlich traten alle Geister unsichtbar auf: auf Ge-
spenstererscheinungen, wie sie uns als Kinder in den
Märchen so angenehm gruseln machten, war man in dem
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Erregung von Aberglauben als Mittel zur Verbrechensverübung. 271
Bauernhause nicht eingerichtet. Die für sie bestimmten
Gaben brauchte man nur in ein Zimmer auf Tisch oder
Kommode zu legen und es zu verlassen; für das Ver-
schwindenlassen sorgten schon die Geister
Gleich bei ihrem ersten Besuche wurde Frau Sch.
von der ganzen Geistergesellschaft empfangen und in die
Geheimnisse ihres überirdischen Lebens eingeführt. Hält
man sich ihren oben geschilderten Charakter vor Augen,
so ist es schwer zu begreifen, daß sie diesen ganzen Un-
sinn nicht durchschaute und nicht als kräftige Geister-
bannerin auftrat. Statt dessen scheint alles, was dereinst
Schule und Kirche an religiösen Vorstellungen in sie ge-
legt hatte und bei ihr lange geschlummert haben mag, mit
einemmal wach geworden zu sein und ihre verblaßten Begriffe
von Schuld und Strafe, Sünde, Buße und Vergebung mit
neuem Leben erfüllt zu haben. Vielleicht war es gerade
dieser Blick in ihr Inneres, in dem es werktäglich genug
ausgesehen haben mochte und das nun mit neuen Vorstel-
lungen erfüllt wurde, der ihre Urteilskraft für die äußeren Ge-
schehnisse trübte und sie den so leicht erkennbaren Zusammen-
hang nicht durchschauen ließ. Denn es ging mit ihr unver-
mittelt eine völlige Wandlung vor; aus der tatkräftigen und
lebensfrohen Frau wurde eine stille, in sich gekehrte Büßerin,
die viel in sich hineinweinte und sich von dem Verkehr
mit den Menschen abwandte; und dies umsomehr, als man
ihren neuen Glauben nicht teilte und ihr Vorstellungen
über das Schwindelhafte der angeblichen Erscheinungen
machte; denn nun konnte man sie mit Äußerungen des
Zweifels oder Unglaubens aufs heftigste erzürnen und er-
reichte damit nichts weiter, als daß der Widerspruch sie
in ihren Vorstellungen nur befestigte.
Sie begann daher in der Folgezeit, von den Gnaden-
mitteln der Religion (sie gehörte der katholischen Kon-
fession an) einen ergiebigen Gebrauch zu machen und ging
fleißig zur Kirche. Da aber die Geister weniger Gewicht
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272
Becbmann.
auf diese innere Umkehr als auf die Betätigung ihrer Büß-
fertigkeit durch gute Werke Wert legten, so war sie zu-
gleich auch aufs eifrigste bestrebt, deren Willen und Ge-
heiß pünktlich zu erfüllen und nach außen zu zeigen, wie
ernst es ihr um ihr Seelenheil zu tun war. Auch hier
schlug ihr Charakter völlig um ; denn war sie, wie erwähnt»
früher sparsam und kleinlich, so wurde sie jetzt freigebig,
ja verschwenderisch. Sie konnte sich im Einkäufen nicht
genug tun ; ihre Schwägerin war einmal dabei, als sie für
einen Besuch Einkäufe machte und dabei für Spielsachen
wie Dampfmaschinen, Puppen, für Porzellanfiguren, Hei-
ligenstatuen, Chokolade, Himbeersaft und dergl. an die zwei-
hundert Mark ausgab. Als sie ihr wegen dieser übertriebenen
Aufwendungen Vorstellungen machte, wurde sie aufgebracht
und erwiderte ihr, das gehöre alles für den Himmel, die
Heiligen wollten es so und ließ sich in ihrem Vorhaben
nicht irre machen.
Die Wiederholung der Besuche hatte nicht etwa eine
absch wachende Wirkung, führten vielmehr die so schlimm
getäuschte Frau nur noch tiefer in ihre Seelenpein hinein.
So berichtet ihre Schwester, die sie einmal nach einem
solchen Besuche vom Bahnhof abgeholt hatte, sie sei damals
hochgradig erregt gewesen, habe ihre Tränen nicht zurück-
halten können und habe zu ihr geäußert, sie wisse gar
nicht, was man da alles sehe, wie schön es im Himmel
und wie schrecklich es in der Hölle sei; die Geister hätten
ihr befohlen, gute Werke zu tun, sonst komme sie nicht
in den Himmel.
Eine Augenzeugin der ihr vorgespielten Szenen war
die Tochter der Sch.’schen Eheleute, die — sie war damals
13 Jahre alt — von ihrer Mutter einmal auf das Gut nach
W. mitgenommen wurde. Sie bekundet hierüber folgendes :
Sie sei ungefähr vier Wochen vor Weihnachten 1905
mit ihrer Mutter nach W. gefahren und dort unvermutet
angekommen, was zunächst eine peinliche Überraschung
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Erregung von Aberglauben als Mittel zur Verbrechensverübung. 273
bei den Mitgliedern der Familie Wolf, soweit sie anwesend
waren, hervorgerufen habe. Das Gespräch sei bald auf
die Geister gelenkt worden. Gegen acht Uhr abends seien
Hieronymus Wolf mit seinem Bruder Johann nach Hause
gekommen, habe zunächst erklärt, er müsse im Stall nach
den Pferden schauen und sei mit seinem Bruder für längere
Zeit verschwunden. Gegen neun Uhr hätten sie sich mit
ihrer Mutter in ein ungeheiztes, mit einer Petroleumlampe
nur spärlich erleuchtetes Zimmer zurückgezogen, um dort
auf das Auftreten der Geister zu warten. Die alte Frau
Wolf habe ihnen verboten, die Tür zu öffnen und auf den
Gang zu schauen, da sie dort einen Geist erblicken könnten,
was ihren sofortigen Tod zur Folge haben könnte. Die
Zeugin fährt fort:
„Gegen neun Uhr ertönte auf dem Gange, anscheinend
in ziemlicher Entfernung, eine dumpfe, eigentümlich klingende
Stimme: „Der Edmund ist da!“ Ich erschrak heftig, meine
Mutter aber blieb ruhig. Sie rief vielmehr den Edmund
heran und führte mit ihm ein längeres Gespräch. Unter
anderem fragte sie ihn auch, wo der alte Cramm begraben
liege. (Gerade um diese Zeit wurden die Eheleute Scbell-
haas von dem oberbayrischen Schwurgericht wegen seiner
Ermordung zum Tode verurteilt; Cramm war auf geheim-
nisvolle Weise verschwunden, die Leichenteile sollen von
den Eheleuten Schellhaas verbrannt worden sein). Der
Geist Edmund erwiderte: ..Der liegt im Krantacker“. Nach
einiger Zeit erklärte er jedoch, das sei nicht wahr, er wisse
es selbst nicht genau.
„Auf Bitten meiner Mutter holte Edmund auch die
Geister meines verstorbenen Schwesterchens Rosa und des
Josefele herbei; auch mit diesen Geistern sprach meine
Mutter Verschiedenes. Ihre Stimmen waren anders als die
des Edmund, nämlich heller und feiner. Sie erzählten, wie
es im Himmel aussähe, daß sie dort Zimmer hätten und
wie diese eingerichtet wären. Der Geist meiner Schwester
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274
Bechmann.
Rosa sagte, daß er jetzt nicht mehr in München einkaufe, da
dort alles schlecht uiid teuer sei, sondern in Augsburg, er
habe Geld, da alle Geister im Himmel vom lieben Gott
jede Woche ein Taschengeld bekämen. Auf die Frage
meiner Mutter, ob sie denn kein Geld von ihr brauche,
erfolgte die Antwort : „Ja, wenn du willst“. Meine Mutter
legte darauf den Betrag von 3,50 Mk. auf die Kommode,
der am andern Morgen verschwunden war.
„Einmal flog auch ein Vogel — ich hielt ihn für
einen Spatzen — durch das Zimmer, flatterte dann darin
herum und flog wieder hinaus. Der Geist meiner Schwester
Rosa sagte dabei: „Das ist der Edmund, der hat die Ge-
stalt eines Vogels angenommen.“
Die Unterhaltung mit den Geistern dauerte bis Mitter-
nacht; dann erklärten die Geister, sie seien müde und
müßten ins Bett gehen, da man im Himmel auch schlafen
müsse; die Himmelsmutter ziehe sie aus. Um ein Uhr
nachts wurden wir durch einen starken Schlag aus dem
Schlafe aufgeschreckt und kurze Zeit darauf ertönte wieder
eine Stimme: „Ich bins, der Edmund, ich habe die Schnaps-
flasche heruntergeworfen, die die Wolfin hingestellt hatte,
sie ist leer. Um sechs Uhr früh ertönte dann wieder die
Stimme des Edmund; er forderte meine Mutter auf, ihren
Besuch hald zu wiederholen. Sie hatte damals für die
Geister Süßigkeiten, Chokolade, Himbeersaft und Würste
mitgenommen und diese bei ihrer Ankunft der Mutter Wolf
zur Übermittelung an die Geister verabfolgt.“
Die Geschenke, die Frau Sch. auf diese Weise der
Familie Wolf überbrachte, berechnen sich nach den von
ihrem Ehemann später in der Kasse entdeckten Fehlbe-
trag auf etwa tausend Mark.
Wie die Erzählung der Tochter Sch. erkennen läßt,
war Frau Sch. mit den Geistern durch den monatelangen
Verkehr so vertraut geworden und so vollständig in ihren
Bann geraten, daß Wolf nun daran gehen konnte, einen
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Erregung von Aberglauben als Mittel zur Verbrechensverübung. 275
Hauptseklag auszufükren und der geängstigten Frau einen
größeren Betrag zu entlocken.
Im Frühjahr 1906 war er mit der Bezahlung der
Pacht für mehr als zweieinhalb Jahre im Rückstand ge-
blieben; da er zugleich auch das Gut durch völlige Ver-
nachlässigung stark heruntergebracht hatte, so war der
Schaden, den er den Eheleuten Sch. zugefügt hatte, kein
ganz geringer. Statt aber sich hierwegen zu entschuldigen
und um weitere Nachsicht zu bitten, verstand er es, den
Spieß herumzudrehen und sich als den Geschädigten hin-
zustellen, da man ihm das verhexte Gut aufgehängt habe,
auf dem von einem Vorwärtskommen keine Rede sein
könne. Den ihm dadurch zugegangenen Schaden berechnete
er auf 10 000 Mk. Doch war er vorsichtig genug, seine
Entschädigungsansprüche nicht in schroffer Form zu er-
heben, er verstand es vielmehr, seine Schadloshaltung mit
den Bußwerken der Frau Sch. in Zusammenhang zu
bringen, indem er ihr einredete, die Geister sähen es als
ein gut^s Werk an , wenn sie ihm die geforderte Summe zahle.
Frau Sch. sah dies auch bald ein und ließ sich zu
einem größeren Opfer gern bereit finden; Schwierigkeit
machte ihr nur die Geldbeschaffung, da sie ihre Absicht
ihrem Manne nicht mitzuteilen wagte und Wolf ihr auch
ihre Geheimhaltung anempfahl. Denn wenn auch der Ehe-
mann Sch. gegen ihre fortgesetzten Besuche auf dem Gute
nichts einzuwenden hatte und ihr Glaube von ihm respek-
tiert wurde, so fehlte ihm doch die Autopsie mit ihrer über-
zeugenden Wirkung: auch hatte er für sich selbst ein
solches Opfer wohl nicht nötig, da er ja seinen mangelnden
Kirchenbesuch dem Himmel gegenüber mit seinem körper-
lichen Gebrechen entschuldigen konnte.
Frau Sch. war daher in großer Bedrängnis, da es sie
innerlich drängte, den Willen der Geister zu erfüllen und
ihr doch der Weg hierzu verlegt schien. Diese Notlage
teilte sie Wolf mit, der denn auch den einzig logischen
Der Pitaval der Gegenwart. IV. 19
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276
Bechmaun.
Weg einschlug und die Geister zu Rate zog. Und siehe,
da fand in Einfalt das kindliche Gemüt der Engel „Rosa“
und Josefele“ das Richtige. Wozu hatte sie denn eine
Generalvollmacht und ihr Mann eine Hypothek von
90 000 Mk., von der man den erforderlichen Betrag im Wege
der Abtretung dem Wolf übertragen konnte? Darauf war
niemand verfallen, nur die beiden Engel hatten daran ge=
dacht Und so setzte sich Hieronymus Wolf hin und schrieb
an Frau Sch. den ganzen schönen Plan von dem „Hibo-
dekenbrief“, den man „zitieren“ könne und daß man da
nur nach München zum Notar gehen brauche und daß
man das sobald wie möglich tun solle, denn die „Rosa“
und das „Josefele“ hätten es so gemeint; dann aber könne
es der lieben Frau Sch. an nichts mehr fehlen und sie
werde im Himmel dafür reichlich belohnt werden.
Ja daran hatte die arme betörte Frau, die bisher kein
Geheimnis vor ihren Manne gehabt hatte, freilich noch
nicht gedacht, daß man seinen Mann auch hintergehen könne;
nun da es die Engel empfahlen, konnte es auch keine
Sünde sein. So ging sie denn bereitwillig auf den Vor-
schlag ein, kam mit Wolf beim Notar in München zu-
sammen und trat ihm den Teilbetrag von 12 000 Mk. ab,
den dieser durch einen schon vorbereiteten Weiterverkauf
der Forderung am nächsten Tage zu Geld machte.
Damit waren der Opfer genug gebracht; die Geister
waren versöhnt und traten nur noch selten auf, Frau Sch.
kam nur noch einige Male aufs Gut. Dafür aber stellte sich
bei ihr als Folge der überstandenen Gemütsbewegungen
um diese Zeit (März 1906) eine hochgradige Nervosität
ein, die sie ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen zwang.
Nach kurzer Besserung traten im Juli Lähmungserschei-
nungen auf, die sie bettlägerig machten; die Krankheit,
die ursprünglich unter das große Kapitel der hysterischen
Erscheinungen gerechnet wurde, ließ allmählich mehr und
mehr die Symptome einer Gehirnzellenerkrankung erkennen.
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Erregung von Aberglauben als Mittel zur Verbreehensverübung. 277
die im Oktober des gleichen Jahres den Tod der gequälten
Frau nach sich zog.
War sie im letzten Halbjahre ihres Lebens immer
stiller und verschlossener geworden, so schien sie die ver-
heimlichte Zession ganz besonders zu bedrücken; sie äußerte
ihrer Schwiegertochter gegenüber auf dem Krankenlager
des öfteren, sie könnte viel erzählen, sie dürfe aber nicht,
•selbst dem Pfarrer dürfe sie’s nicht sagen. In den letzten
Monaten vor ihrem Tode sagte sie wiederholt: „Ihr werdets
mir schon verzeihen“, auf die Frage „was denn?“ gab sie
jedoch keine Antwort. Man merkte ihr an, bekundet die
Zeugin, daß etwas drückend auf ihr lag.
Die Überführung der vier Angeklagten war eine voll-
kommene. Die wichtigsten Beweismittel waren die im
Nachlasse der Frau Sch. Vorgefundenen Briefe und Post-
karten, die sie von den Angeklagten im Laufe der letzten
Jahre erhalten hatte, vor allem der Brief, in dem Wolf
ihr den Zessionsplan als Willen der Engel kundgab und
im einzelnen auseinandersetzte. Viele Briefe und Post-
karten trugen die Unterschriften der Geister oder Nach-
schriften der „Rosa“ oder des „Josefele“, in denen sie den
Dank für erhaltene Geschenke oder den Wunsch nach neuen
aussprachen.
Es waren aber auch Zeugen vorhanden, die heimlich
die Proben für die Geistererscheinungen beobachtet hatten.
So war einmal ein Bewohner von W. nachts an dem von
der Familie Wolf bewohnten Hause vorbeigekommen und
hatte mit angehört, wie Hieronymus Wolf vom Fenster
des ersten Stockwerkes aus an eine unsichtbare Person
Fragen stellte, z.B. ob er sein Geld auch sicher bekomme. Eine
verstellte weibliche Stimme gab die Antworten zurück und
bediente sich hierbei eines Sprachrohres; wenigstens schloß
dies der Beobachter aus der eigentümlich gepreßten Klang-
farbe der Stimme. Ein weiterer Zeuge bekundete, als er
einmal nachts um zwölf Uhr an dem Wolfschen Hause
19 *
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ßechm&nn.
vorbeigekommen sei, habe er darin laute Stimmen ver-
nommen und, um einmal der Sache auf den Grund zu
kommen, sich behutsam an das Anwesen herangeschlichen.
Franziska Wolf, die Nichte des H. Wolf, sei allein in der
Küche gesessen, während sich die übrigen Glieder der
Familie im Wohnzimmer befunden hätten. Sie habe mit
Hieronymus Wolf ein andauerndes Zwiegespräch mit ver-
stellter, kreischender Stimme geführt, das sich zumeist um
Geldsachen gedreht habe. Wolf habe z. B. gerufen: „Ich
muß jetzt mein Geld haben“, Franziska habe geantwortet:
Da wendet dich an die Sch. . . lin, der ihr Geld ist gut,
das können die armen Seelen brauchen, dem Andern seins
ist so nix wert, das ist nur erwuchert“. Mit dem „Andern“
war der Schwiegervater des Wolf gemeint, dem gegenüber
ebenfalls ein solcher Geisterspuk inszeniert wurde, jedoch
mit negativem Erfolg.
Die Angeklagten waren dreist und unklug genug,
sowohl in der Voruntersuchung wie bei der Hauptverhand-
lung das Vorhandensein der Geister zu behaupten und ver-
teidigten sich damit, daß sie die sämtlichen Geschenke
den Geistern gegeben hätten, d. h. daß diese von ihnen
unsichtbarer Weise weggenommen worden seien. Am ärgsten
trieb es in dieser Richtung Hieronymus Wolf. Während
der mehrmonatigen Untersuchungshaft hatte er Zeit gehabt,
seine Erfindungsgabe auszunützen und seine Phantasie
spielen zu lassen; so wußte er schließlich eine Unmenge
seltsamer Begebenheiten aus den letzten Jahren zu erzählen,
die alle das Vorhandensein übernatürlicher Kräfte vor-
aussetzten. Am kühnsten aber war seine Erzählung, daß
der Hofhund plötzlich keine Augen mehr gehabt habe,
die sich jedoch nach fünf Tagen wieder einstellten, und
die Schilderung, wie der Geist Edmund eines schönen
nachmittags, als er in der Stube seinen Kaffee trank, ihm
Gesellschaft leistete und unsichtbar dabei eine Zigarre rauchte,
wobei er nur die brennende, am Mundstück feuchte Zigarre
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Erregung von Aberglauben als Mittel zur Verbrechensverübung. 279
in der Luft habe schweben sehen und sich mit Edmund
ganz gemütlich unterhalten habe.
Die vier Angeklagten wurden wegen Betrugs, der sich
bei Hieronymus Wolf infolge seines Rückfalls als Ver-
brechen darstellte, zu mehrjähriger Gefängnisstrafe, Hiero-
nymus Wolf zur Zuchthausstrafe von fünf Jahren unter
Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt.
B. Der Fall August Wölfl.
Im Jahre 1886 machte Rechtsanwalt B. in M. zu-
fälligerweise dadurch die Bekanntschaft eines jungen
Burschen, namens Götz, daß er von ihm angeredet wurde,
als er gleichzeitig mit ihm die Auslage eines Ladenfensters
betrachtete. Da Götz in der gleichen Straße wohnte, so
gab es sich ganz von selbst, daß sich die beiden in der
Folgezeit des öfteren begegneten und so zueinander auf
den Grüßfuß traten, ohne sonst ein weiteres Wort mit ein-
ander zu wechseln.
Das sollte sich nach mehreren Jahren, nämlich im
Jahre 1889 ändern. Um diese Zeit trat Götz an B. mit
der schriftlichen Bitte um eine kleine Geldunterstützung
heran. B., der Sohn eines reich zu nennenden Baumeisters,
fand dahinter nichts Besonderes, da derartige Gesuche an
ihn und seine Familie häufig gestellt und nur selten ab-
schlägig beschieden wurden; so trug er auch kein Be-
denken, der höflich geäußerten Bitte nacbzukommen und
Götz den gewünschten Geldbetrag zu übersenden. Welche
Folgen diese Freundlichkeit nach sich ziehen sollte, konnte
er damals nicht voraussehen.
Für Götz war diese rasche Erfüllung seines Wunsches
Anlaß, sich nunmehr seinen Geldgeber genauer zu besehen,
und sich näher an ihn heranzumachen. Er war damals
neunzehn Jahre alt, trotz dieses jugendlichen Alters aber
ein grundverdorbener Bursche, der jeder ehrlichen Arbeit
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280
Bechmatm.
aus dem Wege ging, dafür aber Dirnen den Zuhälter
machte; auch war er dringend verdächtig, selbst eine männ-
liche Dirne gemacht zu haben, wenngleich sich dies nicht
mit voller Sicherheit hat feststellen lassen. Eine solche
Persönlichkeit lernt bei diesem Leben wohl rascher als
ein anderer die Schwächen seiner Mitmenschen kennen
und besitzt für sie besonders entwickelte Instinkte. So
mochte er bald erkannt haben, daß B. der Rechte sei, bei
dem er etwas holen könne.
Dieser, ein studierter Mann, Jurist und Rechtsanwalt,
also Angehöriger eines Berufes, der rasch in die vielge-
staltigen Erscheinungen des Lebens einführt, die Mensch-
heit nur von ihrer streitenden Seite zeigt und den Blick
auf die nüchterne Wirklichkeit des Daseins richtet, und
jener ein minderjähriger Bursche, der seine Weisheit auf
der Gasse aufgelesen und seine Menschenkenntnis den Ta-
vernen verdankte: und dennoch Sieger über den ersteren!
Denn daß er dies wurde, werden wir sogleich sehen.
Es dauerte nämlich nicht lange, so wandte sich Götz
mit einem neuen Bittgesuch an B. und, als auch dieses in
gleicher Weise wie das erste erfüllt wurde, blieben Wieder-
holungen nicht aus. Unversehens aber änderte er allmählich
seine Stellung und ging aus der Haltung des demütig
Bittenden in die des vorsichtig Fordernden über, indem er
versteckte Andeutungen über Perversitäten B.’s machte, die
ihm zu Ohren gekommen seien. Dieser aber, statt solche
Anspielungen sich mit aller Entschiedenheit zu verbitten
und Götz der Polizei zu übergeben oder ihm doch wenigstens
die Tür zu weisen, ließ sich hierdurch unbegreiflicherweise
einschüchtern und ward in den nächsten Jahren eine gleich-
mäßig fließende, reichliche Geldquelle für Götz.
Begreiflich erschiene das Verhalten B.’s dann, wenn
an den Verdächtigungen irgend etwas gewesen wäre. Allein
er hat alle dahin gehenden Fragen mit Entschiedenheit
verneint und an der unbedingten Glaubwürdigkeit seiner
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Erregung von Aberglauben als Mittel zur Verbrechensverübung. 281
unter Eid gemachten Aussage ist bei seinem ganzen Cha-
rakter festzuhalten ; er hat sich vielmehr damals und noch
mehr in der Folgezeit, wie weiter unten dargestellt werden
soll, durch leere Drohungen jahrelang im Schach halten
und sich in der unerhörtesten Weise ausbeuten lassen.
Da an diesem Prozesse in erster Linie das Psycho-
logische interessiert, so sei hier schon zum besseren Ver-
ständnis des Späteren eine Darlegung des Charakters des
B. versucht: denn nur aus ihm heraus läßt sich sein ganzes
Verhalten erklären.
Es gibt Menschen, denen die Gesellschaft alles ist, die
mit ihrem ganzen Fühlen, Denken und Streben innig mit
ihr verknüpft sind, und für die ein Leben außerhalb von
ihr die größte Pein wäre ; sie interessieren sich daher aufs
lebhafteste für alle Vorkommnisse und Begebenheiten des
Tages und es ist nicht ihr geringster Ehrgeiz, eine Neuig-
keit als Erster weiter verbreiten zu können. Sie leben
von der Zeitung und mit der Zeitung und sind befriedigt,
wenn sie alles Wissenswerte aus ihr entnommen haben und
es im größeren Kreise behaglich wiedergeben können.
Ihr Gegenstück sind die Abseitsstehenden, die Ein-
samen, einsam nicht aus der Tiefe ihrer Seele, die sie
den Alltag hassen läßt, sondern infolge eines mangel-
haft entwickelten Gesellschaftssinnes und Geselligkeitstriebes;
sie können sich in die andern nicht finden, weil es ihnen
an dem Bedürfnisse und der Fähigkeit gebricht, sie zu
verstehen, sich in sie hineinzuleben und zu scherzen, wenn
sie scherzen oder mit ihnen zu lachen. Es sind die Sonder-
linge, wie sie Meister Spitzweg so köstlich im Bilde dar-
gestellt hat, die ihren Mitmenschen aus dem Wege gehen,
um nur ja nicht von ihnen angesprochen zu werden.
Solch ein Sonderling war B., nicht aus Griesgrämig-
keit oder in Bitternis, nein, nur aus Schüchternheit, infolge
seines befangenen Wesens, im übrigen aber ein überaus
gutmütiger Charakter, der wohl nie jemand ein Haar £<?-
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282
Bechmann.
krümmt hat Dem entspricht ein bescheidenes Auftreten,
ein stilles Wesen und eine nahezu gänzliche Zurückge-
zogenheit vom Verkehr mit Personen seines Standes und
Bildungsgrades, was nur möglich war, da er seinen Beruf
persönlich so gut wie garnicbt ausübte, dies vielmehr seinem
Berufsgenossen, mit dem er in einem Gesellsebaftsverhält-
nisse stand, überließ. Um so enger war sein Anschluß
an seine Angehörigen, besonders aber an seine Mutter, an
der er mit kindlicher Pietät zu hängen schien. Die Furcht,
daß man ihr etwas Unrechtes über ihn zutragen und er
dadurch in ihren Augen herabgesetzt werden könnte, war
der hauptsächlichste Beweggrund für ihn, wenn er seinen
Peinigern Summen über Summen in den Rachen warf, nur
um sie zum Schweigen zu bringen. Zu diesen Eigenschaften
kommt noch eine große Hilflosigkeit und ein Mangel
an kritischem Vermögen; nur aus ihm läßt sich seine außer-
ordentliche Leichtgläubigkeit erklären; denn mit welchem
Lügengewebe er umstrickt wurde, werden wir später noch
sehen.
Hält man sich alles dies vor Augen, so lernt man den
so folgenschweren Fehler, den er Götz gegenüber durch
sein unentschlossenes Auftreten beging, verstehen; alles
andere aber, was sich daran knüpft, war nur die Folge
dieser bedauerlichen Unterlassung.
Zum Beginn des Jahres 1893 trat zum erstenmale
der damalige Friseurgehilfe August Wölfl auf den Plan.
Er suchte B. persönlich auf, gab an, von Götz geschickt
zu sein und bat für ihn um Geld. Es gelüstete ihn offen-
bar damals schon, in dessen Rolle einzutreten; denn er
suchte B. von ihm abzubringen und warnte ihn vor ihm
als einem Schwindler. Gleichwohl nahm er für ihn die
erbetene Geldsumme in Empfang und trat noch öfter als
sein Bote auf ; für sich selbst verlangte er nur zweimal
kleinere Beträge. Seine Geldbitten kleidete er einmal in
die Worte: „Sie möchten für den Götz den und den Be-
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Erregung von Aberglauben als Mittel zur Verbrechensverübung. 283
trag geben, sonst. . schwieg zwar auf die Frage B.’s,
was sonst wäre, ließ aber damit doch durchblicken, daß
er der Mitwisser des Götzscben Geheimnisses sei.
Im Frühjahr 1893 wurde Götz infolge einer weit fort-
geschrittenen Lungenerkrankung in das Krankenhaus ver-
bracht und starb im Mai des gleichen Jahres. Die Todes-
nachricht überbrachte Wölfl dem B. und ließ sich von ihm
einen Geldbetrag geben, um für ihn einen Kranz auf das
Grab zu legen.
Nun konnte Wölfl unbehindert das Alleinerbe des ver-
storbenen Freundes antreten; und er bedurfte dazu keiner
Überlegungsfrist. Er trat vor B. hin und redete ihm ein,
die Polizei suche jemand, der mit Götz in unerlaubten Be-
ziehungen gestanden sei; daß dieser jemand nur B. sein
könnte, war nicht allzu schwer zu erraten. Diese Nach-
richt erweckte in B. eine solche Furcht vor einem öffent-
lichen Skandal, daß er in der Not seines Herzens keinem
Menschen etwas von diesen Verdächtigungen zu sagen wagte
und das Verkehrteste tat, was er damals tun konnte, sich
in die Wohnung des August Wölfl und seiner damals noch
lebenden Mntter begab.
Da war er nun an der richtigen Stelle; denn was der
Sohn, ein plumper Geselle, nicht fertig brachte, das gelang der
Mutter spielend. Sie wußte nämlich mit der Miene der Un-
schuld und, als ahnte sie keinen Zusammenhang, immer
wieder von neuen Nachforschungen und Anfragen der
Polizei zu erzählen, daß B. die Haare zu Berge stehen
mochten. Und als gar noch in der Münchner „Ratsch
Kathl“ ein geheimnisvoller Artikel erschien, in dem einem
Ungenannten seine Verfehlungen gegen § 175 des Reichs-
strafgesetzbuches vorgehalten und ihm mit baldiger Anzeige
gedroht wurde und die Mutter Wölfl dies auf B. zu deuten
wußte, da kannte seine Furcht keine Grenzen mehr und
er wagte abends, wie er selbst bekundet hat, das väter-
liche Haus nicht mehr durch die vordere Tür zu betreten,
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284
Bech mann.
um nicht abgefaßt zu werden, sondern schlich sich wie
ein Dieb heimlich von rückwärts hinein.
Er geriet in der Folgezeit in einen Zustand immer-
währender oder, wie er sich ausdrückte, latenter Angst und
infolgedessen in eine völlige Abhängigkeit von Wölfl und
dessen Mutter, zu denen es ihn immer wieder hintrieb, ge-
rade als sei er bei ihnen am besten vor den Nachstellungen
der Polizei geborgen. Daß er in dieser Seelenverfassung
ihren Wünschen um Unterstützungen, die allmählich in
regelmäßiger Folge wiederkehrten, in jeder Beziehung zu-
gänglich war, vermag nicht Wunder zu nehmen. Über
die Summen, die er damals an Wölfl zahlte, hat B. keine
Aufzeichnungen gemacht und die Schuldscheine vernichtet ;
er schätzt sie auf etwa 10000 Mk.
Bei dieser Sachlage hatte es Wölfl gar nicht nötig
drohend gegen ihn aufzutreten; doch unterließ er An-
spielungen auf die angeblichen Verfehlungen B.’s nicht
vollständig, sondern machte gelegentlich eine Bemerkung,
wie: „es muß doch etwas Wahres an der Sache mit dem
Götz sein.“
Im Jahre 1895 heiratete Wölfl; er betrieb damals
Friseurgeschäfte, die er von dem Gelde des B. angekauft,
brachte es jedoch bei seiner Faulheit auf keinem zu etwas
Rechtem. Er glaubte daher, er könne sein Glück in Amerika
machen, das er zweimal mit seiner Frau aufsuchte; die
Kosten der Überfahrt hatte natürlich B. bezahlt, auch hatte
er in beiden Fällen für eine wohlgefüllte Reisekasse gesorgt.
Da man es aber ohne Fleiß auch in der neuen Welt nicht
zu etwas bringt, so war das Geld bald ausgegeben und
das Pärchen jedesmal nach Umfluß weniger Monate wieder
in München. Dort konnte es ja auch nicht fehlen, da
B.’s Unterstützungen bisher noch nicht ausgeblieben waren.
Wölfl ging daher dort wieder seinen Friseurgeschäften
nach, zugleich gewöhnte er sich, wie er selbst sagt,
ein bequemes Leben an; seine Bedürfnisse seien infolge
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Erregung von Aberglauben als Mittel zur Verbrechensverübung. 285
der ständigen und leicht zu erlangenden Unterstützungen
allmählich gestiegen, vor allem das Trinkbedürfnis, das hin-
fort nur mit einem Tagesquantum von 36 Glas Bier befriedigt
werden konnte.
Die Summen, die B. bis zum Jahre 1900 dem Wölfl
bebändigt hatte, betrugen etwa 100000 Mk. Da nun die
Polizei während der letzten sieben Jahre gar nichts über den
Komplizen des Götz herausgebracht hatte, so mußte Wölfl
doch wohl damit rechnen, daß sie ihre Tätigkeit allmäh-
lich einstellen und B. langsam wieder das Haupt erheben
würde. Es schien daher an der Zeit, ein neues Gespenst
auftauchen zu lassen und die Furcht vor der Öffentlich-
keit in ihm aufs neue zu beleben.
Man griff zu folgendem Mittel. Der verstorbene Götz
hatte eine Zeitlang vor seinem Tode mit derTochter eines ehr-
samen Landshuter Bürgers, die ihrem Vater entlaufen war
und die Großstadtfreuden von M. kosten wollte, Namens
Marie S., verkehrt; sie mußte daher — so schloß Wölfl
— von seinem Verkehr mit B. Kenntnis erlangt haben.
Nun war diese Marie S. nach dem Tode des Götz von
ihrem Vater nach Hause geholt worden, hatte ein ordent-
liches Leben begonnen und sich nach Amerika verheiratet,
wo sie seitdem in glücklicher Ehe lebt Davon hatte Wölfl
Kenntnis erhalten ; er brauchte nun nicht allzuviel Erfindungs-
gabe aufzuwenden, wenn er dieser S. einen Wandertrieb
andichtete, der sie des öfteren nach Deutschland zurück-
führte und wenn er sie zugleich ihre Kenntnis von B's
angeblichen Verfehlungen im eigenen Interesse ausnützen
ließ. Er machte daher eines Tages B. die Mitteilung,
die S. sei da, sie verlange von ihm Geld, da sie ihn sonst
zur Anzeige bringen werde. Das Gute hatte ja die neue
Erfindung, daß man eine fremde Person viel anmaßender
und drohender auftreten lassen konnte, als Wölfl es in
eigener Person gewagt hätte.
So sollten denn die Plackereien für B. kein Ende
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Bechmana.
nehmen! Die ersten Hunderttausend waren geopfert; es
wäre umsonst gewesen, wenn er dieser freien Amerikanerin,
die ihn jedenfalls ganz ungeniert belasten konnte, den
Mund nicht gestopft hätte. So überlegte er; an ihrer Existenz
zu zweifeln, daran dachte er ja gar nicht.
So erhielt Wölfl für die S. die erste Abfindungssumme
gegen einen Revers ausbezahlt. So vorsichtig war zwar
B., daß er in jeden von ihm entworfenen Revers die
Klausel einsetzte, es sei das Letztemal, daß er Geld her-
gebe, da er sonst Anzeige wegen Erpressung erstatten müsse.
Aber leider hatte dies gar keine Wirkung; im Gegenteil,
in Amerika, das ja so klein ist, schwätzte sich die Sache
herum, und so kam sie auch noch andern Münchnern zu Ohren,
die das Land des Goldes und der Freiheit aufgesucht
hatten. Was Wunder, daß auch sie ihre Kenntnis von B’s
angeblichen Lastern verwerten wollten, und daher einen
gleichen Wandertrieb wie S. bekamen, der sie immer
wieder in die alte Heimat führte, von der sie jedesmal mit
Gold gefüllten Beuteln abziehen konnten.
Und so sah sich B. binnen kurzem von einem ganzen
Heer von Ausbeutern umgeben, die er freilich nie zu Ge-
sicht bekam, da sie alle durch Wölfl ihre Forderungen
teils mündlich, teils brieflich Vorbringen ließen. Sie kamen
von Nord- und Südamerika und hatten früher die ver-
schiedensten Berufe bekleidet ; jetzt aber waren sie sämt-
lich Inhaber von Freudenhäusern. So wenig durchschaute
B. den ihm vorgemachten Trug, daß er erst in der Vor-
untersuchung Aufklärung darüber erhielt, daß keiner von
ihnen, an die er soviel hingerückt batte, existiere. Die
Summen aber, die er aufgewendet hatte, um sie zum
Schweigen zu bringen, betrugen ungefähr 450000 Mk. und
verteilten sich auf sieben vorgeschobene Personen.
Natürlich ließen es Wölfl und seine Frau nicht daran
fehlen, seinem Glauben an ihre Existenz immer neue Nahrung
znzuführen. Vor allem redeten sie ihm eindringlich zu,
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Erregung von Aberglauben als Mittel zur Verbrechensverübung. 287
die verlangten Beträge doch herzugeben, und stellten ihm vor
welch rücksichtslose Leute die Amerikaner wären, die ihm
die größten Unannehmlichkeiten bereiten könnten. Von
einem erzählte er ihm, er habe durchaus in B’s Wohnung
gewollt und es habe ihm die größte Mühe gekostet, ihn
davon abzubringen. Ein anderesmal begleitete er die Leute
nach Berlin oder Hamburg oder schickte das Geld dorthin
postlagernd, nur um sie bald wieder aus Deutschland hinaus-
zubringen. So mußte B. dem braven Wölfl noch Dank
für diese Hilfsbereitschaft wissen!
Manche von den Amerikanern waren indes auch von
freundlicherer Gesinnung und schenkten Wölfl amerikanische
Münzen als Uhrenanhängsel oder dergl., die dieser dann
B. als Beweismittel für ihre Existenz vorzeigte. Manche
waren überhaupt höflich; so schrieb einer ausführlich an
Wölfl und schilderte ihm ein schreckliches Brandunglück,
dem sein ganzes Anwesen zum Opfer gefallen sei; daran
knüpfte er die Bitte, er möge sich bei dem guteu Herrn
B. für ihn verwenden und ihm einige tausend Mk. ver-
schaffen. Diese wurden hergegeben, langten aber nicht zur
Erbauung des Hauses, so daß neue Nachsendungen kamen.
Bis zum Jahre 1907 hatte sich Josefine, die Ehefrau
Wölfls, völlig im Hintergrund gehalten und getan, als wisse
sie den Grund nicht, aus dem B. so große Summen an
ihren Mann bezahle; jetzt nahm sie die Sache selbst in
die Hand, da ihr Mann des öfteren auswärts weilte. Es
muß ihr das Zeugnis ausgestellt werden, daß sie es noch
besser als dieser verstand, die Schraube anzuziehen; ihre
Phantasie und Beredsamkeit war eben größer als die seine ;
auch kam ihr ihre weibliche Verstellungskunst gut zu
statten. Als Beispiel für diese sei folgendes angeführt.
Als ihr einmal B. ihren großen Luxus, den sie mit Schmuck,
besonders mit Brillanten trieb, vorhielt und sich über eine
neue Geldbitte unwillig zeigte (Wölfl bekam nämlich neben
den für die angeblichen Amerikaner gehörigen Summen
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Bechmann.
für sich und seine Geschäfte von B. weitere 100000 Mk.),
da gebärdete sich Frau Wölfl überaus unwillig und rief
mit großer Entrüstung: „Natürlich, die Amerikaner bekommen
alles, die brauchen nur herüber zu fahren, wenn aber wir
einmal etwas für uns verlangen, dann sind Sie ungehalten
und geben das Geld nur ungern her!“ Oder sie stellte
sich B. gegenüber eifersüchtig auf ihren Mann wegen
seiner Beziehungen zur Marie S.; so sagte sie einmal zu
ihm, sie möchte nur wissen, was ihr Manu immer mit der
Marie habe, aber sie werde schon noch dahinter kommen.
Im Januar 1907 teilte sie B. mit, die S- sei da, sie
verlange 30000 Mk.; nach einigen Unterhandlungen bekam
sie diese Summe ausgehändigt, ebenso wie im Monat April
20 000 Mk. für einen gewissen Gruber oder die gleiche
Summe im darauffolgenden Monate für den früheren Kellner
Sedlmeier. Im Juni ließ sie einen weiteren Freund des
Götz, namens Steiner auftreten und erzählte B., er sei schwer
krank, er möchte sich in eine ausländische Anstalt einkaufen
und benötige hiezu 25000 Mk. Sie schilderte B. mit leb-
haften Farben sein schlechtes Aussehen und seine Hilfe
bedürftigkeit, bis er schließlich einfach diesen Betrag her-
gab. Sie hatte ihm sonach in einem halben Jahre 1 00 000 Mk.
entlockt.
Das war das letzte, was B. zu zahlen hatte. Die
Erlösung kam für ihn von einer Seite, an die er am
wenigsten hätte denken können. Um diese Zeit (Juni 1907)
weilte vorübergend ein Wiener Konzertunternehmer in M.,
der Wölfl in Wien kennen gelernt und dadurch Kenntnis
von dem sinnlosen Aufwand, den er vor allem bei seinen
Champagnergelagen trieb, erlangt hatte. Welches Motiv es
war, das ihn dazu trieb, gegen Wölfl vorzugehen, sei dahin
gestellt, jedenfalls hielt er es für geboten, die Behörden
für ihn zu interessieren und er erstattete gegen ihn Anzeige;
dabei verwertete er Angaben, die ihm der damalige Buch-
halter Wölfls gesprächsweise gemacht hatte.
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Wunder könnte dagegen nehmen, daß keiner der Leute
mit denen Wölfl in Berührung kam und die den Luxus
sahen, den er trieb, das Augenmerk der Polizei auf ihn
lenkte; denn es hätte sich jeder sagen müssen, daß weder
seine Zigarrengescbäfte noch seine zuletzt betriebene Tee-
stube einen solchen Gewinn abwerfen konnten; es sei nur
darauf hingewiesen, daß er zuerst Wagen und Pferde und
dann sechs Automobile hintereinander besaß, die ihm in
M. eine gewisse Popularität einbrachten; und nicht ohne
Selbstbewußtsein rühmte er sich auch noch auf der Anklage-
bank, daß er im hiesigen Volksmund der „Autogustl“ ge-
heißen habe.
Ebenso leicht wie das Geld gewonnen wurde, wurde
es auch wieder ausgegeben, zum großen Teil in geradezu
sinnloser Weise; so betrug der Aufwand Wölfls in den
letzten Jahren, allein für Kleider und Stiefel Tausende.
Da nichts zurückgelegt wurde, so waren die bei der Ver-
haftung des Paares vorhandenen Wertgegenstände und
Barbeträge nicht groß genug, um alle laufenden Schulden
zu decken, so daß das Konkursverfahren eingeleitet werden
mußte.
Bei der Hauptverhandlung, die mit der Verurteilung
Wölfls wegen fortgesetzten Verbrechens der Privat-
urkundenfälschung und Vergehens der Erpressung
zur zulässigen Höchststrafe von 5 Jahren Zuchthaus,
3 000 Mk. Geldstrafe, ev. 200 Tagen Zuchthaus und Ehr-
verlust und seiner Ehefrau wegen des letzeren Vergehens
zu einer Gefängnisstrafe von vier Jahren führte, hatte B.
geäußert, er hätte sicher selbst bald eine Anzeige erstattet,
wenn dies nicht von anderer Seite geschehen wäre. Das
war eine Selbsttäuschung ohne Gleichen, hervorgerufen
durch das befreiende Gefühl, das die Durchführung des
Verfahrens gegen seine Aussauger für ihn im Gefolge hatte.
Wie ganz anders war dagegen sein Verhalten, als er von
den ersten Schritten erfuhr, die gegen Wölfl unternommen
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Bechmann.
wurden und er sich der Gefahr gegenüber sah, sein lang
und gut gehütetes Geheimnis gelüftet und sich vor der
Öffentlichkeit bloßgestellt zu sehen! Es war für ihn wie
das Erwachen aus einem langen und ängstigenden Traum,
und er konnte sich darum nicht gleich in der Wirklichkeit
zurechtfinden. Er hatte nämlich gelernt, sein Verhältnis
zu Wölfl wie ein unabwendbares Los zu tragen, das ein
unerbittliches Schicksal gerade ihm auferlegt hatte, wie es
einen andern blind oder als Krüppel zur Welt kommen
läßt. Dagegen kann man nicht ankämpfen, das muß als
etwas Gegebenes ertragen werden. In dieser dumpfen
Resignation wollte er sich auch gar keine Rechenschaft
geben von der Größe der gebrachten Opfer und so kam
es, daß er anfangs seine sämtlichen Aufwendungen auf
nur 200000 Mk. schätzte, während er fand, als er im Laufe
der Voruntersuchung seine alten Notizen zusammensuchte,
daß sie das dreifache betragen batten.
•Es hätte nur des Anschlusses an einen Freund bedurft,
so wäre ihm Aufklärung zu teil geworden und er wäre
von seiner Seelenqual befreit worden; denn jeder Einsichtige
mußte ja sofort das ganze Lügengebäude erkennen. Er
aber duckte den Kopf immer tiefer, je mehr Schläge er
darauf bekam, und wurde noch einsamer und scheuer;
denn die Furcht vor dem Unbekannten, das haben wir in
den beiden besprochenen Fällen gesehen, ist wie ein Unkraut,
das aufschießt und die Urteilskraft wie die gesunden Teile
des Seelenlebens völlig überwuchern und ersticken kann.
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Druck von J. B. Hirschfeld in Leipzig.
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